Auf dem Sprung

Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen eine Freude machen könne.

Friedrich Nietzsche

Der Morgen des ersten Arbeitstages im neuen Jahr beginnt in der brandenburgischen Provinz langsam. Vorsichtig versuchen sich die Einwohner an die neue Jahreszahl zu gewöhnen, sie testen die veränderte Nummer an. Falls die ersten Tage nicht liefern, was sie versprechen, werden die Brandenburger das Jahr einfach wieder zurückgeben und sich ein anderes wählen. Schließlich gibt es laut Festlegung der Europäischen Union zwei Jahre Garantie auf alles, das ist höchstbehördlich geregelt.

Im Süden der Republik bereitet sich der Föhn darauf vor, am kommenden Wochenende die Skispringer von den Schanzen zu blasen. Das Wetter geht seinen Plan gründlich an und beginnt damit bereits am Morgen des vorhergehenden Donnerstags. Zur gleichen Zeit ist sehr viel weiter nördlich, in einem winterlichen Garten am Rande der märkischen Kleinstadt Storkow, die Ruhe nach dem Jahreswechsel ebenfalls beendet. Im Unterschied zum Süden sorgt hier nicht das Wetter, sondern ein kleines Tier für einige Abwechslung und bereitet mehr oder weniger zielgerichtet die nachfolgenden Ereignisse vor. Der kleine, helle Hund, seine Schultern erreichen in der Höhe nicht einmal die Vierzig-Zentimeter-Marke, hüpft auffällig und provokativ durch den Garten. Dem Aussehen nach gehört er keiner bestimmten Rasse an, sein Stammbaum scheint vielfältig verästelt zu sein und sogar mehrere Schleifen zu enthalten. Das Tier ist einer der klassischen 'Dorfköter', ein Nachfahre der vielen Streuner, die sich noch vor einigen Jahren überall auf den Dörfern in der Dämmerung herumtrieben. Inzwischen sind die Zäune höher, undurchlässiger und Streuner sind kaum noch unterwegs. Dafür leben heute in jedem Ort der Mark einige ihrer Nachkommen, so auch in Storkow. Der Hund bewegt sich, als hätte er Sprungfedern unter die Beine gebunden bekommen. Kopf und Schwanz hoch aufgerichtet, hüpft er durch den Garten. Mit jeder seiner vier Pfoten berührt er gleichzeitig den Boden und stößt sich elegant und herausfordernd ab. Er hat sein Ziel, die Grenze zum Nachbargarten, fest im Blick. Mit Erreichen des Zaunes springt er seitlich gegen das hohe Gitter aus vermaschten Metalldrähten, nutzt den Schwung aus und läuft an dem bürgerlichen Grenzbefestigungswerk empor. Auf der Spitze des Zaunes angekommen, rollt er sich geschickt über die Kante und lässt sich auf der anderen Seite in den Nachbargarten fallen. Jeder Infanterist wäre stolz, wenn er so vorbildlich und elegant die Eskaladierwand einer Sturmbahn überwinden würde. Nach dem erfolgreichen Grenzübertritt ändert der kleine Hund seine Gangart. Sie ist nun nicht mehr aufrecht hüpfend. In dem fremden Garten, außerhalb seines Revieres, läuft er geduckt und leicht federnd auf einen toten Busch zu. Sein Bauch berührt dabei fast den Boden. Das Tier hat ein Ziel, einen Auftrag, dessen Erledigung es freudig und konzentriert angeht.

Ohne Zeichen einer Vorankündigung schlägt ein Blitz neben dem Hund in die Grasnarbe. Wie aus heiterem Himmel, obwohl dieser mit grauen Wolken überzogen ist, zuckt ein bläulicher Strahl durch die Luft und verästelt sich mehrfach in kleine Ausläufer. Die elektrischen Finger bewegen sich vorsichtig tastend über das feuchte, gelbliche Gras. Fauchend und zischend verschwindet die Elektrizität im Boden und ein handtellergroßer Brandfleck bleibt im winterlichen, spärlichen Rasen zurück. Das Tier hat den hell leuchtenden Strahl aus den Augenwinkeln gesehen und ist instinktiv zur Seite gesprungen. Es bleibt sofort stehen und betrachtet verwundert den dunklen, dampfenden Fleck auf dem Boden. Vorsichtig nähert es sich ihm und beginnt daran zu schnuppern. Elektrische Energie riecht nicht. So bemerkt der kleine Hund nur den Gestank verbrannten Gases. Bei seinen Bemühungen kommt er dem Einschlagort zu nahe und ein letzter Rest der Energie springt aus der Erde zurück auf seine Nasenspitze. Der elektrische Funke knackt fast unhörbar. Im Gegensatz zu dem verschämten Geräusch spürt das Tier ein heftiges Zwicken in der Nase und springt mit einem großen Satz rückwärts, von dem Brandfleck hinweg. Der Hund übersieht die Tatsache, dass der Blitz viel zu klein für ein wirkliches Gewitter ist. Seine Fähigkeiten im Vergleichen der Größe von Brandflecken waren schon immer schlecht entwickelt. Noch während er sich mit der langen Zunge über seine Nasenspitze leckt, schlägt ein zweiter Blitz hinter ihm ein. Einer der leuchtenden, elektrischen Finger trifft seinen Schwanz. Auf seinem Weg in den Boden hinterlässt der Blitz einen hässlichen Brandfleck an dem hinteren Anhängsel des kleinen Tieres. Der Hund spürt zwar nichts von der Energie, die die Haare seines Schwanzes touchiert, bekommt jedoch einen mächtigen Schreck, quiekt laut auf und lässt sich zur Seite fallen. Sein Instinkt lässt ihm die Totmannstellung als wirksame Verteidigung in diesem und zu jedem anderen Augenblick erscheinen. Zu seinem Leidwesen stellt sich nur zwei Sekunden später heraus, dass heute der Instinkt entweder gestört ist oder einfach falsch geraten hat. Elektrizität kann nicht sehen und tot auf dem Boden liegende Hunde scheinen ihr vollständig egal zu sein. Vor den Füßen des auf der Seite liegenden Hundes dringt ein dritter Blitz fauchend in das feuchte Gras. Noch Sekunden später springen kleine, bläuliche Funken zwischen den kurzen Grashalmen am Rande des neuen Brandflecks hin und her. Die Luft ist elektrisch aufgeladen und riecht nach Ozon. Es dringt in die Nase des Hundes und beißt dort in die Schleimhäute. Eine heftige Niesattacke schüttelt das Tier und zeigt den Blitzen, dass noch Leben in diesem ist. Als ob die elektrischen Entladungen nur auf diese neue Information gewartet hätten, verstärken sich nun die Einschläge rund um den kleinen Hund. Das Niesen bringt ihn wieder auf die Beine. Quietschend und jaulend flüchtet er vor der fliegenden Elektrizität. Er vollführt einen Slalomlauf über den Rasen des Nachbargrundstückes und versucht dabei erfolglos den Entladungen auszuweichen. Trotz der vielfältigen, elektrischen Schrecken scheint der kleine Hund den Grund seines Grenzübertritts nicht aus den Augen verloren zu haben. Er nähert sich zielstrebig dem toten Rosenbusch. Mehrfach wird er auf seinem Weg von Blitzen und ihren Seitenarmen getroffen. Sein helles Fell ist bereits mit einer Reihe dunkler, qualmender Flecken übersät.

****

Graue Rauchwolken steigen hinter einem hölzernen Gartenhaus des Nachbargrundstücks auf. Wie unregelmäßig geformte, bauchige Kissen aus schmutziger Watte pulsieren über das mit Teerpappe gedeckte Dach des kleinen Hauses und steigen darüber empor. Vor der dunklen, fleckigen Dachhaut sehen sie beinahe weiß aus. Der leichte Wind reißt sie wenig später auseinander und verteilt den Rauch in der Luft. Ein lautes Bollern und Rumpeln begleitet das Schauspiel der Abgaswolken. Verborgen hinter dem Gartenhaus wird versucht, einen ruppigen Motor zu zähmen. Das Unterfangen ist nur zeitweise und in Teilen erfolgreich. Immer wieder entgleitet das technische Ungetüm den Steuerungsversuchen und ergeht sich in Kaskaden von Fehlzündungen, denen jedes Mal dunkle Rußwolken folgen. Das kurze Abgasrohr endet in einem unverschämt kleinen Schalldämpfer, der nur eine Alibifunktion besitzen kann. Die Maschine ist auf einen einachsigen Anhänger montiert. Die Verkleidungsbleche, die sie von allen vier Seiten einhüllen sollen, sind abgenommen und achtlos auf dem Boden abgelegt. Auf diese Weise entkleidet, hinterlässt das Aggregat einen archaischen, gewaltigen Eindruck beim Betrachter. Seine Erbauer haben nicht mit Metall, Rohren, Drähten, Steuerleitungen und ähnlichen Materialien gespart. An der rechten Seite des Anhängers ist eine große Schalttafel montiert, auf der viele, überdimensionale Zeigerinstrumente wild zucken. Jede der Fehlzündungen quittieren sie mit einem beifälligen Gezappel ihrer schwarzen Nadeln. Neben die Anzeigen, Drehregler und Kippschalter sind kleine, blanke Messingtafeln geschraubt. In diese sind kyrillische Buchstaben geprägt, die fleißige Arbeiter ordentlich mit schwarzer Farbe ausgemalt haben.

Jewgenis Hände fliegen über die Schalterreihen hinweg. Seine Augen irren von der Skala eines Zeigerinstrumentes zur nächsten und jeden wilden Ausschlag versucht er mit hektischem Drehen an unterschiedlichen Reglern zu kompensieren. Ab und zu gelingt ihm das sogar und das widerspenstige Aggregat lässt seinen Husten aus Fehlzündungen früher als erwartet verstummen. Unter der schwarzen, fettigen Panzerhaube, die er sich wieder über den Kopf gestülpt hat, quellen dicke Schweißtropfen hervor und laufen Jewgeni über Stirn und Wangen. Er zieht einen Öllappen aus der rechten Seitentasche seiner dunkelblauen Wattejacke und wischt sich damit über das Gesicht. Dort, wo zuvor Schweißtropfen glänzten, sind anschließend braune Striemen von Schmierfett zu sehen.

"Тьфу!", kommentiert Jewgeni spuckend den Geschmack des technischen Fettes.

Wassili sieht von seinem Notebook auf und blickt ihn vorwurfsvoll an.

"Konzentriere dich bitte auf die Spannung! Das Tier will einfach nicht den Garten verlassen ... wir werden wohl noch einige Zeit blitzen müssen."

"Tja: kleines Tier, kleines Hirn - was hast du erwartet?", erwidert Jewgeni und wendet sich wieder den zuckenden Anzeigen zu.

Verzweifelt bearbeitet er die Schalter und Regler des Aggregats. All seinen Bemühungen zum Trotz, scheint das Gerät ein Eigenleben zu führen. Der große Benzinmotor holt Schwung, tief Luft und beginnt einen Endspurt. Er steigert seine Drehzahl und Lautstärke beängstigend. Jewgeni drückt sich die Seitenteile der wattierten Panzerhaube gegen die Ohren und sieht erschrocken auf die Anzeigen. Dieses Mal hat der Lauf des Motors keine Auswirkungen auf sie. Alle Zeiger stehen zur Abwechslung einmal unverrückbar auf ihren Positionen. Er kann keine Abweichungen von den gewünschten Werten feststellen. Einzig und allein die Anzeige für die abgegebene Leistung hat die Nadel auf den äußersten, rechten Wert ihrer Skala verschoben.

"Wassili, was machst du da? Unser prähistorisches Minikraftwerk ist am Ende!"

Jewgeni folgt mit Blicken dem dicken, textilummantelten Kabel, das vom Aggregat hinweg führt. Es windet sich mit einer eleganten Biegung um die linke Seite des Gartenhauses und führt in eine abenteuerliche Konstruktion, die direkt daneben steht. Auf einer zwei Meter hohen Säule ist eine große, blanke Metallkugel installiert. Um den Schaft ist in weiten Schleifen eine lockere Spule aus dickem Draht gewickelt, die in einigem Abstand davon durch Hölzer gehalten wird. Das rötliche Kupfer der Kugel blinkt gefährlich im Licht der blau-weißen Blitze, die von ihr ausgehen. Zwei alte, kupferne Kessel, die dem Aussehen nach aus den Garküchen des mittelalterlichen Buchara stammen könnten, sind aufeinandergeschraubt worden. Vielleicht hat bereits der berühmte Hodscha Nasreddin aus ihnen gekochtes Hammelfleisch serviert bekommen. Nun hängen sie als Kugel in zwei Metern Höhe neben dem Dach des Brandenburger Gartenhauses und sprühen in diesem Augenblick so viele Blitze wie nie zuvor. An dem gewaltigen Tesla-Generator haben die beiden, transnistrischen Wissenschaftler einige Tage gebaut. Dank der umfangreichen und kostenlosen Materialspenden aus den Beständen der ehemaligen, sowjetischen Streitkräfte, konnten sie aus dem Vollen schöpfen. Kompromisse gab es nicht. In einer Tiefbaufirma 'borgten' sie sich über die Feiertage eine Erdrakete. Mit diesem unterirdischen Drucklufthammer haben sie den gesamten Garten unterhöhlt und mit Sonden vermint. Das Ergebnis der aufwendigen Arbeit stellt Wassili vollständig zufrieden. Er sitzt hinter seinem Notebook, verfolgt auf dem Display den Weg des Hundes über den Rasen und lenkt dank der Sonden die Entladungen des Tesla-Generators, die Blitze simulieren sollen. Mehrere autonome Drohnen kreisen über dem Garten und deren Videoaufnahmen geben ihm einen guten Blick auf die Erfolge seiner Versuche. Hastig tippt er Kommandos in ein schwarzes Terminalfenster, das neben den Filmaufnahmen auf dem Bildschirm geöffnet ist. Immer wieder verfehlt er das Tier äußerst knapp. Trotz der Unmenge an Elektrizität, mit der er den Hund überschüttet und durch den Garten treibt, lässt dieser nicht von seinem Ziel, dem toten Rosenstrauch ab. Wassili greift zum letzten Mittel: maximale Leistung!

Die Luft ist elektrisiert und Jewgeni spürt, wie sich seine Haare unter der Bekleidung aufrichten. Überall knistert es und riecht nach Ozon. Es kommt ihm vor, als ob sich das dicke Kabel aufbläht, um die viele Energie in den Funken sprühenden Tesla-Generator zu transportieren. Er weiß, dass das physikalischer Unfug ist und nicht geschehen kann. Trotzdem ist das Kabel irgendwie verändert - zumindest glaubt er es. Dann beginnt die Wasserkühlung des Aggregates zu kochen. Vom Benzinmotor wird die Spitzenleistung über einen zu langen Zeitraum abgerufen. Das alte Gerät ist zwar extrem robust, hat aber auch eine extrem hohe Verlustleistung, die sich natürlich in Form von Wärme ihren Weg in die Umwelt sucht. Im Kühler beginnt es zu knacken und dann entweicht Dampf. Zuerst wird nur eine Stelle undicht und mit einem hohen, schrillen Pfeifen bricht ein Strahl heraus, der nach wenigen Zentimetern weiß wird - ein zischender, dünner, weißer Strich in der Luft. Weitere Stellen im Rohrsystem der Kühlung schließen sich an. Pfeifen, Kreischen, Zischen, Poltern, Stampfen, Dampf, Hitze - Inferno.

"Wassili, ich kann hier nichts mehr machen!", brüllt Jewgeni entsetzt und bittend über die Schulter nach hinten.

Er traut sich nicht, den Blick von der Schalttafel zu wenden. Die Nadel des Leistungsanzeigers verharrt nach wie vor deutlich hinter der roten Endmarkierung, die mit einem Schild und der Beschriftung 'максимальная' versehen ist. Das Wort ist kaum noch zu lesen, da durch die gesamte Maschine heftige Vibrationen laufen. Ein tiefes, grollendes Brummen aus ihrem Zentrum kündigt eine gefährliche, finale Veränderung an.

Einige Meter von dem unkontrollierbar überlasteten Gerät entfernt, hebt ein kleiner Hund sein rechtes, hinteres Bein an einem toten Rosenbusch. Vorsichtig sieht er sich in allen Richtungen nach Beobachtern um. Das um ihn herum tobende, elektrische Inferno, scheint er zu ignorieren. Kein Mensch ist zu sehen und so pieselt er sichtlich zufrieden gegen den toten Rosenbusch. Mitten in dieser Handlung trifft ein heftiger Blitz das kleine Tier. Die Entladung hat sich am Ende in hunderte Seitenarme verzweigt und hüllt den gesamten Hund in leuchtende Elektrizität. Er ist für kurze Zeit in einen elektrischen Kokon eingewoben und die Energie scheint um ihn herum zu fließen, seine Kontur nachzuzeichnen. Es folgt eine apokalyptische Komposition aus Blitzen, Quieken, Kreischen, Jaulen, Fauchen, Zischen. Das Tier springt über einen Meter in die Höhe, da alle Muskeln seines kleinen Körpers gleichzeitig kontrahieren. Wieder auf dem Boden angekommen, hetzt es mit weiten, hastigen Sprüngen vom Busch in Richtung des Zaunes, über den es vor wenigen Minuten in den Garten eingedrungen ist. Im Hintergrund beendet das Aggregat mit einem furiosen, durchdringenden Kreischen und Krachen seine Arbeit: Kolbenfresser. Von einem Augenblick auf den anderen endet die Bewegung in dem Motor und es tritt Stille ein. Den Auspuff verlässt eine letzte, schwarze, fettige Rußwolke. Sie vermischt sich mit dem weißen Dampf, der in großen Mengen dem überhitzten und defekten Kühlsystem entweicht. Jewgeni und das Aggregat verschwinden hinter einer grauen und undurchsichtigen Wand.

"Конец!", meldet dieser sich hustend aus der Dampfwolke.

"Мы пачка", antwortet Wassili.

Er klappt das Notebook zu, richtet sich auf und geht zu Jewgeni an das Aggregat. Dieser steht immer noch im Dampf, wedelt theatralisch mit den Armen und hustet. Wassili stellt sich lächelnd daneben und beobachtet seinen Freund einige Augenblicke, der sich in seiner Wolke offensichtlich wohlfühlt.

"Deinen Tanz kannst du mir später erklären. Jetzt komm endlich hervor und lass uns verschwinden."

****

Bernd Komanski ist auf dem Sprung zu einem neuen Politik-Coup. Der Wahl-Kampf um die Geldtöpfe und Futtertröge der Macht läuft in der Mark Brandenburg bereits. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, bereits am zweiten Tag des neuen Jahres Unterstützung im Politikkrieg zu bekommen. Ausgerechnet Attila Schlottermüller, der bedeutendste Skandalpolitiker des gerade vergangenen Jahres, ruft ihn am Morgen an. Der ist im Sommer unauffindbar untergetaucht, nachdem er fast den Thron des Bundeskanzlers bestiegen hätte. Zu dessen Glück kennt Bernd nicht die Umstände von Attilas Flucht und auch nicht das Versteck, in dem sich der gestürzte Spitzenpolitiker die letzten Monate verbarg. Hätte er gewusst, dass sich der Kollege ganz in seiner Nähe vor der Öffentlichkeit versteckt, wäre er bereits viel zeitiger auf ihn verfallen. Unter dem Deckmantel der kollegialen Hilfe lässt sich Attila in seiner aktuellen Lage ganz sicher gut ausnutzen. Storkow ist vom Spreewald nur eine gute halbe Stunde Fahrt entfernt. Während beide telefonieren, tobt im Nachbargarten ein in seiner Ausdehnung sehr beschränktes Wintergewitter. Bernd bekommt davon erst etwas mit, als sein Hund jaulend und kläffend vor ihm erscheint. Die kleine Dorfmischung ist über und über mit Brandflecken bedeckt. Vom linken Ohr steigt sogar noch etwas Rauch auf. Im Raum verteilt sich ein übler Geruch nach nassem, verbranntem Fell. Bernd hat nach der gestrigen Feier auch am Morgen noch Probleme mit dem Gleichgewicht und sein Magen kann sich nicht für oder gegen eine Rebellion entscheiden. Die neuen Gerüche, die das Tier begleiten, lassen ihn würgen und lösen einen Hustenanfall aus. Er kommt aus dem Gleichgewicht und fällt zur Seite. Haltsuchend klammert er sich am Telefonhörer fest. Dieser verweigert bei der Zweckentfremdung die Unterstützung. Schnell verliert die Telefonschnur ihre Spiralform, wird zu einer straff gespannten Leitung und reißt vom Telefon ab. Gespräch und Verbindung sind unterbrochen, Bernd fällt in die Flurgarderobe, reißt Mäntel und Jacken samt Bügeln herunter und landet weich in dem Berg an Bekleidung unter ihm. Das Telefonkabel des Hörers geht nicht so zärtlich mit ihm um. Als Ausdruck eines stillen Protestes gegen die grobe Behandlung zieht es sich blitzschnell wieder zu seiner Spiralform zusammen. Da Bernd auch während seines Falles den Hörer an sein rechtes Ohr presst, peitscht das Spiralkabel auf ihn zu und über sein Gesicht.

"Au! So'n Scheiß!"

Unzufrieden mit dem Ereignis, seinem flauen Gefühl im Magen, dem Gestank im Zimmer, dem Schmerz in seinem Gesicht und der allgemeinen Lage überhaupt, bleibt er noch einige Minuten auf den Mänteln liegen. Unter der Garderobe sinniert er über den Grund der Anwesenheit eines Hundes in seinem Haushalt.

Als vor zehn Monaten seine Popularitätswerte unerwartet sanken und damit die Gefahr seiner Entmachtung heraufbeschworen, hatte seine Assistentin eine Idee, um dies wieder auszugleichen. Er sollte sich volksnäher präsentieren. Sein Team verbrachte über eine Woche in Diskussionen, Brainstormings und Meetings zum Begriff 'Volksnähe'. Sie konnten sich nicht einigen und heuerten schließlich einen Berater an, der mit ihnen einen 'Design-Thinking-Workshop' zu dem Thema veranstaltete. Er wird immer noch wütend, wenn er sich an diese Veranstaltung erinnert. Das Metageschwubbel und -geschwafel war kaum zu ertragen. Der Typ spielte sich als Vordenker auf und begann die Ansagen im Team zu machen. Wenn Bernd etwas gar nicht mag, dann sind es Individuen, die versuchen, seine Rolle zu übernehmen. Nahezu unendlich übel gelaunt, wurde er dann auch noch gezwungen, mit der der Gruppe Personas unterschiedlicher Wähler zu ersinnen. Die Beispielcharaktere sollten für die hauptsächlichen Gruppen seiner Anhänger stehen. Ab diesem Augenblick wurde der Vorgang zusätzlich generalabsurd. In der Fantasie seines Teams stimmten mit einem Mal viele Neuwähler für ihn. Eine vorsichtige Anfrage von ihm, wo auf dem platten, Brandenburger Land denn diese vielen Geburten vor sechzehn Jahren stattgefunden hätten, antwortete niemand. Alle hörten nur noch auf den nervigen Trainer, der jenseits jeglicher Praxis hantierte und fabulierte. Die zweitgrößte Gruppe seiner Wähler sollten Brandenburger Bürger mit einem Jahreseinkommen von mindestens einer Million sein. Das brachte ihn auf die Idee, alle von den statistisch gesehen unter einhundert Einkommensmillionären zu einer kleinen Feier einzuladen. Auch das verstand sein Team nicht. Irgendwie hatten sie es an dem Tag nicht mit Zahlen, Fakten und der Realität.

Nach drei Stunden war er dann reif für eine Auszeit und telefonierte heimlich mit einem bekannten Psychiater, der in der großen, bunten Stadt praktizierte und mit Vorliebe Politiker in sein Behandlungszimmer einlud. Er vereinbarte einen Soforttermin. Keine fünf Minuten später klingelte das Telefon seines Assistenten und er wurde an den wichtigen Termin zur Gesundheitsvorsorge erinnert. Der Rest des Tages war für ihn gerettet, leider nicht die darauffolgenden. In seiner Abwesenheit hat das Team beschlossen, dass er einen Hund aus dem Tierheim befreien soll. 'Tierliebe' ist wohl gefühlt nicht weit vom Begriff 'Volksnähe' entfernt, ergaben eine sorgfältig angefertigte Mindmap und eine Komposition aus Lego-Bauklötzchen. Außerdem hatten alle Gruppen seiner Wähler angeblich als gemeinsame Eigenschaft eine innige Beziehung zu Hunden und 'Hunde gehen immer...'. Menschen, Tiere - einfach alle Lebewesen, die einen eigenen Willen haben können - sind Bernd fremd, er möchte sie gar nicht in seiner Nähe haben. Er mag es, wenn zwischen ihm und ihnen eine Mauer, ein Graben, ein Zaun, einfach irgend ein großer Abstand ist. In seinem Leben und Umfeld entscheidet er, hier gibt er die Befehle und erwartet keinen Widerstand, keine Notwendigkeit von moralischen oder psychischen Streicheleinheiten, einfach keinen Kontakt. Da er während der entscheidenden Augenblicke des 'Design-Thinking-Workshops' abwesend war, konnte er sich im Nachhinein nicht mehr dagegen wehren. Als einziger Wunsch blieb ihm die Wahl der Hunderasse. Natürlich musste er nicht lange überlegen, da kam nur ein Dobermann in Frage. Hunde dieser Rasse haben zumeist ein dunkelbraunes, beinahe schwarzes Fell, sehen immer gefährlich aus, hören aufs Wort, halten den vorgeschriebenen Abstand zu ihrem Herrn und schnappen auf Befehl zu, ohne eine Frage zu stellen. Ein solches Tier würde exakt zu ihm passen. Der Tag im Tierheim war dann eine Folge aus Enttäuschungen und Katastrophen: Es regnete ununterbrochen, der Fotograf kam nicht, die Presse hatte ebenfalls kein Interesse und Dobermänner waren in dem Heim noch nie gesehen worden. Der Pfleger zweifelte sogar ernsthaft die reale Existenz dieser Rasse an und hielt diese für genauso wahrscheinlich wie Außerirdische. Bernd bekam einen Dokö. Gut, 'Dorfköter' hat mit 'Dobermann' zumindest eine Gemeinsamkeit: Beide Worte beginnen mit 'D'. So teilt er nun seit neun Monaten sein Haus mit einem kleinen, bunt gefleckten Hund, der nicht auf ihn hört, ihn ununterbrochen anspringt, ausschließlich von seinem Nachbarn für gefährlich gehalten wird und ständig ohne ersichtlichen Grund kläfft. Außerdem scheint sein Verhalten komplett nach einem geheimen Plan abzulaufen, den außer dem Tier selbst, niemand zu kennen scheint. Zu Bernds Leidwesen kommt eine Rückgabe des Hundes nicht infrage. Selbst nach Ende der Kampagne muss er ihn erdulden. Sein Team erklärte ihm anschaulich, dass eine Rückführung politisch inkorrekt und nicht glaubwürdig wäre. Seine Popularitätswerte würden das mit einer erneuten Talfahrt quittieren. Wohin ein Skandal im Politikgeschäft führen kann, sieht man bei seinem Kollegen Schlottermüller. Schließlich hat Bernd außer 'Politiker' nichts gelernt. Seine Karriere ist ihm heilig und deshalb muss er nun das kleine, nervige Tier in seiner Nähe ertragen. Zu jeder Versammlung, Pressekonferenz, einfach immer, begleitet es ihn und kläfft, knurrt, springt und riecht.

Als ihn die Ecke eines Bügels, der unter seinem Kopf liegt, zu drücken beginnt, beendet er die Grübelei und richtet sich ächzend auf. Es ist an der Zeit, das qualmende Tier zu löschen, den Geruch nach verbrannten Haaren aus dessen Fell zu waschen, dabei endlich wach und nüchtern zu werden. Schließlich hat er etwas vorzubereiten, einen neuen, großen Politik-Coup zu planen. Der soll nicht wie üblich hinterhältig und gemein sein - na gut, nicht gleich am Anfang, später schon. Dieses Mal wünscht sich ein Freiwilliger einen Einsatz an der sinnlosen Front der politischen Auseinandersetzung. Attila Schlottermüller möchte im einsamen Norden des Landes Brandenburg, in dem kleinen Ort Ranzlow, im politischen Grabenkampf verheizt werden. Freiwillig! Koma-Ben kann es immer noch nicht fassen. Jetzt gilt es erst einmal, in einen ordentlichen Zustand zu kommen. Anschließend wird er die taktischen Kriegszüge der nächsten Wochen planen. Das Wort 'Wahlkampf' enthält nicht umsonst den Part 'Kampf' und er, Bernd Komanski, meint es ernst: Er will und wird gewinnen! Zumindest soll etwas für sein eigenes Bankkonto abfallen. Dazu ist der gesamte Politikzirkus schließlich da.

Von den am Boden liegenden Mänteln aufgerichtet, betrachtet er nachdenklich seine vorübergehende Lagerstatt. Soll er die Mäntel sofort wieder an die Garderobe hängen? Dazu muss er sich bücken. Bereits bei dem Gedanken daran wird ihm schwindelig. Immer noch dreht sich alles leicht um ihn herum. Schnell entschließt er sich, das später zu erledigen. Aufräumen empfindet er schon immer als mächtig unspaßig. Bei Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindelgefühl und anderen Nachfeiergebrechen ist diese Arbeit erst recht nicht auszuhalten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zieht er sich das Nachthemd aus. Nachdem der obere Knopf gelöst ist, gleitet es an ihm hinunter und fällt in lockeren Wellen auf den Boden. Das ist ganz angenehm, funktioniert es doch ohne, dass er sich dazu bücken oder anderweitig bewegen muss. Vollständig nackt führt ihn sein nächster Gang zum Kühlschrank. Er möchte sich zuerst um den Hund und das eigene Ausnüchtern kümmern. Der kalte Vorratsschrank enthält ausschließlich Fleischwaren, wie es sich gehört. Grünes Zeugs kommt ihm da nicht hinein - das können seine politischen Gegner von der weichgespülten Gemüseversteherpartei konsumieren. Er hält sich an Nährmittel mit konzentrierter Energie. Das spart Zeit, macht aggressiv und schmeckt obendrein besser. Als Koma-Ben die Kühlschranktür öffnet, erstrahlt das Licht in dessen Innerem vorschriftsmäßig. Schön beleuchtet, begrüßt ihn ein rohes, blutiges Kotelett. Das Fleisch bringt eine Aussage hinüber, die ihm gefällt: Ich bin noch nicht lange tot. Genau danach haben er und sein angekohlter Hund gesucht. Nun, da er aufrecht und bereits ohne starke Schwankungen stehen kann, greift er das Stück blutigen Fleisches. Der Geruch nach Eisen, der von dem weichen Stück Schwein ausgeht, fasziniert ihn und schnürt ihm gleichzeitig die Kehle zu.

Wahrscheinlich hätte er am Abend zuvor eine halbe Flasche Karlsbader Becher weniger zu sich nehmen sollen. Leider kann er angefangene Flaschen nicht ausstehen. Leer sind sie viel ansehnlicher. Koma-Ben konzentriert sich auf den Knochen des Koteletts. Das hilft ihm etwas über die Übelkeit hinweg. Der ist hart, nicht so unangenehm weich und auch nicht so blutig, wie das Fleisch daran. Den kleinen Hund reizen beide Teile des Koteletts, er findet das Stück insgesamt mächtig anziehend. Aufgeregt folgt er seinem Herren und springt immer wieder an dessen nackten Beinen empor. Bernd geht zum Bad und lockt das Tier mit dem rohen Stück Fleisch in die gleiche Richtung. Auch wenn der Hund nicht auf ihn hört, seine Instinkte funktionieren bestens. Als sie im Badezimmer ankommen, sind Bernds Beine bereits mit rußigen Striemen übersät. Da er infolge des nächtlichen Exzesses immer noch etwas betäubt und halbwegs gefühllos ist, stört ihn das nicht. Er hat sein Ziel erreicht: Der Hund befindet sich in der Nähe der Waschmöglichkeiten.

Bernds erste Tätigkeit im Bad ist das Öffnen der Fenster. Er lässt die warme, stickige Luft in die äußere Kälte entweichen. Ihre Feuchtigkeit schlägt sich an dem Glas nieder und kondensiert weiß in der Luft beim Verlassen von Raum und Haus. Anschließend öffnet er die Tür der Duschkabine, wirft das rohe, blutige Stück Fleisch in deren hinterste Ecke und freut sich darüber, dass der Hund ohne zu zögern dem Kotelett folgt. Entspannt und leise pfeifend tritt Koma-Ben ebenfalls in die Dusche, schließt die Tür der engen Kabine hinter sich und dreht das Wasser auf - er öffnet ausschließlich den blauen Hahn. Eiskaltes Wasser fällt als scharfer, dichter Regen auf ihn und den Hund nieder. Der ist durch seine Beschäftigung mit dem Fleisch abgelenkt und bemerkt nicht, dass die geschlossene Kabine seine Bewegungsmöglichkeiten stark einschränkt. Erst durchnässt vom ersten Schwall des eisigen Wassers wird ihm bewusst, dass ihm der Fluchtweg aus der engen Kabine durch eine gläserne Tür versperrt ist. Am heutigen Morgen hatte er bereits viele, unerwartete und unverständliche Erlebnisse. Jetzt gibt er einfach auf, setzt sich vor die Tür, lässt das kalte Wasser durch sein Fell laufen und blickt traurig den schwarzen, fettigen Schlieren hinterher, die von ihm hinweg fließen.

"Tja, ein Dobermann hätte die Tür zu öffnen gewusst, aber du musst ja ein 'D'-Hund sein...", kommentiert Koma-Ben abfällig das Geschehen in der engen Kabine.

Die eisigen, schweren Tropfen fallen auch ihm auf den Kopf, rinnen durch das spärliche Haar und über sein Gesicht. Nach einigen Minuten fühlt sich sein Hirn an, als ob es einfrieren würde. Kurz darauf knackt es heftig und laut in seinem Kopf. Es ist, als ob alle Knochen in seinem Schädel umsortiert werden. Ob diese Empfindung eine physisch oder psychisch Ursache besitzt, kann er nicht feststellen und der Hund wird ihm das selbst bei einer hochnotpeinlichen Befragung nicht beantworten. Der ist nun einmal nur ein 'D'-Hund. Auf jeden Fall ist Koma-Ben jetzt hellwach und nüchtern.

In diesem Zustand leuchtet aus Gründen, die sich ihm auch später nicht erschließen werden, ein Gedanke in seinem Hirn auf. Dieser verbindet den furiosen Pleiteflughafen Berlin-Brandenburg mit einer Unmenge kleiner, schwarzer Kassen im Land. Damit er diesen Gedanken nicht verliert und ihn weiter vertiefen kann, verharrt er weitere Minuten unter dem Strahl frostigen Wassers. Und so gewinnt der Plan seines großen Polit-Coups langsam eine Gestalt in seinem Kopf und Koma-Ben nimmt Fahrt auf.