So nah und doch verfehlt
Die Kirche Roms hat durch die Einführung des Weihnachtsfestes das Christentum gerettet.
Paul de Lagarde
Das ist wieder so ein schrecklicher Tag. Die letzten drei verbliebenen Radiosender, die das alte Rundfunkgerät im Armaturenbrett des überblauen Einsatzfahrzeuges noch empfängt, spielen ununterbrochen Weihnachtslieder und das Ende des Jahres liegt über einen ganzen Monat in der Zukunft! Der Dacapo muss an den Zeitreisenden denken, den er vor einigen Tagen traf. Einfach diese schreckliche Zeit der Radiofolter überspringen zu können - welche Möglichkeit, welch ein glückliches Leben! Seit er das Kassettenabspielgerät des Radios zerstörte und die bellende Miezi seine letzte Kassette mit Musik von AC/DC vernichtete, sind die Fahrten im Einsatzwagen trist geworden. Das Brummen und Stöhnen des gequälten V8-Blocks wir nur von dem häufigen Knurren seiner Begleitung übertönt. Miezi beschwert sich bei jedem Fahrfehler und jeder Übertretung der Regelungen und Gesetze, die zur Aufrechterhaltung einer gewissen Grundordnung im Straßenverkehr erlassen wurden. Der Dacapo ist der Meinung, dass er der letzte, personifizierte Wächter der Gerechtigkeit, das letzte Bollwerk vor dem Verfall der Werte dieser Gesellschaft ist. Der Straßenverkehr ist ihm dabei vollständig egal. Das ist ein other-ones-problem, er kann sich persönlich schließlich nicht um alles kümmern.
So rollt mit ihm und seinem 1970'er Oldtimer praktisch das staatliche Chaos über die Alleen der Mark Brandenburg. Um der heutigen Weihnachtsfolter und der allgemeinen Tristesse zu entgehen, fällt ihm nur noch ein, den 'Maler' über die Dörfer zu jagen und dabei sämtliche Rundum- und Blauleuchten und Sirenen sowie akustische Warnanlagen des Fahrzeuges einzuschalten. Bei der Durchschnittsgeschwindigkeit des Dacapo werden die Einwohner der märkischen Dörfer nur wenig belästigt: Er lässt sich nirgendwo aufhalten, von Ortsschildern erst recht nicht.
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Schon der Morgen begann schrecklich, weihnachtlich. Der Dacapo war bereits um sechs Uhr im Berliner Hauptquartier des Polizeigeheimdienstes erschienen. An den meisten, sonstigen Tagen sind zu dieser Zeit die Gänge und Büros noch leer und er kann sich ungestört an arglistige Getränkeautomaten anschleichen. Bereits auf seinem Weg in das Büro wurden die Straßen in Treptow von einem Schwertransporter verstopft, der ein Karussell zu einem der Weihnachtsmärkte transportierte, die sich überall im Aufbau befinden. Eines der aus Stahlrohren zusammengeschweißten und bunt bemalten Konstruktionsteile hatte sich gelöst und verrutschte auf der Ladefläche des Anhängers. An dem schmaleren Ende des Teils war ein kleines Polizeiauto mit Kindersitzen befestigt. Das steckte nun bis zur winzigen Frontscheibe in einer Werbefläche neben dem Gehweg, in die es die schwere Zugmaschine des Transportes gerammt hatte. Auf der Tafel wurde großflächig für Waschmittel geworben. Das Karussellauto war zielsicher in das kreisrunde Bullauge der abgebildeten Waschmaschine eingedrungen. Dort steckte es leicht schräg in dem Plakat und ein großer, gelber Teddy pendelte unter dem kleinen Auto in der Luft. Das Plüschtier sah bereits zerzaust und vom Straßendreck des Transportes hässlich befleckt aus. Ein Knopfauge fehlte ihm und ein langes, leuchtend oranges Band war ihm um den Hals geschlungen. Es hatte sich in dem rechten der kleinen Sitze verfangen und hinderte den Spielzeugbären am Erreichen des rettenden Gehweges. Während der letzten, herbstlichen Kirmes war er von seiner jungen Besitzerin und Freundin getrennt worden. Noch vor zwei Monaten verbrachte er die Nächte in einem weichen, warmen Bett. Jetzt, am Ende seiner Karriere, hing er zerschunden vor einem Plakat mit Waschmittelwerbung in der kalten, feuchten Luft eines trüben Novembermorgens.
Der bunt bemalte Ausleger samt Anhänger und Zugfahrzeug hatten es geschafft, zwei komplette Fahrspuren und den Fußweg zu blockieren. Der Berufsverkehr bewegte sich im langsamen stop-and-go-Vorwärts über die letzte, verbliebene Spur. Als der Dacapo den Ort der Sperrung passierte, viel im nur das leuchtend orange Band auf, an dem das erhängte Spielzeug über dem Gehweg pendelte.
"Ahrg! Warum die Farbe am Morjen? Det war der Maler!", stöhnte er im Inneren des Oldtimers auf.
Instinktiv trat er das Gaspedal bis zum Bodenblech durch, um seiner Wut freien Lauf zu lassen. Der großvolumige, amerikanische Motor des Oldtimers rettete ihn vor einer Karambolage und die ihm nachfolgenden Berufspendler vor einer Vollsperrung. Bevor die acht Zylinder mehr Leistung produzierten, brüllten sie ihren Unmut über die rüde Behandlung durch den Auspuff. Dieses akustische Warnsignal veranlasste den Dacapo, sich noch rechtzeitig und mit aller Kraft dem Bremspedal zuzuwenden.
Zu seinem Glück gab es keine weiteren Ereignisse auf dem Weg und er fand sich bereits wenige Minuten später in den langen Gängen der geheimen Behörde wieder. Dort traf er, wider seine Erwartung, viele Kollegen an. Damit hatte er auf der anderen Seite Pech, denn diese schienen grundsätzlich anderes als er an diesem frühen Morgen gelaunt zu sein. Das war normal, denn am kommenden Wochenende würden die vielen Weihnachtsmärkte der großen Stadt eröffnen. Seine Kollegen stimmten sich darauf bereits ein. Als der dritte Beamte ihn mit einem hohl durch den Gang schallenden "Ho-Ho-Ho" begrüßte, griff er in die rechte, große Außentasche seines langen, schwarzen Ledermantels und zog die bellende Miezi heraus. Der kleine Pekinese protestierte erschrocken gegen die plötzliche Umgebungs- und Lageveränderung. Er hatte jedoch keine Zeit, sich in der neuen Position zurechtzufinden. Entschlossen schleuderte der Dacapo seinen kleinen, ständigen Begleiter dem nervigen Gegenüber an den Kopf. Augenblicklich verfing sich Miezi in der wollenen Weihnachtsmannmütze und dem rotbraunen Vollbart des Beamten. Darin krallte sich das kleine Tier, seinen Instinkten gehorchend, vor dessen Gesicht fest.
"Mmmmmpfffmmfmmm"
"Dennis? Bist du das? Geht's dir gut?"
Ein anderer Beamter, der ihnen entgegenkam, blieb erschrocken stehen und versuchte dem Weihnachtsbemützten bei seiner Befreiung zu helfen. Das Zerren an dem kleinen Hund weckte in dem Tier unwahrscheinliche Kräfte. Ein lautes Knurren, Fauchen und Bellen ließ den Helfenden seine Hände zurückziehen. Da er nicht gleichzeitig das Körpergewicht verlagerte und zuvor kräftig gezogen hatte, kippte er rückwärts um und schlug mit dem Hinterkopf polternd gegen die bräunlich lackierte Seitenwand eines Getränkeautomaten. Die neue Delle im Blech fiel neben den anderen, die bereits darin waren, gar nicht auf. Es war offensichtlich, dass das Gerät schon einmal eine sehr unübliche Behandlung erfahren hatte.
"Dat kommt von zu ville Glühwein", kommentierte der Dacapo ungerührt das Geschehen, nachdem das Klirren des Bleches verklungen war.
Noch immer krallte sich der kleine Hund fest und nahm dem Mann die Sicht und den Atem. Dieser stolperte über den Gang und ruderte hilfesuchend mit beiden Armen in der Luft.
"Miezi! Inne Tasche!"
Das Kommando brachte das Tier sofort dazu, seine Position zu verlassen und wieder in der großen, rechten Außentasche des langen, schwarzen Ledermantels, den der Dacapo trug, zu verschwinden. Ohne sich weiter um die beiden anderen Beamten zu kümmern, verließ der Dacapo den Gang und das Gebäude. Es erinnerte ihn zu sehr an Sturzbäche oranger Limonade, die an den Wänden hinunterlaufen.
In der Poststelle wartete die Nachricht einer V-Frau auf den mächtigsten Geheimpolizisten, den das Bundeskriminalamt je hatte. In einem Ort namens 'Friedersdorf' hatte die Verkäuferin eines Backwarengeschäftes beobachtet, wie eine große, teure und schwarze Limousine mit oranger Paintball-Munition beschossen wurde. Nach ihrer Beschreibung 'waren die Fenster des reichen Autos mit Apfelsinen bematscht worden', das sei eine 'riesige Schweinerei' gewesen und der Fahrer hatte die Amerikaner, die er bei ihr kaufen wollte, einfach ohne Bezahlung mitgenommen. Er war zu der Limousine gestürzt und hatte mit dieser fluchtartig den Ort verlassen. Ob ein Fahrgast darin gesessen hatte, konnte die V-Frau nicht mitteilen. Für den Dacapo war sofort klar, dass nur der 'Maler' dahinter stecken konnte, nach dem er schon so viele Jahre erfolglos suchte. Außerdem war das die Gelegenheit, dem Weihnachtswahn in der Behörde zu entfliehen. Wenige Minuten später verließ der auffällige Einsatzwagen das BKA Gelände in Berlin Treptow und begab sich entlang der östlichen Ausfallstraße in die Richtung des Dahmelandes.
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Irgendwo in diesem Friedersdorf, dem Verwaltungszentrum der Heidesee Kommune, muss der Maler sein. Natürlich versteckt er sich, das macht er immer. Der schwere Oldtimer fährt nun bereits zum dritten Mal durch den Ort.
"Nischt! Wieda nischt!", tobt der Dacopo auf dem Fahrersitz und schlägt mit beiden Händen gegen das Lenkrad.
Am südlichen Ortsausgang hält er an und steigt aus, um sich zu orientieren und zu beruhigen. Als er die Füße auf den Boden stellt, berühren seine Stiefel ein blankes Stahlband, das quer unter dem Wagen hindurchläuft: Er parkt mitten auf einem Bahnübergang.
"Upps - egal. Ick hab Vorfahrt - bin schließlich det Jesetz!"
Er wirft die Tür krachend zu und folgt den Schienen in östlicher Richtung auf dem Bahndamm. Nach etwa hundert Metern kommt ein Bahnhof in Sicht. Der leere Bahnsteig lässt sich gut überblicken, kein einziger Fahrgast wartet dort auf einen Zug. Enttäuscht dreht sich der Dacapo um und sieht in die andere Richtung. Dort, im Westen, liegt nur eine große Freifläche. Er erinnert sich, etwas von einem Flugplatz gelesen zu haben. Die Wiese ist ebenfalls vollständig leer, es sind keine Flugmaschinen, Geräte oder Menschen zu sehen.
Von der Straße dringt ein Hupkonzert zum Dacapo hinüber und unterbricht ihn in seinen Beobachtungen. Da er den überblauen Einsatzwagen mittig auf dem Bahnübergang geparkt und damit beide Fahrspuren gesperrt hat, bilden sich nach Norden und Süden zwei Fahrzeugschlangen.
"Hat man denn nich' mal mehr auf'm Dorf seine Ruhe!"
Betont langsam geht er zu seinem Wagen zurück, ignoriert die wütenden Rufe und das Hupen der Wartenden, schaltet aus Protest das Blaulicht ein und räumt den Bahnübergang. Nur wenigen Metern weiter fährt er auf die Freifläche neben einer Tankstelle. In der Seitentasche der Fahrertür findet er eine Karte für Radtouristen im Dahmeland. 'Vielleicht hieß der Ort der Bäckersfrau gar nicht Friedersdorf. Aha, dort geht es nach Fürstenwalde. Fängt auch mit F an. Dann fahre ich einfach auf die Autobahn zurück und zu diesem F', überlegt er. Mit einem lauten, tiefen Blubbern startet der Motor des schweren Wagens wieder. Der Dacapo wendet das Fahrzeug und fährt zurück zum Dorf und zur Autobahn. Vor dem Ort steht unter einem Hinweisschild eine seltsame Figur. Sie sieht wie eine Werbepuppe für ein Angelgeschäft aus, denn zwei lange, tarngefleckte Futterale sind ihr auf den hohlen Rücken geschnallt.
"Nen Jeschmack ham se hier!", brummt der Dacapo nach hinten zur Miezi auf dem Rücksitz.
Ohne die eigenartige Puppe weiter zu beachten, die für einen Angler sehr untypisch mit einem hellen Trenchcoat und schwarzen Barett bekleidet ist, tritt er das Gaspedal wieder gegen das Bodenblech: Maximalbeschleunigung. So bemerkt er nicht, wie die Augen der Figur sich bewegen, dem Oldtimer folgen. Am Ortseingang schaltet er alle akustischen und visuellen Alarmgeber ein, über die sein Fahrzeug verfügt. Orgelnd und blinkend fährt er in den Ort hinein, kurz darauf wieder hinaus und auf die Autobahn in Richtung Fürstenwalde.
Am Ende bleibt ein Problem: Wie soll man jemanden finden, wenn dessen Aussehen unbekannt ist. Der Dacapo kennt bisher nur die Werke des 'Malers', die vielen, orangen Flecke, dessen Markierungen für Verbrecher, Betrüger, Lügner.