Attila wundert
Die Öffentlichkeit hat eine unstillbare Neugier, alles zu wissen,
Oscar Wilde
nur nicht das Wissenswerte.
Ein wissendes Lächeln strahlt Attila entgegen. Die Frau sitzt, nur etwa zehn Meter vom Ortseingangsschild entfernt, auf der wärmenden Motorhaube eines Kleinwagens. Mit diesem muss sie sich vor wenigen Minuten herangeschlichen haben. Attila war so sehr mit der Aufklärung des Mysteriums um das bedrohlich große Schild beschäftigt, dass er nichts von der Annäherung bemerkte. Nun lächelt ihn die Beobachterin an. Er glaubt ihr ansehen zu können, dass sie sich auf das kommende Gespräch mit ihm freut. Die sonst üblichen, psychischen Schwingungen einer mehr oder minder starken Abwehrhaltung, die vor einem Gespräch unter Fremden zu spüren sind, fehlen komplett. Ganz im Gegenteil, sein Unterbewusstsein empfängt ein offenes, ehrliches Interesse. Das Lächeln deutet er als unausgesprochene Frage, seine Anwesenheit an diesem Ort und die Beweggründe für die Vermessung eines Ortseingangsschildes zu erläutern.
"Ja, wie, was - was machen sie denn da?", mehr fällt Attila anfänglich nicht ein.
"Ich beobachtete gerade die interessantesten Ereignisse, die heute in meiner Gegenwart stattgefunden haben", ist die prompte Entgegnung.
Attila, der inzwischen auf die Beobachterin zugeht, hält unbewusst inne.
"Ach, das ist mir schon lange nicht mehr geschehen. Irgendwie bin ich für die meisten Mitbürger durchsichtig", bemerkt er traurig.
"Das glaube ich ihnen gern, Herr Schlottermüller."
Ein zweites Mal erschrickt Attila. Die persönliche Ansprache verunsichert ihn. Wie kann sie ihn kennen? Seine Waldarbeiterkluft unterscheidet sich vollkommen von den für ihn gefertigten Maßanzügen, die er noch bis Ende des Sommers täglich trug. Bisher war er der Meinung, ohne diese Anzüge gar nicht aufzufallen, da Kleider ja bekanntlich Leute machen. War sie Mitglied in seiner Partei, eventuell in deren Führungsgremien? Er kann sich nicht erinnern, sie bereits zuvor gesehen zu haben. Die anfänglich gespürte Offenheit ist auf seiner Seite schlagartig aus dem Gespräch gewichen.
"Sie kennen mich? Ich kann mich meinerseits gar nicht an sie erinnern...", deutet Attila vorsichtig an. Auch den Nachsatz betont er wie eine Frage.
Die Frau verlässt zügig ihren Sitz auf der Motorhaube, geht die verbliebenen drei Meter auf ihn zu und reicht ihm die Hand. Attila ergreift diese vorsichtig und auch sein Händedruck ist weniger ein Gruß als eine sehr vorsichtige Frage.
"Birgit Bremerler, Mysterien-Jägerin. Entschuldigen sie, in keinem Falle wollte ich sie erschrecken oder verängstigen", ist die freundliche Erklärung und Vorstellung.
Damit sagt sie nicht ganz die Wahrheit. 'Mysterien-Jäger' ist eine sehr weich und ausweichend formulierte Umschreibung für die Beschäftigung eines freien Journalisten. Ihre tägliche Erfahrung bestätigt immer wieder, dass die Menschen im Umgang mit Journalisten vorsichtig geworden sind. Im Gegensatz dazu befördert eine fantastische Berufsbezeichnung das Gespräch. Um dieses wieder in Gang zu bringen, setzt sie erklärend zu ihrer Vorstellung hinzu: "Bis in den Sommer hinein konnte man ihnen in keiner Nachrichtensendung entkommen. Sie hatten eine starke mediale Präsenz und ich habe einfach ein gutes Personengedächtnis."
Die Erklärung macht Attila neugierig und er ist schnell beruhigt. Er möchte beruhigt sein, sich nicht mehr verfolgt fühlen müssen. Der Aufregungen der vergangenen Monate ist er mehr als überdrüssig. Einmal muss das beendet sein und er möchte diese unangenehme Phase seines Lebens abschließen. Er wünscht sich so sehr, endlich Fremden nicht mehr mit Argwohn gegenüber treten zu müssen. Natürlich ist er an seiner gegenwärtigen Lage selbst schuld. Das weiß er nur zu gut. Trotzdem wünscht er sich nichts mehr, als ein Ende und die Chance für einen Neuanfang. Eine Mysterien-Jägerin, noch dazu eine so attraktive, bietet ihm die sehr wahrscheinliche Möglichkeit eines entspannten Gespräches. So beginnt er bereitwillig sein Unterfangen zu erläutern.
"Als ich so auf das Schild zufuhr, hatte ich den Eindruck, dass es übermäßig schnell wächst. Ich fühlte mich von ihm bedroht und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es mich nicht in den Ort lassen wollte."
"Und deshalb messen sie die Tafel in allen Dimensionen aus?", der Journalistin scheint das kein hinreichender Grund für die Aktion zu sein. Nun, sie weiß ja auch nichts von Attilas traumatisierender Dauerbegegnung mit den Technikinsekten, die im Ort hinter diesem Schild begann. Somit kann sie sich nicht erklären, warum der geflüchtete, ehemalige Spitzenpolitiker offensichtlich Angst hat, hinter die gelbe Blechtafel zu treten.
"Es bedrohte mich, wollte mir die Einfahrt in die Stadt verwehren! Es nahm bereits die halbe Straße ein. Ganz offensichtlich ist das Storkower Ortseingangsschild 'gestaltwandelnd'!", sprudelt Attila hervor und reißt dabei die Augen weit auf. Seine Erinnerung an die gefühlte Bedrohung täuscht und ängstigt ihn zugleich. Die Journalistin tritt vor das Schild und klopft mit den Knöcheln der rechten Hand dagegen. Mehr als ein dumpfes 'Pock! Pock!' ist nicht zu hören. Das rechteckige Stück Blech bewegt und verändert sich nicht.
"Hmm, ich kann nichts feststellen. Sind sie sich sicher?"
Attila ist leicht entrüstet: "So kann man das doch auch gar nicht feststellen! Wo sind denn ihre Messgeräte?"
Die Journalistin dreht sich wieder zu ihm um und sieht ihn fragend an.
"Na, die mit den Antennen für übernatürliche Schwingungen und den wild zuckenden Zeigern", erklärt Attila.
Er fühlt sich sogleich an die viele Technik im Fond des Drohnenfängers und Matz 'elemec's Beschäftigung als Technik-Jäger erinnert. Der Schluss ist klar, den er in Gedanken vollzogen hat: Jäger jeglicher Art müssen heute Messgeräte nutzen. Die Journalistin stemmt die Hände in die Seiten, neigt sich in den Hüften nach links und den Kopf nach rechts. Sie sieht Attila belustigt an und anstatt des Schildes, wandelt sich jetzt ihr Lächeln. Es wird zu einem deutlichen Lachen. Die niedrig stehende Herbstsonne spielt mit ihren rotbraunen Locken. Nicht nur ihr Mund lacht, ihre ganze Gestalt leuchtet magisch belustigt.
"Nun, ich versuche Mysterien aufzuklären, den praktischen, wissenschaftlichen Hintergrund zu finden - ich bin kein Geisterjäger", und immer noch belustigt fügt sie hinzu: "Meine Messgeräte sind meine Augen, Ohren und mein Verstand. Als Werkzeug verwende ich ausschließlich Logik. Durch eine vernünftige Aneinanderreihung von Erkenntnissen lassen sich Ursache und Wirkung immer finden. Erklärungen für vermeintlich Übernatürliches sind oft ganz einfach und naheliegend."
"Ohhh...ch", ist die einzige Antwort, zu der Attila augenblicklich befähigt ist.
Die Tätigkeit von modernen Jägern hat er sich wohl falsch vorgestellt. Doch wo ist nun der wirkliche Unterschied zwischen Geister- und Mysterien-Jägern? Besteht dieser ausschließlich in der Wahl der Messgeräte, Sonden und Fallen? Da er in diesem Augenblick nichts weiter zu tun hat, beginnt er sich in den Gedanken zu vertiefen. Er setzt sich auf die immer noch warme Motorhaube des Kleinwagens der Journalistin, verstummt und beginnt nachzudenken. Diese beobachtet ihn weiterhin belustigt. Hat sie ihn mit ihrer Erklärung verwirrt? Als ehemaliger Spitzenpolitiker sollte er doch nie um eine, wenn auch sinnfreie, Antwort verlegen sein. Warum schweigt er so abrupt. Denkt er wirklich über ihre kurze Ausführung nach?