Drohnenuntergang

Waffen töten Menschen viele Male,
nicht durch ihre eigene Bosheit,
sondern die Bosheit derer,
die sie bösartig gebrauchen.

Giovanni Boccaccio

Regungslos kauert die aggressive, elektronische Wanze vor der Wand und fixiert Attila, der sich unweit von ihr gegen die einzige Tür des Raumes drückt, nach wie vor mit ihren kalten, toten Augen. Das bösartige Gerät blinzelt nicht, hat es doch keine Lider oder sonstige Objetivschützer. Dafür fährt es in einer erschreckenden Weise die Optiken weiter aus. Natürlich um Attila zu beobachten und vor der Tür exakt vermessen zu können. Dieser fühlt sich in der Rolle des Rotkäppchens gar nicht wohl, insbesondere einem so heimtückischen und unberechenbaren Technikwolf gegenüber. Inzwischen versucht die Wanze seine Schwachstellen zu finden. Wenige Augenblicke später senkt das Gerät wieder das hintere Ende seines Panzers und bereitet sich auf den nächsten Angriff vor. Attila kennt diese Sprungvorbereitung des künstlichen Insektes bereits und möchte nicht auf die Folgen warten, weiß er doch nicht, über welche Werkzeuge oder gar Waffen die Wanze verfügt.

Unter Ansammlung und Fokussierung all seiner Kräfte schwingt Attila die Axt von ihrer Halterung auf seiner rechten Seite direkt vor die Brust. Mit der linken Hand greift er ebenfalls an deren rot bemalten Schaft, um das archaische Werkzeug unter seine Kontrolle zu bringen. Breitbeinig steht er nun vor der Tür, innerlich bereit, sein Leben und den Rest der Welt gegen das autonome Monster zu verteidigen, das ihm gegenüber auf dem Boden kauert und lauert. Die Balance suchend und das schwere Werkzeug mit beide Armen haltend, streckt er es von sich. Seine Arme und die große, rote Axt bilden eine Linie, die in ihrer Verlängerung in Richtung des gefährlichen, elektronischen Scheusals zeigt. Dieses müsste eigentlich aus Angst vor seiner mächtigen Waffe den Rückzug antreten, wenn es die Situation einschätzen könnte. Ist doch allein schon der Kopf der Axt größer und deutlich schwere als es selbst. Eine Kollision, ungeachtet welcher Art, würde ganz sicher mit seiner finalen Zerstörung enden. Dem blanken Stahl der Schneide kann das Gerät erst recht keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen, egal aus welchem Material es gefertigt ist. Obwohl sich Attila sicher ist, dass er nun die Oberhand gewonnen hat, macht sein Gegenüber ungerührt weiter. Für ihn gibt es nur eine Erklärung: Die hässliche Wanze verfügt über eine Art von Axtabwehr und fühlt sich gar nicht bedroht! Seine Arme beginnen zu zittern - nicht nur von der Last der gehaltenen Axt. Ihm bleibt offensichtlich nur noch die Flucht, doch wohin soll er sich bewegen? Welcher Weg steht ihm noch offen? Er selbst verdeckt die einzige Tür des Raumes, die leider nach innen öffnet und versperrt somit seine eigene Fluchtmöglichkeit. Dreht er der Wanze den Rücken zu, um zur Seite zu treten und den rettenden Ausgang zu öffnen, hat das Gerät ausreichend Zeit, um ihn von hinten anzugreifen. Er wäre zu lange schutzlos und würde ganz sicher unterliegen, schließlich hat er am Hinterkopf keine Augen und die Axt lässt sich ob ihres Gewichtes nur vergleichsweise langsam bewegen - zumindest für ihn. Von der angestrengten Suche nach einem Ausweg, dem schweren Gerät in seinen ausgestreckten Händen und der Angst vor dem Technikmonster wird ihm heiß und Schweißtropfen bilden sich auf seiner Stirn. So sehr er sich auch bemüht und anstrengt, es scheint keinen anderen Weg als die Flucht durch die Tür zu geben. Also beginnt er sich langsam nach links zu bewegen. Gelingt es ihm, die Tür einen Spalt zu öffnen, kann er sich eventuell durch diesen nach außen zwängen und den Ausgang anschließend sofort wieder schließen. Nach dreißig Zentimetern Seitwärtsbewegung, auf denen er sich gefühlt endlos quält, beginnt sich wieder Hoffnung in ihm zu regen. Er erfreut sich an dem sich ausbreitenden Glücksgefühl. Es wärmt den gesamten Körper und ja, er wird unbeschadet der einschüchternden Gesellschaft entkommen und die weite Freiheit des Hofes erreichen ... Freiheit, einfach nur schön!

Leider bleibt es bei dem Traum, denn Attila hat seine Rechnung ohne die Monsterwanze gemacht. Längst scheint sie seine Absicht erkannt zu haben, oder sie bedient sich einfach nur der Mathematik aus einem anderen Universum. Noch bevor er den ersten Schritt seiner Befreiungsaktion abschließen kann und sich endlich neben die Tür befindet, springt das grässliche Gerät unvermittelt in die Höhe. Attila sieht dies nur aus den Augenwinkeln, da er sich gerade auf den Türgriff konzentriert. Erschrocken nimmt er die schnelle Bewegung wahr. Alle Hoffnung ist in Nanosekunden vernichtet, er friert förmlich ein, nicht einmal den Kopf bewegt er mehr. So sieht er die Wanzendrohne nicht auf sich zukommen. Weniger als einen Augenblick später hat das aggressive Stück Technik ihn erreicht und im Vorbeisprung schneidet es sein Hemd am rechten Ärmel auf. Das leise Geräusch des Zerreißens von Stofffasern frisst sich durch Attilas Hirn, noch bevor der Schmerz eines Stiches dieses erreicht. Die Drohne ritzt ihn am Arm und schwebt für etwa eine Sekunde neben ihm - direkt vor dem Schnitt. In der kurzen Zeitspanne schießt ein dünnes, durchsichtiges Röhrchen aus dem platten Körper. Es ist flexibel, gleicht einer Pipette ... und zu Attilas unendlichem Erstaunen saugt das technische Monster einen Tropfen Blut aus der Wunde in seinem Arm. Es stiehlt einen Tropfen seines Blutes! Dies geschieht direkt über der Türklinke, auf die Attila zuvor seine gesamte Aufmerksamkeit richtete. Starr vor Schreck, ohne jegliche Augenbewegung, ohne Blinzeln und mit weit geöffneten Pupillen nimmt er jede Einzelheit dieser Aktion wahr.

Attila hat keine Zeit, darüber nachzudenken, warum das Gerät eine Blutprobe von ihm einsammelt. Sein elektromechanischer Gegner ändert abrupt die Bewegungsrichtung, fliegt in Richtung der Werkbank und landet auf dieser. War Attila vor zehn Sekunden noch vom Schreck gelähmt und förmlich vor die Tür geleimt, steigt jetzt Wut über den Angriff in ihm auf. Er konnte sich nicht in Sicherheit bringen und wurde zu allem Überfluss auch noch von einem Stück Technik tätlich angegriffen. Das ist wahrlich nicht sein Tag und ein glücklicher schon gar nicht - für ihn. Die Drohne scheint im Gegensatz dazu ganz zufrieden zu sein. Sie hockt ruhig und reglos auf der Werkbank. Selbst aus den Objektiven ist jegliche Bewegung gewichen. Man könnte meinen, das aggressive Technikmonster ist harmlos. Attila lässt sich jedoch nichts vormachen. Schäumend vor Wut reißt er die Axt in die Höhe, schwingt sie über seinen Kopf und springt der Drohne hinterher auf den Arbeitstisch zu. Ein unartikulierter Schrei begleitet den Fall der Axt aus der Höhe. Ungeübt in der Nutzung solch schweren Werkzeuges verfehlt Attila die Drohne und leider auch die Werkbank. Die Schneide saust in Haaresbreite an letzterer vorbei, schlägt hart auf den groben Beton des Bodens und hinterlässt in diesem eine leichte Delle. Kleine steinerne Splitter stieben in die Weite des Raumes und prallen prasselnd gegen die Wand und die Tür. Das Geräusch, das sie verursachen, ergänzt unangenehm das Summen in Attilas Arm, welches die Vibrationen des harten Aufpralls hinterlassen. Sie übertragen sich von der Klinge über den Griff der Axt auf beide seiner Arme. Oh ja, dieses Gefühl in seinen Hand- und Ellenbogengelenken kennt er bereits. Der Christbaum, den er vor wenigen Tagen an der Autobahn schlug, wehrte sich anfangs auf eine ähnliche Weise. Doch davon ließ er sich nicht abhalten - nun steht der Baum im Haus. Entschlossen beißt er die Zähne zusammen, richtet sich wieder auf, reißt die schwere Axt abermals nach oben und hebt sie über seinen Kopf. Natürlich ist die blutsaugende Drohne inzwischen von der Werkbank verschwunden. Schwankend das Gleichgewicht suchend, blickt sich Attila im Raum um und entdeckt das technische Scheusal in der Ecke diagonal gegenüber der Tür. Der Abstand den das garstige Gerät zwischen sich und den Ausgang gebracht hat, ist damit ausreichend groß für eine erfolgreiche Flucht. Attila denkt jedoch gar nicht mehr daran, die Werkstatt zu verlassen. Jetzt, da er in den Kampf gezogen wurde, drängt es ihn, diesen auch zu beenden. Er will die Entscheidung und es gilt nur noch: Er oder das garstige Ding werden überleben. Gut, das ist mehr metaphorisch gedacht. Natürlich würde ihn die Drohne nur verletzen und nicht umbringen können. Dafür hat das kleine Gerät dann doch zu wenig Macht und Mittel. Im Gegensatz dazu kann er seinen Gegenspieler vollständig außer Gefecht setzen und genau das ist sein Ziel. Eilig springt er auf die Ecke und den Blutsauger zu. Damit verringert sich die Anzahl der möglichen Züge der Drohne in ihrem gemeinsamen Spiel drastisch. Diese lässt sich jedoch nicht so einfach überlisten. Sie handelt, als ob sie Attilas Angriff in jedem Detail vorhersehen kann. Im letzten Augenblick fliegt sie, knapp über dem Boden, zwischen seinen Beinen hindurch, entweicht in die Weite des Raumes hinter seinem Rücken und entzieht sich dem nächsten seiner Schläge. Attila kann auf die veränderte Lage nicht mehr reagieren. Die schwere Axt befindet sich bereits in einer Abwärtsbewegung und die Leitungsgeschwindigkeit seiner Nervenbahnen reicht nicht aus, um seinen Muskeln noch einen anderen Befehl zu geben. Die Klinge schlägt abermals wirkungs- und erfolglos auf den Betonboden.

Attila nimmt sich nicht die Zeit, um zu überlegen, wie diesem kleinen Gerät solch schnelle und taktisch kluge Reaktionen gelingen können. Wütend setzt er der flüchtenden Drohne hinterher. Bei der wilden Jagd durch die Werkstatt schlägt er nun mit der schweren Axt immer wieder nach dem hüpfenden Blutsauger. An zielgerichtete Angriffe denkt er dabei gar nicht mehr. Unkontrolliert und nur noch von seiner Kraft und Ausdauer begrenzt, fällt die Klinge herab und schlägt in alles, was ihr dabei in den Weg kommt. Auf seinem Kurs durch den Raum, der dem einer Billardkugel gleicht, stößt Attila heftig mit dem Kopf gegen die Kante der Werkbank. Nachdem das dumpfe Dröhnen zwischen seinen Ohren verklungen ist, erscheinen bunte Muster vor seinen Augen, er verliert die Orientierung. Da ihm ebenfalls der Verlust des Gleichgewichtes droht, muss er sich setzen. Zu seinem Glück geschieht ihm dies direkt vor dem einzigen Stuhl im Raum.

’Oh ja! Das sieht überraschend besser aus, als in jedem Kaleidoskop!’, denkt er dabei: ’... man muss nicht einmal durch eine Röhre blicken. So schöne Farbbilder bekommt man also auch ganz ohne jegliches Hilfsmittel zu sehen.’

Attila träum den bunten Figuren hinterher und setzt sich währenddessen immer noch blind und unbeholfen auf den Stuhl. Für einen kurzen Moment vergisst er dabei die wilde Jagd.

Der Augenblick der Entspannung ist schnell beendet, denn unter ihm dringt ein Knirschen und Knacken hervor. Zwischen sich und der Sitzfläche des Stuhles spürt er hektische und schnell verebbende Bewegungen. Die blutsaugende Drohne hatte den Sitz als Versteck auserkoren. Hinter der Stuhllehne war sie vor Attilas Blicken verborgen. Wegen dieser Sichtblende und auch den farbigen Mustern vor seinen Augen kann er das Gerät auch nicht wahrnehmen, als er sich auf den Stuhl setzt. Seinem Gewicht hält der elektromechanische Spion nicht stand. Die noch verfügbaren Propeller zerbrechen, die Optiken werden verbogen. Das Gehäuse bekommt eine Delle und einen langen Riss. Unter Attila wird es still. Die Drohne zuckt ein letztes Mal. So überwinden wieder einmal Zufall und unberechenbares Chaos ein taktisch zielgerichtetes, durchdachtes Handeln. Nachdenken und Planen werden von der Praxis selten belohnt. Die Anarchie der Ereignisse hält immer eine Überraschung bereit, auf die man nicht vorbereitet ist.

Ohne aufzustehen und sich die Mühe der Analyse seines Sieges zu machen, sinniert Attila über den tieferen Sinn hinter den Vorgängen der jüngst vergangenen Minuten. ’Welche Drohne wird ausgesandt, um beliebige, zufällige Blutproben zu sammeln?’, ’Was für ein seltsamer Plan verbirgt sich dahinter?’ und auch ’Soll ich Matz davon berichten?’ Auf keine der Fragen findet er eine Antwort, was ihn nicht weiter berührt. Schließlich steckt in ihm immer noch ein Teil des ehemaligen Politikers, mit all seinen Denk- und Verhaltensschemata. Für die Lösung von Problemen und die Klärung von Fragen sind Fachleute zuständig - Politiker zählen bekanntlich nicht dazu.


W25C3P2
Autor
©
http://texorello.org/W25C3P2
22. Dezember 2013 12:08 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Attila
Objekte, Materialien: Axt
22. Dezember 2013 12:26 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Attila
Objekte, Materialien: Axt
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