Sternenaufgang
Es stand ein Sternlein am Himmel,
Matthias Claudius
Ein Sternlein guter Art;
Das thät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart.
Im Vergleich zu einer garstigen, blutsaugenden Vampirdrohne ist ein 3D-Drucker ein unbeseeltes Stück Technik. Er lässt sich von seiner Umwelt und den Geschehnissen in dieser nicht beeindrucken oder unterbrechen. Widerstandslos führt er die erhaltenen Befehle aus und schmilzt Zentimeter für Zentimeter des ihm anvertrauten Plastikfadens zu einem heißen Brei, ganz ohne die Simulation jeglicher Emotion. Das kleine Technikmonster, dessen Reste nun im Abfalleimer unter der Werkbank verstauben werden, spielte seinem Widersacher eine hochgradige Aggression vor. Als ’totes Stück Technik’ fühlte es diese nicht wirklich. Genau wie der 3D-Drucker ohne jegliche Emotion sein eintönig-langwieriges Tagwerk verbringt, hat auch die Drohne nur ihr vorgegebenes Programm heruntergespult. Obwohl Attila keine Ahnung hat, wer der Urheber des Scheusals ist, das nach seinem Blut trachtete, ist er erleichtert, dass dieses Erlebnis ein gutes Ende gefunden hat, wenn auch ein Zufall und nicht der geplante Angriff dies bewerkstelligte. Etwas Glück gehört nun einmal zum Leben dazu und ihn hatte es lange gemieden. Nein, er muss nicht alles wissen, wenn das Ergebnis seinen Vorstellungen entspricht, ist er zufrieden.
Noch während er glücklich lächelnd die nun harmlosen Reste der vormals gefährlichen Drohne aufsammelt und in den Abfalleimer kehrt, meldet der 3D-Drucker die Fertigstellung seiner Arbeiten mit einer Folge lauter Piepser an. Wenige Minuten später sind die vielen, kleinen Plastikteile abgekühlt, entgratet und auf dem Tisch ausgelegt. Die Klebepistole und der Lötkolben laufen heiß und Attila beginnt mit dem Zusammensetzen seiner Konstruktion einer ’technologisch revolutionäreren Weihnachtspendelkugel’. Der kreative Schöpfungsprozess lenkt ihn vollständig von den Geschehnissen der vergangenen Minuten ab. Als er zwanzig Minuten später das fertige Werkstück in den Händen hält und die Werkstatt verlässt, hat er das irritierende Erlebnis mit der Vampirdrohne längst vergessen.
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Matz möchte die freien Tage am Ende des Jahres genießen. Ganz bewusst hat er sich keine Projekte und Aufträge in diese beiden Wochen gelegt. Während der letzten Jahre häufen sich in der Vorweihnachtszeit die Problemfälle mit freidrehender, unerwünschter Technologie und wilder Spionagetechnik. Allgemeiner, technischer Fortschritt, massive Verfügbarkeit preiswerter, fernöstlicher Elektronik und die an immer mehr Orten konzentrierte, pure Bosheit machen es möglich. Nicht nur der Konsumterror erreicht in dieser Zeit ein unerträgliches Maximum, auch der Grad an Belästigungen, den sich die Menschen untereinander zumuten, übersteigt jedes christliche Maß. Matz möchte die letzten seiner Erlebnisse einfach nur vergessen. Durch Lesen kann er sich im Laufe des Vormittages etwas ablenken, wenn auch nur kurz. Da ihm scheint, dass Fachliteratur über ’proportional integral derivative controller’ in Kombination mit ’deep learning’ irgendwie nicht zu den bevorstehenden Feiertagen passt und andererseits ihm nicht der Sinn nach Thrillern oder leichter Lektüre steht, währt diese Ablenkung nicht lange. Ihm fällt keine andere Tätigkeit ein und geht somit wieder in die Küche. Ein Kräutertee mit Honig könnte die Entspannung und Ablenkung eventuell zu ihm zurückbringen. Kräuter, von ihm selbst im Sommer gesammelt und Honig vom Nachbarhof stecken voller Erinnerungen. Er denkt gern an die warmen, ruhigen Monate des Jahres zurück, in denen es kaum unangenehme Überraschungen gab. Auch die boshaftesten unter den Mitmenschen waren im Urlaub und hielten sich zurück.
Leider wird nichts aus Entspannung und Erholung, denn Attila betritt die Küche, noch während der Tee seiner Vollendung entgegengeht. Stolz lächelnd trägt er sein neuestes Konstrukt vor sich her. Beim Eintreten reißt er so ungestüm die Tür auf, dass der Luftzug die Zeitung vom Tisch fegt, die Matz dort bereits ausgebreitet hatte: Vorbei ist es nun auch mit dem Studium der Literaturseiten beim Genuss eines Kräutertees. ’Ja, da ist es wieder: Mein Hausproblem, das ich vor einigen Wochen aus dem Spreekanal fischte’, denkt Matz. War er bisher noch nicht vollständig wach, so ändert sich das schlagartig beim Anblick des Gegenstandes in Attilas Händen. Zuerst denkt er, dass Attila ein technologisches Artefakt einfing, welches sich unbemerkt in das Haus einschlich: ’Oh Gott! Jetzt sind wir doch enttarnt worden!’, durchzuckt es ihn, gleich einem kräftigen, elektrischen Schlag. Das ist schlichtweg der SuperGAU! Wenn das wahr ist, muss er sofort all die anderen Artefakte vernichten, die sich im Laufe der Zeit auf dem Hof angesammelt haben. Falls einer der vielen Superschurken und Warlords oder geheimen Dienste des Landes diese Sammlung in seine Hände bekommt, kann das nur in einer Katastrophe enden, die den gesamten Kontinent erfasst.
Natürlich Attila nimmt Matz’s erste Reaktion wahr, denn nach beinahe einem halben Jahr Politikabstinenz hat sich seine angeborene Empathie wieder bei ihm eingefunden. So verschwindet schlagartig sein Lächeln und er ist ebenfalls entsetzt - wenn auch aus einem anderen Grund. Er hat nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass seine weihnachtliche Pendelkugel irgendjemanden erschrecken könnte. Kommunikativ wie es sich für einen ehemaligen Politiker gehört, versucht er sofort die Ursache zu ergründen.
”Matz, mach nicht so ein Gesicht! Ich wollte dich mit meiner Bastelei überraschen. Was erschreckt dich daran?”, versucht er zu ergründen.
Als Antwort bekommt er nur eine vorsichtig formulierte Gegenfrage: ”Ähhm - wo hast du DAS Ding gefangen?”
”Nee, nicht gefangen ... gebastelt.”
”Das stammt von dir?”, erkundigt sich Matz und in seiner Frage schwingen Erstaunen, Hoffnung und Beruhigung gleichermaßen mit.
”Ja, natürlich! Was dachtest du denn?”
Nun ist es an Attila, erstaunt zu sein. Traute ihm sein Gastgeber eine solche Leistung etwa nicht zu? Schließlich hat er ihm die Konstruktion und Anfertigung dieser Dinge in den vergangenen Monaten selbst beigebracht. Matz erhebt sich vom Stuhl und greift vorsichtig über den Tisch und nach der Kugel. Interessiert betrachtet er die Maschine und bewundert deren Ausführung, während er sie in alle Richtungen dreht.
”Soll das etwa ein weihnachtlicher Kampfstern werden?”, erkundigt er sich.
Kaum hat er sich von dem ersten Schreck erholt, schwingt nun in seiner Frage bereits eine neue Besorgnis mit, die ihn seit dem Morgen verfolgt.
”Warum ’Kampfstern’?”, fragt Attila zurück und nach einer kurzen Pause fügt er unter Betonung jeder einzelnen Silbe hinzu: ”nein, das ist doch ein ’technologisch revolutionärerer Weihnachts-pendel-kugel-stern’ - kannst Du das nicht erkennen?”
”Attila?”, ist die nachdenklich, vorwurfsvolle Antwort, die den Konstrukteur des seltsamen Gebildes zu einem weiteren Nachsatz verleitet.
”Und programmierbar ist er auch.”
Matz möchte die freien Tage am Ende des Jahres genießen. Leider wecken Attilas Tätigkeiten und Aussagen unangenehme Vorahnungen vor neuem Chaos, das seine ruhige Freizeit empfindlich stören könnte. Diesen Gedanken möchte er weder nachgehen, noch sie bestätigt wissen.