Mystische Mittagsentspannung
Übermut tut selten gut,
Spreewald-Sprichwort
darum sei vor dem Nix auf der Hut.
Die Eingangstür zum Wohnhaus des alten Spreewaldhofes ist aus Eiche gefertigt. Gute, grobe, schwere Bohlen werden durch querlaufende Hölzer gehalten. Im Laufe der Jahrhunderte hat das Wetter tiefe Scharten in sie gegraben und die Oberfläche gegerbt. Ungebrochen verwehrt sie jedem Fremden den Zutritt, stumm, grob gehauen, gewaltig und gepanzert mit schwarzen, eisernen Nägeln. Der kräftige, dunkle Anthrazitton des Holzes passt zu ihrem abwehrenden Grundzweck. Diese Tür ist eine ideale Ergänzung der über fünfzig Zentimeter starken Außenwände aus gebrannten Ziegeln und des Fundamentes aus unbehauenen Findlingen. Alles passt zu dem in einem sehr hellen Gelb gestrichenen Putz, den Stürzen aus Sandstein, den alten, verwitterten Fensterladen und dem Dach, das mit roten Biberschwänzen gedeckt ist. Als sich die Besucherin den Torbogen am Eingang zum Hof durchschritten hat und sich dem Haus nähert, bewundert sie es mit jedem Meter mehr. Das gesamte Gebäude ist stilvoll und ohne Schnörkel restauriert. Die Ausführung zeugt davon, dass der Erbauer nicht ganz mittellos war und der aktuelle Zustand beweist, dass die heutigen Bewohner das Erbe zu würdigen wissen. Gestern, während des Brandes, war ihr das Haus gar nicht aufgefallen.
Nun steht sie vor der schweren, eichenen Tür. Zu ihrem Glück findet sich ein Klingelknopf rechts daneben, denn diese Tür ist auch über ein Klopfen erhaben. Im Inneren des Hauses würde es unhörbar sein, dicke Bohlen schwingen nicht. Sie drückt entschlossen auf den Knopf und ein schrilles, lautes Klingeln ertönt aus verschiedenen Richtungen. Erschrocken zieht sie ihre Hand vom Klingelknopf zurück. Die elektrischen Klingeln tönen unbeeindruckt weiter. Schnell drückt sie noch einmal auf den Knopf und zieht die Hand wieder von ihm hinweg: Es tritt keine Veränderung der Situation ein, das laute, rasselnde Klingeln ertönt weiterhin aus verschiedenen Richtungen.
"Upps, kaputt. Nja, eine Brandbekämpferin hinterlässt nichts funktionierend. Schließlich soll das Feuer auch kaputt sein", spricht sie leise und sieht schuldbewusst zu Boden.
Durch ein geöffnetes Fenster ist ein Poltern im Haus zu vernehmen. Es geht in intensives Rascheln und Knistern über. In die Flut an Geräuschen mischen sich menschliche Stimmen. Das Klingeln überdeckt jedoch alles und Inhalte sind nicht zu verstehen. Nach einer kurzen Unterbrechung klappert es noch einmal leise. Sie steht weiterhin vor der Tür und wartet darauf, dass ihr einer der Bewohner öffnet. Ungeduldig wippt sie auf und ab, indem sie sich in den derben Arbeitsschuhen abwechselnd auf Zehen und Ferse stellt. Die Einwohner scheinen schwerhörig zu sein oder sind nicht so einfach aus der Ruhe zu bringen. Am ersten Weihnachtsfeiertag muss man sich natürlich nicht beeilen. Endlich wird der Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür geöffnet. Der Mann hinter der Tür kommt ihr bekannt, ja vertraut vor.
****
Matz hat die Tür erreicht, entriegelt das Schloss und zieht das schwere Blatt zu sich heran. Obwohl der Flur erleuchtet ist und der trübe Tag außerhalb des Hauses wenig Licht verteilt, weicht er wie geblendet einen Schritt zurück. Vor der Tür steht eine Besucherin, mit der er heute wirklich nicht gerechnet hat.
"Hallo Anja", begrüßt er sie nach einer kurzen Pause, während der sich beide gegenseitig erstaunt ansehen.
Matz betont die kurze und direkte Begrüßung gleichzeitig wie eine Frage. Die Angesprochene betrachtet ihn noch erstaunter als bereits zuvor und ist sichtlich bemüht, ihn zu- oder einzuordnen. Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass die intensive Beschäftigung mit Erinnerungen der letzten Jahre leider erfolglos bleibt.
"Kennen wir uns?"
"Das möchte ich meinen, habe ich doch vier Jahre lang von dir im Deutschunterricht abgeschrieben..."
"Matz?", ist eine leise und vorsichtig geäußerte Frage.
Die brandenburgische Feuerwehruniform in kräftigem Blau harmoniert ausnehmend gut zu ihrem glatten, langen, dunkelroten Haar. Matz kann die Freude wieder deutlich in ihrem Gesicht lesen, die mit dieser als Feststellung formulierten Frage verbunden ist. Das Vertrauen und die Offenheit, die während der Schulzeit zwischen ihnen existierte, ist offensichtlich noch immer vorhanden, auch wenn sie einen kleinen Anlauf und etwas Hilfe benötigte, um ihn zu erkennen. Bisher glaubte er, sich während der Jahre seiner Abwesenheit äußerlich nicht stark verändert zu haben - offensichtlich ein Trugschluss.
"Komm herein --- nein! Dreh' dich erst einmal um dich selbst."
"Was?", ihr rechter Fuß, bereits in der Luft, um die Schwelle zu überschreiten, setzt wieder vor der Tür auf.
"Na mach schon, dreh' dich - zier' dich nicht. Ich habe nicht jeden Tag eine schöne Frau zu Besuch", erklärt er lächelnd.
"Dich auszudrücken und Komplimente zu machen, hast du inzwischen gelernt", antwortet Anja, während sie den Flur des alten Hauses betritt. Dabei dreht sie sich gleichzeitig einmal um sich selbst: "Zufrieden?"
Die Inneneinrichtung des Hauses ist anders, als sie es erwartete. Blanke Backsteine bilden den Fußboden und werden indirekt durch Lichtleisten erleuchtet, die eine Handbreit über dem Boden an der Wand entlanglaufen. In Regalen stehen große Gurkengläser, die seltsame, technische Geräte beherbergen. Diese scheinen darin gefangen zu sein, bewegen sich die meisten davon doch hektisch hin und her. Neben der Garderobe ragt eine hohe Glassäule vom Boden auf. In der Höhe misst sie über zwei Meter und ist am oberen und unteren Ende erleuchtet. In ihr schwebt ein seltsames Gebilde. Seine Bewegungen ähneln denen einer Schlange, besteht es doch aus vielen kleinen Gliedern. Einige von ihnen sind aus schwarzem Plastik und andere aus einem stumpfen, gebürsteten Metall gefertigt. Das Gerät schlängelt sich mithilfe von mehreren Propellerkränzen, die zwischen den einzelnen Gliedern rotieren, durch die Luft in der Glassäule. Dabei scheint es ununterbrochen nach einem Ausweg zu suchen. Anja bleibt vor dem großen, gläsernen Gefängnis stehen und sieht dem schwebenden, mechanischen Wurm bei seinen endlos erfolglosen Befreiungsversuchen zu.
"Es scheint doch zu stimmen, was die alten Frauen im Dorf erzählen", sagt sie nachdenklich.
"Was erzählen die denn so?", fragt Matz interessiert.
"Ach, nur, dass hier ein Hexenmeister eingezogen ist."
Er tritt in ihr Blickfeld, direkt vor das emsige Artefakt, blickt ihr in die Augen und fragt: "Ein Hexenmeister, ernsthaft? Warum denkt denn jemand so etwas?"
"Ja, zwei von ihnen wollen ihn hier beim Kochen einer Suppe aus magischen Flugwesen beobachtet haben - vor fünf Wochen etwa."
Matz überlegt kurz. Vor fünf Wochen ist er gar nicht im Haus gewesen. Zu diesem Zeitpunkt besuchte er eine Konferenz. Bei seiner Ankunft traf er Attila in der verwüsteten Küche beim Backen seiner Drohnenkuchen an.
"Ach, das war nur Attila."
"Was, ein Kaninchen?"
Matz schüttelt lachend den Kopf und öffnet die Küchentür, vor der beide inzwischen angelangt sind.
"Hier entlang, in die Küche. Die gute Stube ist gerade nicht bewohnbar. Der H-e-x-e-n-m-e-i-s-t-e-r hat dort gestern eine kleine Verwüstung angestellt", den zweiten Satz spricht Matz laut aus, damit er auch in der Küche gut zu verstehen ist.
Als er den Raum hinter Anja betritt, ist er etwas überrascht, hat er doch Attila in diesem erwartet. Die Küche ist leer und macht einen gut aufgeräumten Eindruck. 'Ungewöhnlich für den neugierigen Attila', denkt er, macht sich jedoch keine weiteren Gedanken. Natürlich wird dieser gleich auftauchen. Anja beobachtet inzwischen verwundert zwei handtellergroße Drohnen, die in ihren Gurkengläsern auf und ab hüpfen. Manchmal berühren die kleinen Propeller schnarrend das Glas. Sie greift von außen an die durchsichtige Ummantelung, als ob sie die technischen Artefakte beruhigen möchte. Matz unterbricht die Pause, um sie von den Drohnen abzulenken.
"Komm, setz' dich und erzähle doch einmal: Was hast du in den Jahren nach der Schule gemacht?"
Anja sieht ihn an, legt den Kopf zur Seite und scheint zu überlegen.
"Ja, eigentlich ... nicht viel ... Feuerbekämpfung halt."
Natürlich gab es in den letzten Jahren mehr als genug Wendungen in ihrem Leben. Alles viel zu kompliziert, um es so einfach zu erzählen und doch auch viel zu unwichtig, um überhaupt erwähnt zu werden.
"Ahh, ja, Feuerbekämpfung - klar, was sonst."
Matz sieht nicht besonders erstaunt aus. Zu gut erinnert er sich an den gestrigen Abend und ihren Auftritt. Das Thema 'Feuer' passt zu ihr und dem Treffen. Es würde ihm seltsam vorkommen, wenn sie sich mit anderen Dingen beschäftigen würde.
"Das machst du doch aber nicht beruflich, oder?"
"Nein, gehört aber irgendwie dazu. Tagsüber kontrolliere ich Brandmelde- und Feuerbekämpfungsanlagen und nachts lösche ich brennende Fichten."
Matz versucht Anja weiter auszufragen. Sie interessiert sich jedoch mehr für die seltsame Einrichtung des Hauses und klopft mit den Fingern an ein umgedrehtes Gurkenglas, das mitten auf dem großen Küchentisch steht. In ihm dreht sich fortwährend ein spiralförmiges Gebilde, das einem Erdbohrer sehr ähnlich sieht. Die Schraubenfläche rotiert um ein feststehendes Mittelteil, das an seinem Ende eine Kamera und drahtige Sensoren trägt, die kleinen, borstigen Haaren gleichen. Was sind da für Geräte, die Matz in seinem Haus gefangen hält? Auf ihrer Stirn bilden sich leichte, kaum sichtbare Falten. Sie überlegt, findet jedoch keine einfache, zufriedenstellende Erklärung.
"Und was machst du so?", fragt sie unvermittelt, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, etwas von sich abzulenken. Seit dem Augenblick, in dem sie Matz in der Tür erkannte, interessiert sie, warum sie ihn bisher nicht im Ort wahrgenommen hat. Außerdem möchte sie mehr über diese rätselhaften Einrichtungsgegenstände wissen.
"Im Prinzip bekämpfe ich auch Brände --- technologische, verstehst du?", antwortet Matz zurückhaltend und vorsichtig, da sie immer noch mit Erstaunen die Erddrohne in ihrem Glas beobachtet. Diese hat die Rotationsrichtung geändert und richtet ihr Kameraauge auf Anja. Erschrocken zieht sie ihre Hand vom Glas zurück und mit dem Stuhl rückt sie etwas vom Tisch ab.
"Nee, verstehe ich nicht. Was sind das für Dinger? Haben die Techno-Feuer mit denen zu tun?"
Matz lacht auf: "Techno-Feuer klingt gut!", und fügt hinzu: "Ja, darum geht es. Wenn so etwas dich belästigt, dann rufst du nach mir und ich befreie dich."
"Natürlich tust du das", jetzt lacht auch Anja. Daran, dass diese kleinen Technikteile bedrohlich sind, kann sie nicht glauben. So groß ihr Interesse auch ist, sie bemerkt, dass er vorsichtig ist, ihr nicht alles dazu sagen möchte - nun, wenn nicht heute, dann beim nächsten Treffen. Bis dahin werden nicht noch einmal Jahre vergehen, ganz sicher nicht.
"Du, sage einmal, gibt es hier nichts zu trinken? Heute ist Feiertag!"
"Oh, Anja, entschuldige. Du hast mich so gefangen genommen, dass ich vollständig abgelenkt war."
Matz freut sich, dass er vorerst nichts weiter zu seiner Beschäftigung erklären muss. Nichttechniker sind im Allgemeinen von technischen Erklärungen und Details gelangweilt und das möchte er Anja nicht antun. So beschäftigt er sich mit der Bereitung von Glühwein und erzählt ihr etwas über den neugierigen Hund des Winzers, auf dessen Hof er den Rotwein gekauft hat. Den Anlass seines Besuches dort verschweigt er ihr vorerst. Während er mit Töpfen und Gläsern klappert, raschelt es deutlich hörbar im Wandschrank. 'Dort ist Attila also!', denkt Matz und sieht besorgt zu Anja hinüber. Hat sie das Geräusch ebenfalls vernommen? Hat sie - immerhin war es laut genug. Da auf dem Wandschrank auch gläserne Gefängnisse mit technischen Artefakten stehen, scheint es sie nicht zu beunruhigen. Sie ordnet das Rascheln offenbar einem dieser weiteren, seltsamen Geräte zu.
"Warum bist du eigentlich zu mir gekommen?", fragt Matz, während er die Gläser mit dem dampfenden Wein auf den Tisch stellt: "Ich freue mich sehr, dass du hier bist. Und ganz im Ernst: ich hätte nach den Weihnachtstagen intensiv nach dir gesucht. Die Vorstellung gestern Abend hat mich fasziniert."
Anja sieht in belustigt an: "Genau deshalb bin ich hier."
"Weil ich dich suchen wollte? Das nenne ich einmal Gedankenübertragung."
"Leider nein: Es ist der verbrannte Baum, die Fichte, die mich hierher bringt. Ich möchte den Verursacher des Brandes finden."
"Ah! Deshalb auch die Uniform der Feuerwehr. Ich weiß nicht, ob ich es gut finden werde, wenn du etwas anderes trägst..."
Anja lächelt: "Nun 'mal im Ernst. Weißt du, wer den Baum entzündet hat?"
Im Wandschrank raschelt es zum zweiten Mal sehr intensiv. Ein Gefäß fällt in ihm zu Boden und zersplittert klirrend. Die Bruchstücke rasseln noch einige Sekunden über den gefliesten Boden im Schrank. Beide wenden sich augenblicklich dem Schrank zu. Dieser ist in eine Nische des Raumes gebaut und macht einen unscheinbaren und unverfänglichen Eindruck. Matz, der den Grund und Verursacher des Geräusches kennt, beobachtet vorsichtig und aus den Augenwinkeln Anjas Verhalten. Diese sieht den Schrank ungläubig an, hat auf ihrer Stirn wieder kleine Falten entstehen lassen und scheint gedanklich eine Frage vorzubereiten. Schnell deutet Matz ihr an, noch etwas zu warten und kommt ihr mit einer Frage zuvor.
"Sage einmal, was geschieht denn hier bei uns im Spreewald mit jemandem, der Bäume anzündet?"
Die etwas lauter gestellte Frage, sein Lächeln und die Lachfältchen neben den Augen bedeuten ihr, dass sich jemand im Schrank versteckt. Offensichtlich der Brandstifter, der sich vor ihr, dem Vertreter der Feuerwehr, ängstigt. Natürlich spielt sie mit und antwortet auch etwas lauter.
"Baumfrevler werden bei uns dem Nix geopfert...", weiter kommt sie nicht in der Ausführung ihres Scherzes.
"... DEM Nix?!", spricht plötzlich der Wandschrank.
In dem Ausruf schwingt ernste Besorgnis mit. Es wird unruhig in dem Einbaumöbel. Ein schwerer, metallener Topf fällt herunter. Die Bodenberührung seines Deckels dröhnt aus dem Schrank gleich einem Gongschlag. Er sprengt beide Schranktüren auf und Attila fällt in den Raum hinein, kippt auf den Fußboden und bleibt bewegungslos auf den Fliesen liegen. Beide Hände bedecken die Ohren. Matz tritt an ihn heran und bückt sich. Es ist nicht klar, ob Attila sich die Ohren zuhält, weil das Dröhnen des Topfdeckels noch in seinem Kopf nachhallt, oder weil er nichts mehr über die Strafen für Baumzündler und den Nix hören möchte. Er liegt auf dem Rücken, hat die Augen geschlossen und rührt sich nicht mehr. Matz legt seinen Kopf neben den von Attila auf den Boden und lauscht. Es sind keine Atemgeräusche zu vernehmen. Vielen Tieren hilft die Totmannstellung, Gefahrensituationen unbeschadet zu überstehen. Attila ist, durch welchen seltsamen Gedankengang auch immer, zu der gleichen Meinung gekommen und hofft so einer Strafe zu entgehen. Es ist ein letzter, verzweifelter Versuch, den Tatsachen und Folgen seiner Handlung zu entfliehen. Inzwischen hockt Anja auf der anderen Seite neben Attilas Kopf. Er liegt zwischen ihr und Matz auf dem Boden und rührt sich immer noch nicht. Beide können sich ein lautes Lachen kaum noch verkneifen. Sie hält sich mit der linken Hand den Mund zu und stupst mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen Attilas Schulter. Die Berührung bringt plötzlich Leben in den Liegenden. Hechelnd versucht er das Sauerstoffdefizit auszugleichen. So mischen sich keuchende Atemgeräusche mit lautem Lachen.
"Hhhhhch - was - chhhh - gesch - hhhrch - ieht jetzt mit dem Baum?", fragt Attila immer noch außer Atem.
Er hat sich auf den Rücken gedreht und sieht die beiden Lachenden an, die links und rechts von ihm hocken.
"Gar nichts, der ist weg, für immer", antwortet Anja trocken und versucht zumindest etwas von einem ernsten, strengen Ausdruck in ihre Stimme zu legen.
Das war nicht wirklich die erwartete Antwort. Vorsicht verbot ihm die Frage zu stellen, die ihn bewegt: 'Was geschieht jetzt mit mir?' Trotzdem liegt sie, ausgesprochen oder nicht, für alle hörbar im Raum.
"Zuerst einmal wirst du dich auf dem Amt anmelden ...", schlägt Matz vor.
"... und dann gehst du zur Feuerwehr und übernimmst die Verantwortung", ergänzt Anja.
Attila atmet hörbar aus und setzt sich auf. Er sieht abwechselnd nach links und nach rechts.
"Dann werde ich das tun, werde ein legaler Spreewaldeinwohner und den Baum werde ich auch bezahlen - irgendwie."
Matz staunt, das ging jetzt aber sehr schnell. Die Entscheidungsfreudigkeit des ehemaligen Politikers ist offensichtlich geblieben: Nicht unbedingt eine schlechte Eigenschaft. Er gibt Attila die Hand und zieht ihn in die Höhe.
"Komm, setzt dich zu uns an den Tisch. Du bekommst auch ein Glas vom Glühwein, zur Auflockerung."
Anjas Gesichtsausdruck verrät, dass sie wieder über irgendetwas intensiv nachdenkt. Sie betrachtet Attila. Er kommt ihr bekannt vor, sie scheint sich an ihn zu erinnern, kann ihn jedoch nicht zuordnen.
"Sage einmal, woher kenne ich dich eigentlich?"
"Um es abzukürzen: aus dem Fernsehen. Eventuell auch von einer Wahlveranstaltung - aber nein, ich glaube du zähltest nicht zu den Anhängern der Käsekuchenverschwörung..."
"Käsekuchenverschwörung?", fragen Anja und Matz gleichzeitig.
"Ja, so haben wir uns im inneren Kreis der Parteiführung selbst bezeichnet."
Anja ist deutlich anzusehen, dass sie Attila jetzt zuordnen kann.
"Du bist der untergetauchte Spitzenkandidat, nach dem die Zeitungsleute zwei Monate gesucht haben! - Matz, ich bin erstaunt, wer und was sich bei dir alles findet!"
"Ja, darüber staune ich selbst immer wieder."
"Und jetzt willst du hier im Spreewald bei uns wohnen? Den Unfug mit Partei und Politik veranstaltest du doch hoffentlich hier nicht wieder, oder?", fragt Anja und klingt etwas besorgt.
"Ach, Politik ist eh' Murks, das braucht doch kein Mensch wirklich!", ist Attilas ehrlich klingende Antwort, die abermals Matz erstaunt.
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Der Glühwein ist getrunken und Anja geht, nicht ohne, dass Matz sie zu einem Essen eingeladen hat, natürlich gleich zum Abend des zweiten Feiertages. Zum Abschied küsst Anja ihn auf die Wange. Anschließend weiß Matz nicht, ob er das nächste Treffen überhaupt soweit hinausschieben möchte. Schon ein Tag erscheint ihm zu lang. Attila ist beruhigt, die Affäre um den Baumbrand ist glimpflich ausgegangen und er hat gleichzeitig das Gefühl, endlich angekommen zu sein, eine vernünftige Entscheidung getroffen zu haben. Träumend blickt er durch die Fenster der Küche in den trüben Mittag, der sich nur unwesentlich vom Morgen des Tages unterscheidet. Sein Hirn beginnt sofort wieder zu arbeiten und entwickelt Ideen für eine möglichst spaßige Ausführung der Renovierungsarbeiten.
"Was meinst du Matz, kann man mit dem Hochdruckreiniger Wandfarbe versprühen?"
"Ist die Frage jetzt ernst gemeint?"
"Ja, natürlich! Das würde viel schneller gehen und außerdem wäre es technologisch revolutionär..."
"... wie der Weihnachtsbaumbrand? Du solltest das wirklich lassen - es zerstört dich, frisst dich auf...", ergänzt Matz lächelnd und ernst gleichzeitig.
Er ist sich dieses Mal wirklich sicher, dass Attila auf die klassische und manuelle Art renovieren wird.