Attila startet

Die Natur macht keinen Sprung.

Carl von Linné

Polternd kracht der Rollwagen gegen die Tür und schiebt sie auf. Zuerst hört Matz das blecherne Scheppern der neuen Berge an Technik, die Attila zusammengetragen hat, dann sieht er sie. Nach der deutlichen, akustischen Vorbereitung bleibt das visuelle Erschrecken aus. Matz ist vorgewarnt und bleibt in seinem bequemen Sessel sitzen. Auf dem kleinen Servierwagen, den Attila in den Raum schiebt, sind alle drei Ablagen mit technischen Artefakten verschiedenster Typen, zeitlicher Herkunft und Nutzungsmöglichkeiten belegt. Den Wagen selbst dekorieren einige Kameras. Mit Hilfe kleiner Gestelle sind sie an ihn geschraubt und zeigen alle in eine Richtung: auf den Christbaum im Cyberpunk-Kostüm. Ihre Verbindungskabel führen in ein Aufzeichnungsgerät, das den rot blinkenden Leuchtdioden nach zu urteilen, bereits eingeschaltet ist. Während Attila den Wagen in den Raum schiebt, scheint er bereits über den Laptop, den er auf der oberen Ablage platziert hat, die Aufnahmen zu kontrollieren. Die Position des rollenden Kommandozentrums korrigiert er wiederholt, um zu jedem Zeitpunkt gute Bilder zu bekommen. Matz mustert verwundert die Technikzusammenstellung. Den Zweck, den das altertümliche Oszilloskop erfüllen soll, kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die Braunsche Röhre in ihrem langen, hohen Gehäuse ist zwischen zwei Funkfernsteuerungen eingeklemmt. So schwankt das Oszilloskop nur leicht bei den Bewegungen des Wagens. Als Attila das Gefährt an Matz vorbeirollt, kann dieser sehen, dass das Gerät noch ausgeschaltet ist. Über die kleine Drohne, die auf der mittleren Ablage liegt, wundert sich Matz nicht. Dann fällt sein Blick auf die beiden Wurfanker, die rechts und links an der Seite des Rollwagens hängen. Ob ihres Gewichtes schaukeln sie bei dem schlingernden Rollkurs, dem Attila mit dem Gefährt folgt, nur langsam hin und her. Ihre Masse wirkt dämpfend. Matz kann sich nicht vorstellen, dass sein Gast zwei schwere Teile aus Gusseisen aufgrund dieser Wirkung an den Wagen montiert hat und nun in das Wohnzimmer transportiert, obwohl er ihm inzwischen alle unmöglichen Ideen zutraut.

"Sage einmal Attila, was willst du denn mit dem haarigen Strick und den beiden Ankern anstellen?", fragt er aus seiner sicheren Beobachtungsposition heraus.

"Hallo Matz, da bist du - ich habe dich schon gesucht."

Attila steuert auf den Sessel zu. Seinem Gastgeber ist das ein wenig zu schnell. Die Massen an Technik und Metall, die sich auf ihn zubewegen, sind etwas zu heftig. Er lässt sich tiefer zwischen die hohen Armlehnen sinken und betrachtet besorgt die Bewegung Attilas. Dieser lässt sich nicht beirren - steht der Start der Feierlichkeiten doch direkt bevor und er ist wirklich gut vorbereitet.

"Du meinst die beiden Eisenteile mit dem Seil daran?", spiegelt Attila die an ihn gerichtete Frage. "Die sind zur Sicherung des Baumes in Notfällen. Falls er ins Wanken gerät, kann ich ihn mit dem Lasso-Anker-Trick in der Senkrechten halten."

"Das willst du doch nicht wirklich hier im Wohnzimmer veranstalten?", kommt es fragend aus dem Sessel - Matz duckt sich instinktiv in den Sessel.

"Wenn's sein muss, warum nicht? Außerdem kann ich mit den Teilen die Drohnen einfangen, die nicht mehr meinen Befehlen gehorchen. Das ist dann der Lasso-Morgenstern-Trick."

Matz versinkt ganz im Sessel. Er möchte am liebsten auch noch mit dem Kopf zwischen die hohen Armlehnen tauchen, um vollständig aus der Reichweite der Technik zu gelangen, die Attila in diesem Augenblick gefährlich nahe an ihn heranrollt. Zu seiner großen Enttäuschung gelingt ihm das nicht, dazu ist der Sessel zu klein.

"Das ist aber ganz schön gefährlich, was du hier vorhast!"

"Och, eigentlich nicht!", antwortet Attila sehr selbstsicher: "Ich muss das ja nur in Notfällen einsetzen und wenn, dann bin ich das Zentrum, um das die Metallmasse rotiert. Mir kann da nichts passieren - die schweren Teile streben im Fall der Fälle von mir weg."

"Ja aber ich bin nicht in diesem Zentrum, ich bin da, wo der Anker rotiert oder einschlägt, wenn er freikommt."

"Ach, der 'elemec' ist doch nicht etwa ängstlich! Du musst nur schnell aus dem Zimmer laufen oder springst einfach gleich aus dem Fenster. Dir kann gar nichts geschehen."

Attila ist sich seiner Sache sehr sicher. So, wie er den gesamten Ablauf geplant und vorbereitet hat, kann einfach nichts falsch laufen. Er stellt den Rollwagen in eine günstige Position, in der die an ihm befestigten Kameras den Cyberpunk-Baum gut in ihrem Aufnahmebereich haben. Einige Schritte zurücktretend, begutachtet er den gewählten Standort. Matz freut sich über die Unterbrechung im Lauf des Wahnsinns und befragt Attila nach seiner Fortbewegung im Haus. Natürlich hat er die Hoffnung, dass ihn das ablenkt und vielleicht sogar von seinem Plan abbringt.

"Wie hast du dich eigentlich durch das Haus bewegt? Immer wieder kam es mir so vor, als ob du von der einen Seite auf die andere innerhalb von Sekunden gesprungen bist. Das waren doch keine Raum-Zeit-Sprünge, oder? Und wie konntest du den Rollwagen so weit in der kurzen Zeit bewegen?"

Attila sieht Matz an und überlegt. Die Fragen bringen ihn aus dem Konzept, lenken ihn wirklich von seinem großen Plan ab. Sprünge? Was war so besonders an seiner Suche nach Technikteilchen gewesen? Er kann sich nicht erinnern, etwas anders als sonst getan zu haben. Bereits in den vergangenen Tagen war er vielfach im Haus hin und her gelaufen, um Hilfsmittel und Teile für die Baumdekoration zu beschaffen. Die Suche ist nicht immer einfach, da Matz die Beutestücke wie Kunstwerke über das ganze Haus verteilt. Der lässt dabei keine Systematik walten, sondern orientiert sich an seinem Bauchgefühl. So muss sich Attila die Standorte aller Artefakte einprägen und wenn er ein bestimmtes Teil benötigt, sein Hirn wie ein Navigationsgerät arbeiten lassen. Inzwischen hat er eine sehr gute Vorstellung von der Verteilung der Museumsstücke. Er hat Matz bereits angeboten, als Führer für Gäste zu arbeiten. Sein Gastgeber lehnt dies natürlich immer mit der Begründung ab, dass er keine Besucher auf dem Hof wünscht. Er verweist dabei jedes Mal auf die mehr oder weniger geheimen Dienste, vor denen er anschließend flüchten müsste. Seine Sammlung enthält viele Stücke, an denen diese großes Interesse haben würden. Sei es nur, weil sie einige Artefakte zurück haben wollen, die sie nie hätten in die Freiheit entlassen dürfen.

Matz unterbricht Attilas Gedankengänge.

"Die Sprünge! Wie hast du die denn nun bewerkstelligt?"

"Du Matz, ich bin ab und zu das Treppengeländer hinabgerutscht. Das spart Zeit und ich kann die Gedanken und Ideen nicht aus dem Kopf verlieren. Du weißt doch, vom vielen Gehen entleert sich immer mein Hirn - das muss irgendwie mit meiner Politikerkarriere zusammenhängen... Ach ja und gesprungen bin ich schon: Von einem Treppenabsatz auf den nächsten. Zum Glück hast du da keine Läufer, so kann man dabei nicht ausrutschen."

"Das ist alles?", fragt Matz ungläubig.

"Nein, nicht ganz. Ich habe außerdem drei unterschiedliche Rollwagen genutzt, um das Gefährt nicht von Etage zu Etage tragen zu müssen. Auf jeder hatte ich einen anderen Wagen."

"Ach - und ich dachte schon...", fällt Matz seinem Gast schnell ins Wort.

Er richtet sich in seinem Sessel wieder auf. Aus seiner Sicht entspannt sich die Bedrohungslage gerade. An die Möglichkeit von Raum-Zeit-Sprüngen, zumindest in Zusammenhang mit Attilas Bewegung im Haus, hat er nicht wirklich gedacht. Die Restwahrscheinlichkeit hat ihn zumindest beunruhigt. Technisch und prinzipiell ist so etwas bestimmt möglich. Wäre Attila bei seiner aktuellen Verfassung dazu fähig, dann würde das bedrohlich für ihre Umgebung sein. Jetzt hat sich die Angelegenheit als harmlos herausgestellt, der Rollwagen steht ruhig mitten im Raum und zwischen den Gerätschaften auf und an ihm und Attila sind einige, beruhigende Meter Entfernung entstanden. Es ist Zeit für die Vesper.

"Nun Attila, soll ich einen Tee bereiten und den Stollen anschneiden?", fragt Matz beruhigt und ungeduldig zugleich, während er sich im Sessel aufsetzt und aufsteht.

Er möchte sich erholen und Attila möglichst von weiteren Aktivitäten abhalten. Die Hoffnung auf Ruhe währt nur Sekunden und zerplatzt wie eine Seifenblase - lautlos und mit schillernden Tropfen, die in alle Richtungen sprühen und im Nichts verschwinden. Für Attila steht der Moment des ultimativen Höhepunktes kurz bevor. Er hat mehrere Wochen in diese eine Richtung gearbeitet. Jetzt muss es sein, in diesem Augenblick möchte er das große, leuchtende Finale der endlosen Bemühungen erzwingen.

"Ach nein, lass uns 'mal die Feierlichkeiten beginnen. Tee können wir auch noch danach trinken. Ich lege einfach 'mal los."

Noch bevor Matz etwas antworten kann, verbindet Attila bereits die elektrischen Geräte auf dem Rollwagen mit dem Stromnetz, die ihre Energie nicht aus Batterien beziehen. Natürlich sorgt ein Techniker in seinem eigenen Haus für eine ausreichende Anzahl an Steckdosen in jedem Raum. Attila muss also nicht weit laufen und keine langen Kabel ausrollen. Alles ist schön in Reichweite, schnell angeschlossen, leuchtet und summt betriebsbereit.

Abschließend breitet Attila theatralisch die Arme aus. Dabei scheint er zu wachsen, den großen Raum förmlich auszufüllen und zu leuchten. Alle Lichtquellen im Raum werden dunkler, als ob er ihnen an Strahlkraft nimmt. Matz ist verwirrt. So müssen die Wahlveranstaltungen abgelaufen sein: Von einer Bühne aus saugt ein mächtiger Spitzenkandidat alle Aufmerksamkeit, alle Energie des Saales auf. Er bindet die gesamte, mentale Kraft des großen Raumes und unterwirft sie seinem Willen. Tausende Augenpaare blicken nach oben und sehen einen Wahrheits- und Lösungsbringer, dessen strahlende Augen ihre Fragen majestätisch, wohlwollend spiegeln. Gleichzeitig fühlen sich alle Anwesenden umarmt, aufgefangen und geleitet. Matz ist sich nicht sicher, ob diese Fähigkeit angeboren ist oder lange und mühselig erlernt werden muss. Wahrscheinlich könnte Attila ihm das auch nicht beantworten - er ist irgendwie dazu fähig, hat solche Wirkung auf Menschen. Nein, sein Gast ist noch nicht geheilt, offensichtlich noch lange nicht. Wahrscheinlich muss Matz mit diesen Rückfällen immer wieder rechnen. Vor einigen Monaten hat Attila noch versucht, Menschen unter seine Kontrolle zu bringen. Jetzt ist es nur Technik. Nur Technik? In er falschen Kombination kann das viel gefährlicher werden - die Technik beginnt nicht irgendwann selbst zu denken und zu hinterfragen. Einem Menschen kann man nicht ewig 'etwas vormachen'. Technik hat keine Intelligenz, keine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und damit auch nicht zum Hinterfragen von Anweisungen. Ja, es gibt Ausnahmen, das weiß Matz nur zu gut. Aber über diese macht er sich keine Gedanken. Sind sie gut geschützt, ihre Existenz ist nur einer kleinen Anzahl von eingeweihten Menschen bekannt und den wahren Aufenthaltsort jeder 'künstlichen Intelligenz' kennt nur ihr Erschaffer. Freilich wird das Netzwerk immer größer und die wirklich überraschend einfachen Pläne zu Bau und Aufzucht kursieren seit über zwei Jahren im cyberspace Untergrund. Lange wird die reale Existenz von denkenden Maschinen kein Geheimnis mehr bleiben. Sein Besucher weiß davon nichts. Er ist einfach nur ein Meister in der Manipulation von Menschenmassen. Matz wird noch lange benötigen, um ihm zu zeigen, was ein normales Mitglied der Gesellschaft von einem Politiker unterscheidet. Ob der gestrandete Spitzenpolitiker das dann auch ein als lohnendes Ziel für seine eigene Entwicklung identifiziert, wird sich zeigen.

Attila blickt den Festbaum lange, fest und beschwörend an. Kurz bevor seine Hände die sich gegenüberliegenden Wände und sein Kopf die Decke berühren können, setzt er dem mentalen Wachstum ein Ende. Seine rechte Hand fällt herunter, bildet bei der Abwärtsbewegung eine Faust und schlägt auf einen großen, roten Schalter. Dieser war vor wenigen Jahren noch für den Nothalt einer überdimensionalen und höllisch lauten Presse zuständig. Jetzt liegt er auf der oberen Ablage eines Rollwagens und ist über einen dünnen Schaltdraht mit einem aberwitzig zusammengewürfelten Haufen Technik verbunden.

"So sei es!"

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Auf den metallenen Plattformen, die an den unteren, stärkeren Ästen befestigt sind, beginnt es zu fauchen. Laut knallend zünden mit Propangas betriebene Brenner und ausgehend von den Plattformen schlagen lange Flammenschwerter in den Raum. Matz gelingt es gerade noch rechtzeitig, den rechten Fuß aus einer der Flammen zu ziehen und die Socke vor der Entzündung zu retten.

'Jetzt ist es zu spät! Attila startet ein Raketentriebwerk und schießt den Baum mit Wucht durch die Decke', denkt er und versinkt wieder in seinem Sessel, so tief es ihm möglich ist. Er sieht bereits das Haus zerstört, ohne Dach und sich frierend in einer Ruine. Eine der Flammen beginnt knatternd zu stottern. Düstere Erinnerungen an die Challenger-Katastrophe schieben sich unweigerlich in Matz's Bewusstsein. Warum ist er Ende Oktober nur seinem humanistischen Rettungstrieb gefolgt und hat diesen tropfnassen Flüchtling aus den kalten Wassern des Spreewaldkanals gezogen ... denkt er voller Befürchtungen, verborgen in den Tiefen seines Sessels.