Am Wendepunkt
Lasst mich gehen,
Tambourette
Ihr Berge und Hügelein,
Lasst die Tambourette gehen,
Ich bin euch doch nur wie nutzloser Stein.
Zwei einsame Wanderer sind zu vorgerückter Stunde in den dunklen Wäldern des Dahmelandes unterwegs. Die nächsten, kleinen Dörfer liegen in allen Himmelsrichtungen mehr als fünf Kilometer von ihnen entfernt. Sehr wahrscheinlich sind sie die einzigen Fußgänger, die in der kühlen, klaren Novembernacht die Kiefern- und Bruchwälder entlang des schmalen Flusses durchstreifen. Um diese Zeit sind die Wildschweine die unumstrittenen Herrscher der Gegend. Die schweren und neugierigen Tiere suchen auch an diesem Abend die Auwälder an der Dahme nach genießbarer Nahrung ab. Die Uferwiesen an dem kleinen Fluss sind bereits von tiefen, braunen Furchen durchzogen, in denen sich hier und da Wasser sammelt. Zum Ende des Herbstes wird die Welt des Dahmelandes feuchter. In der Sommerhitze stauben die Wälder und der gelbe, feine Sand des Bodens ist so trocken wie das Innere einer Sanduhr. Jetzt, da die Sonne ihrem tiefsten Stand im Jahr entgegen strebt, riecht der Wald feucht nach Pilzen und in den Niederungen sammelt sich das Wasser. Es ist genau die matschige Landschaft entstanden, die Wildschweine lieben und Menschen meiden.
Der unscheinbare Mann, der in einen hellen Trenchcoat gekleidet ist, tritt platschend in ein Wasserloch neben dem Weg. Schmutziges, schlammiges Wasser spritzt nach allen Seiten. Im fahlen Licht des Halbmondes ist davon kaum etwas zu sehen. Dafür ist deutlich der faulige Geruch des Morastes zu spüren. Der Mann ist nur einen Schritt von dem schmalen Sandstreifen abgekommen, auf dem er mit einem abenteuerlich gekleideten, kleinen Mädchen wandert. Er hat sich von den Erzählungen des Kindes ablenken lassen, wurde in der Dunkelheit nachlässig und achtete für wenige Augenblicke nicht auf den Weg. Mit einem schmatzenden Laut gibt der moderige Boden der Wildschweinsuhle seinen Fuß wieder frei. Zu seinem Glück ist er nur am äußersten Rand in die mit Wasser gefüllte Vertiefung getreten.
"Iiiih! So ein Mis..., äh, Matsch!", instinktiv vermeidet er das Fluchen im Beisein eines Kindes.
Der Mann stakst übertrieben aus dem Gras und Laub des Wiesenrandes auf den Sand des Weges zurück. Dabei hebt er die Knie bis in Höhe des Gürtels. Trotz des wenigen Lichtes kann das Mädchen den Storchengang deutlich sehen und kichert leise. Dann sieht es ihn besorgt an.
"Oh Gott, hast du jetzt einen nassen Fuß?"
"Nein, bestimmt nur einen schmutzigen Schuh. Meine hohen Schuhe sind zum Glück wasserdicht. Die sind ein magisches Produkt. Luft kommt hinein und hinaus, Wasser nur als Dampf hinaus", erklärt er dem Kind an seiner Seite.
"Dampf? Du hast so heiße Füße?"
Der Mann denkt nach. Natürlich hat das kleine Mädchen nie eine Schule besucht. Die Aggregatzustände des Wassers und deren Physik können ihm nur aus seiner Erlebniswelt bekannt sein. Wie soll er mit einfachen Worten umschreiben, dass sich Wassermoleküle in der Luft befinden können?
"Ich meine den Schweiß, der kommt bei meinen Schuhen von innen nach außen. Damit habe ich immer trockene Füße."
"Dann bin ich beruhigt. Nasse Füße bringen in dieser Jahreszeit einen Schnupfen ein."
Beide sind stehen geblieben und betrachten zum wiederholten Mal das silberne Band des Flusses, das sich durch die vom Mondlicht beschienenen Wiesen schlängelt. Dort, wo die Wiesen etwas breiter sind, ist auch der Nebel über den Wassern der Dahme dichter geworden. Es wird langsam kälter und das Wasser verlässt die Luft. Das Mädchen unterbricht die Andacht mit einer vorsichtig vorgetragenen Bitte.
"So viele Schritte habe ich dir von den Erlebnissen der Tambourette berichtet. Du hast geschwiegen. Nun möchte ich gern wissen, warum du zu so ungewöhnlicher Zeit in den Auen des Dahmelandes wanderst. Erzählst du es mir?"
Der Mann überlegt einen Augenblick. Dann zieht er mit einem Ruck die Gurte der beiden, länglichen Futterale fest, die kreuzweise auf seinen Rücken geschnallt sind. Es sieht aus, als ob er zu einer Entscheidung gekommen ist und diese mit einer körperlichen Handlung bestätigen möchte.
"Also gut...", beginnt er zu erzählen und fährt nach einer kurzen Unterbrechung fort, während der er tief einatmet: "... überall im Land nennt man mich 'Der Maler'."
Laut und kurz stößt er die Luft wieder aus, die er zuvor eingeatmet hat. Damit ist es geschehen: Er hat sich offenbart, seine Tarnung verlassen. Ob der unzähligen, illegalen Handlungen, die er in den vergangenen Jahren ausgeführt hat, erwartete er eine erschrockene Reaktion des Mädchens. Genau diese bleibt jedoch aus. Es sieht ihn nur interessiert an, zupft am rechten Ärmel seines Mantels und fordert ihn auf, weiter zu erzählen.
"Ja, hast du denn nicht von mir gehört? Ich kennzeichne Verbrecher, böse Menschen, Lügner und andere gefährliche Zeitgenossen mit einer orangen Warnfarbe, damit jeder sie erkennen kann. So möchte ich das Leben auf dieser Welt einfacher und harmonischer machen - ein wenig."
"Du bemalst sie? Das lassen sie sich gefallen?", fragt die Tambourette ungläubig dazwischen.
"Nein, natürlich benutze ich keine Farbeimer und Pinsel. Dazu habe ich die beiden Paintball-Gewehre, die ich auf dem Rücken trage."
Zur Untermalung seiner Erklärung schlägt er mit beiden Händen an den Enden der Futterale, die über seine Schultern emporragen. Das Mädchen bleibt abrupt stehen und tritt einen Schritt von ihm hinweg. Er kann ihre großen, vor Schreck geweiteten Augen sehen, in denen sich die beleuchtete Hälfte des Novembermondes spiegelt.
"Gewehre?", haucht sie leise und ängstlich in die Richtung des Mannes, den sie begleitet.
Ob der Angst, die er damit heraufbeschworen hat, ist der Maler nun selbst erschrocken. Langsam wird ihm bewusst, was dieses Mädchen im Laufe der Jahrhunderte erlebt haben muss. Die Geschehnisse, die sie sah, sind immer wieder von Kriegen geprägt worden, auch im Dahmeland. Auf ein Gemetzel folgte das nächste, immer und immer wieder sinnloser, gewaltsamer Tod. Sie ist im schrecklichen, Dreißigjährigen Krieg hier eingetroffen, hat die fortwährenden Auseinandersetzungen zwischen Sachsen und Preußen erleben müssen, war während der napoleonischen Kriege hier. Das mit Abstand schrecklichste Erlebnis muss jedoch der Kessel bei Halbe zum Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen sein. Ein grausameres Massensterben in so kurzer Zeit hat diese Gegend nie erlebt und die Tambourette war mitten in dieser Apokalypse. Sie musste alles mit ansehen, konnte nicht fliehen, nicht sterben, nichts tun. Natürlich hat sie Angst vor Gewehren. Waffen müssen für das ewige Kind die schlimmste, menschliche Errungenschaft sein, sind sie doch nur zur gegenseitigen Vernichtung ersonnen worden. Der Maler fühlt, dass er das Kind beruhigen muss.
"Nein, es sind nur Spielzeuge. Sie versenden kleine Farbkugeln, sonst nichts weiter."
Er befördert aus einer seiner Manteltaschen zwei kleine, orange Paintball-Kugeln hervor und legt sie der Tambourette in die Hand. Sie betrachtet vorsichtig die kleinen Bälle.
"Die sehen aus wie die Kaugummikugeln, die mir eine Freundin schenkte. Sie sind nur viel weicher. Ich kann sie zusammendrücken."
Die elastische Kugel kann dem prüfenden Druck der kleinen Kinderfinger nicht standhalten. Sie zerplatzt und Farbe rinnt dem Mädchen an der rechten Hand hinunter. Das betrachtet erstaunt die Tropfen der Flüssigkeit, die seine Hand verlassen und auf den Sand des Weges fallen. Bevor es seine Jacke mit der Farbe beflecken kann, nimmt der Maler ein Tuch aus der Tasche und wischt diese von der Hand.
"Ist deine Hand wieder trocken?"
"Ja, sie fühlt sich so an. Was für eine Farbe ist das?"
"Die orange Flüssigkeit ist nur Lebensmittelfarbe. Du kannst sie sogar essen."
"Das schmeckt und macht mich satt?"
Die Tambourette hat die zweite Kugel auf der Fläche ihrer kleinen, rechten Hand gelegt und streckt diese dem Maler entgegen. Sie hat Hunger und überlegt, ob der kleine Ball diesen stillen kann.
"Nein, ganz sicher beides nicht", antwortet der Maler beruhigt. Die Tambourette hat ihre Angst bereits überwunden und fragend fügt er hinzu: "Du hast Hunger?"
"Ja, ich würde schon gern etwas essen. Nur sind meine Taschen leer. Nicht einmal ein Krümel des letzten Brotes ist darin verblieben. Das nächste, bewohnte Haus liegt viele Schritte von uns entfernt."
Der Maler überlegt. Seine Flucht begann er überraschend, plötzlich. Somit hat auch er nichts zum Essen mitgenommen. Über den gesamten Tag verspürte er keinen Hunger, die schnelle Folge der Geschehnisse hat ihn kaum denken lassen. Erst auf der gemeinsamen Wanderung mit der Tambourette kommt er zur Ruhe und diese bringt jetzt auch bei ihm das Hungergefühl zurück. In Gedanken geht er den Inhalt all seiner Taschen durch. In der linken, inneren Brusttasche seines Mantels wird er virtuell fündig. Dort hat er vor fünf Jahren eine flache Metallschachtel versteckt. Auf der letzten Familienfeier, die er besuchte, hatte ihm ein entfernter Verwandter die Blechdose gegeben: Trockenkekse aus der Notration der Nationalen Volksarmee. Die steckten damals in jedem Sturmgepäck. 'Wenn du so richtig hungrig bist, ist das besser als Manna!', hatte der bereits leicht angetrunkene Ruheständler das überlagerte Produkt aus der Zeit des Kalten Krieges gelobt. Er schwenkte unkontrolliert mit einem flachen Metallkästchen, das einer Zigarrenverpackung ähnlich sah, vor dem Gesicht des Malers herum, der sich aufmerksam bemühte, seine Nase vor Kratzern zu schützen. Zusätzlich erzählte der bierselige Verwandte viel zu viel über die aus seiner Sicht letzte, richtige Armee dieser Welt. Dem Maler wurde von dem Gequassel und dem Alkoholdunst ganz wirr im Kopf. Er wollte den Parapseudomilitär so schnell wie möglich allein lassen. Also nahm er das kleine Metallkästchen mit den gepressten Trockenkeksen, steckte es schnell in seinen Mantel und verließ wortlos und ohne Gruß die Feier. Seit diesem Tag nimmt er an keiner Zusammenkunft der Großfamilie mehr teil. Den Inhalt der Manteltasche hat er bis heute erfolgreich ignoriert. Zu seinem Glück hat er nie in irgend einer Armee dienen müssen. Seine angeborene Unauffälligkeit bewahrte ihn davor, sie versteckte ihn sogar vor den Computern und Werbern des Militärs.
"Ich denke, ich habe etwas bei mir, das uns sättigen kann."
Er trägt dies vorsichtig vor, um nicht allzu große Hoffnungen bei dem hungrigen Mädchen zu wecken. Zusätzlich klingt seine Aussage ein wenig nach einer Frage.
"In den langen Säcken auf deinem Rücken sind also doch keine Gewehre, sondern Baguettebrote!"
"Nein - nicht wirklich."
Der Maler greift in die Innentasche seines Mantels. Er fühlt wirklich die flache Blechdose. Zufrieden zieht er das Kästchen hervor, das ihn dort seit fünf Jahren begleitet und zeigt es der Tambourette.
"Da sind Kekse drin."
"Von dem wenigen Gebäck sollen wir satt werden?", fragt die Tambourette ungläubig.
In den Worten des Mädchens schwingt leichte Enttäuschung mit. Es nimmt die kleine Schachtel in die Hand und wendet sie hin und her. Ein vergilbtes Stück Papier klebt auf der Unterseite. Es weist als Produktionsdatum einen Tag des Jahres 1986 aus. Damit handelt es sich um nahezu prähistorische Kekse: gebacken vor 27 Jahren. Zum Glück kann die Tambourette nicht lesen und im Dunkel der Novembernacht ist dies auch dem Maler nicht möglich. Neben ihnen, am Rande der Wiese, steht eine Bank, die zu anderen Jahres- und Tageszeiten Wanderern als Ruhepunkt dienen soll. Der Zufall und der Tourismusverband haben sie dort vor einigen Jahren aufgestellt. Von ihr aus kann man über die Wiese und auf den Fluss sehen. Beide Wanderer nutzen die Einladung der einsamen Sitzgelegenheit für ihr gemeinsames Abendessen. Die Tambourette öffnet die Schachtel, und gibt dem Maler einen der Kekse. Sie beobachtet vorsichtig abwartend, wie er diesen in den Mund steckt und kaut. Das Gebäck schmeckt scheußlich, seifig. Die Krümel quellen nach und nach im Mund auf und füllen diesen aus. Natürlich lässt er sich nichts anmerken.
"Hmm, ja, geht", murmelt er mit vollem Mund.
Der Hunger siegt über die Vorsicht und die Tambourette nimmt ebenfalls einen Keks aus der Blechdose. Es gelingt ihr nicht, davon ein Stück abzubeißen. Eventuell ist es das Alter des Gebäcks oder es liegt an dessen Komprimierung - das Mädchen ist gezwungen, den Keks unzerteilt in den Mund zu schieben und aufzuweichen. Einige Minuten sitzen der Maler und die Tambourette schweigend nebeneinander. Andächtig kauend betrachten sie die nächtliche Fluss- und Wiesenlandschaft, die nach wie vor vom wenigen Mondlicht beschienen wird. Die Nebelschwaden sind wieder größer geworden. Sie verdecken inzwischen das Wasser vollständig und der Fluss schimmert nur noch an wenigen Stellen hindurch. Auf der Wiese vor ihnen, nur zwei Steinwürfe entfernt, rascheln und grunzen die wilden Schweine. Die schweren, schwarzen Tiere haben offensichtlich schmackhafte Wurzeln gefunden. Sie lassen sich von den beiden Menschen, die auf der Bank am Wiesenrand sitzen, nicht ablenken. Der Maler ist bereits nach dem zweiten Keks satt. Zumindest schüttelt er schweigend den Kopf, als das Mädchen ihm einen weiteren anbietet.
"Ich mag nicht mehr."
Mit einem: "Ich auch nicht", klappt die Tambourette die Metalldose zu und reicht sie dem Maler zurück. Dieser steckt die flache Schachtel wortlos wieder in die Innentasche seines Mantels, aus der er sie erst vor wenigen Minuten gezogen hatte. Er wird sie um weitere fünf Jahre ignorieren, bis die Erinnerungen an den scheußlichen Geschmack ihres Inhalts verblasst sind. Dass er noch in dieser Nacht auf weitere, absurde Überbleibsel des Kalten Krieges stoßen wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt nicht.
"Komm, lass uns die Rast beenden. Die alte Mühle ist nicht mehr weit."
Das Mädchen ergreift seine Hand und zieht ihn mit einem kräftigen Ruck von der Bank empor. Sie setzen ihre Nachtwanderung fort und wenige Meter weiter nimmt sie der dunkle Wald wieder auf. Sie tauchen in die Lichtlosigkeit zwischen den Bäumen und setzen vorsichtig ein Bein vor das andere. Die Tambourette nimmt das Gespräch wieder auf, das sie vor ihrer Rast unterbrochen haben.
"... und wegen dieser Kugeln aus Farbe wanderst du durch das Dahmeland?"
"Nein, oder doch?", der Maler weiß es selbst nicht genau: "Ich bin auf der Flucht, fliehe vor den Behörden, vor Verbrechern, vor Politikern, einfach vor allen, die anderen Menschen Freiheiten und Besitztümer nehmen wollen. Die kennzeichne ich mit den Farbkugeln und deshalb wollen sie mich fangen. Heute bin ich vor einem irren Geheimpolizisten geflüchtet. Der trägt einen langen, schwarzen Ledermantel und setzt oft eine Strumpfmaske - irgendwie verrückt und mächtig schießwütig."
"Leuchten seine Schultern und hat er einen kleinen, weißen Hund bei sich?"
"Du kennst den wahnsinnigen Geheimen?"
"Ich bin ihm begegnet - irgendwann - in Storkow."
Der Maler bleibt stehen. Storkow - das ist das Zwischenziel seiner Flucht! Wenn der Dacapo dort ist, sollte er nicht auch in diesen Ort gehen. Eine märkische Kleinstadt ist nicht weitläufig genug für sie beide. Das Mädchen ist bereits einige Schritte vor ihm, es hat nicht bemerkt, dass er zurückgeblieben ist.
"Herr Maler, wo bist du?", fragt die Tambourette plötzlich, als sie sein Fehlen zu ihrer Seite bemerkt.
"Sagtest du 'Storkow'?", ist seine Antwort aus dem Dunkel des Waldes.
"Ja."
"Das ist auch mein Ziel - wenn der wahnsinnige Dacapo noch dort ist, dann weiß ich nicht, wo ich mich hinwenden soll..."
Die restlichen Worte schlucken das Dunkel und der Nebel, der aus Richtung des Flusses langsam zwischen die Bäume kriecht. Die Tambourette ist auch stehen geblieben und wartet auf dem Weg, bis der Maler wieder neben ihr auftaucht.
"Du musst keine Angst haben. Ich habe ihn nach deiner Zeitrechnung vor mehr als einem Monat dort getroffen. Außerdem ist er harmlos, glaube mir. Das Verrückte an ihm ist alles nur eine Verkleidung."
"Hmm - wenn du meinst?", antwortet der Maler vorsichtig fragend.
Von der Harmlosigkeit des Dacapo ist er nicht überzeugt. Wer ihn bereits seit Jahren unermüdlich jagt, kann nicht ungefährlich sein. Seine 'Vergehen' sind maximal als Sachbeschädigung einzuschätzen. Niemand wird körperlich verletzt und die Farbe ist aus- und abwaschbar. Als Selbstjustiz kann seine Tätigkeit nicht wirklich gelten. Jedes Gericht würde nur ein 'DuDu!' aussprechen und ihm einige Stunden Sozialarbeit 'aufbrummen'. Aus welchem Grund ist bei dieser Sachlage ein wahnsinniger Geheimpolizist des Bundeskriminalamtes seit vielen Jahren auf der Suche nach ihm? Das scheint keinen Sinn zu ergeben. Soviel er auch darüber nachdenkt, er hat weder in der Vergangenheit eine Antwort gefunden, noch findet er sie in dieser Nacht.
****
Vor dem unscheinbaren Mann und dem kleinen Mädchen tauchen die Schemen alter Gebäude auf, die einen verlassenen, gespenstischen Eindruck machen. Nichts ist erleuchtet und bereits die Umrisse tragen Zeichen der Verwahrlosung und fehlender Pflege. Die Wanderer verlassen den sandigen Weg und betreten eine befestigte Straße. Sie sind wieder in einer zivilisierten Gegend angekommen, auch wenn keine Menschenseele zu sehen ist.
"Hier ist die alte Mühle. Ich habe gesehen, wie hier das Korn gemahlen und Bretter geschnitten wurden. In dieser - deiner - Zeit liegt sie verwaist."
"Von hier aus geht es nach Storkow?"
"Ja, du musst nur der Straße in dieser Richtung folgen - immer nach Osten - dorthin, wo morgen die Sonne wieder erscheinen wird."
Die Tambourette greift in die rechte Außentasche ihrer Jacke und holt aus dieser einen alten Taschenkompass hervor. Seine Messinghülle ist abgegriffen und glänzt schwach golden im fahlen Licht des halben Mondes. Sie streckt dem Maler abermals ihre kleine Hand entgegen, dieses Mal mit dem Kompass darauf. Die von der Bewegung unruhig pendelnde Nadel hat an der Nord-Seite eine Leuchtmarkierung, die schwach grün phosphoresziert. Die Nord-Markierung der Skala hat ebenfalls einen solchen Leuchtpunkt. Der Kompass ist ein Überbleibsel der letzten, großen Massenschlächterei, die das Dahmeland erlebte. Er gehörte einem der Wehrmachtsoldaten, die noch in den letzten Tagen des Krieges mobilisiert und von dem geistesgestörten Diktator in sinnloser Weise geopfert wurden. Der Maler sieht die schwache Gravur auf dem Deckel und erkennt sofort die Herkunft. Er zögert und möchte es nicht aus der Hand des kleinen Mädchens nehmen. Zu viele sinnlose Grausamkeiten sind mit seiner Herkunftszeit verbunden.
"Nimm es ruhig, sein Besitzer hat es mir kurz vor seinem Tod geschenkt, damit es wenigstens mich aus den Schrecknissen und der Gegend bringt. Jedoch auch dieses Gerät kann mir nicht helfen, das Dahmeland zu verlassen. Die Zeit hält mich hier für immer gefangen. Dir weist es jedoch den rechten Weg. Damit kannst du Storkow nicht verfehlen."
Schnell greift der Maler zu und steckt das Geschenk wortlos in eine Tasche seines Mantels. Gemeinsam gehen sie noch einige Meter auf der Straße, bis am Ende des Tunnels aus Bäumen ein leichtes Licht erscheint.
"Dort ist die Brücke über die Dahme und eine Schleuse. Unsere Wege trennen sich hier. Ich gehe in die Dubrow auf der anderen Seite des Flusses und wohl auch in eine andere Zeit. Du musst dich nun in die entgegengesetzte Richtung wenden, wenn du noch am heutigen Tag die Stadt Storkow erreichen möchtest."
Der unscheinbare Mann versteht instinktiv, dass dies ein endgültiger Abschied sein wird. Trotzdem fragt er das Mädchen nach einem Wiedersehen.
"Du, Tambourette, wird es ein weiteres Treffen geben?"
"Nein, auf meiner Wanderschaft habe ich noch keinen Menschen ein zweites Mal getroffen. Auch das scheint Teil meines Schicksals zu sein...", antwortet es traurig.
Das kleine Mädchen wendet sich um und geht auf die Brücke zu. Der Maler sieht ihm nach, bis es plötzlich mitten auf der Brücke verschwindet. Die Gestalt der Tambourette löst sich im Nebel über dem Fluss auf und wird eins mit dem Dahmeland und der Zeit. Diese transportiert sie in eine andere Epoche - aber vielleicht ist sie morgen wieder hier.
Langsam wendet sich der Maler um und wandert in Richtung Hermsdorf auf der Straße davon. Das Geschenk der Tambourette hilft ihm, sich nicht wieder zu verirren und die richtigen Wege nach Osten durch die Kiefernwälder des Dahmelandes zu finden.
Er passiert in der Dunkelheit den kleinen Ort Hermsdorf, dessen Lichter er in südlicher Richtung durch die Bäume scheinen sieht. Nach weiteren, einsamen Stunden im dunklen Wald trifft er erneut auf einen Ort: Bugk. In dem kleinen Dorf kreuzt der Weg, auf dem er läuft, eine breite Straße. Ein Hinweisschild bedeutet ihm, dass 'Storkow' nur noch wenige Kilometer entfernt ist. Nach den Stunden der Wanderschaft verspürt er keine Lust auf noch mehr Laufen und Bewegung. So stellt er sich einfach mitten auf die Straße und wartet auf den nächsten Wagen. Er wird ihn anhalten und sich eine Mitnahme erbitten.