Attila zögert
Je länger man vor der Tür zögert,
Franz Kafka
desto fremder wird man.
Bereits nach vierzig Minuten erreicht Attila, sicher geführt von Wegweisern, das Ortseingangsschild von Storkow. Den Pfad aus südöstlicher Richtung in die Stadt hinein, über Wendisch Rietz, kennt er noch nicht. Während seines kurzen Aufenthalts, der nur wenige Tage währte, ist er nie in diesen Teil der Stadt gekommen. Seit seiner Kindheit hatte er immer den Eindruck, alle Ortsschilder sind gerade so groß, dass der Name des Ortes beim Vorbeifahren noch erkennbar ist. Im Gegensatz dazu hat die große, gelbe Tafel bedrohliche und verwirrende Ausmaße. Es sieht beinahe so aus, als ob sie ihm den Weg in den Ort verwehren möchte. Mit jeder Millisekunde scheint das Schild weiter zu wachsen, um so näher er ihm kommt. Es fehlt nur noch, dass es ihm wirklich die Straße versperrt: gelb, gewaltig, undurchlässig. Ist die wahrgenommene Größe eine Folge seinen Erinnerung, oder ist das Schild in seinen Ausmaßen wirklich größer als sonst üblich? Attila irritieren seine Gefühle und Wahrnehmungen. Er fühlt sich von dem Schild in gleichem Maße bedroht und angezogen. So kommt er nicht umhin, einem Gedanken seines Unterbewusstseins zu folgen. Der Drohnenfänger holpert mit den rechten Rädern auf die Grasnarbe neben der Straße, bremst abrupt und kommt direkt vor dem Hinweiszeichen zum Stillstand. Einige Augenblicke betrachtet Attila die gelbe Bedrohung intensiv und vorsichtig. Dann steigt er aus und nähert sich bedächtig dem magischen Schild: Storkow! Auf der anderen Straßenseite, wenige Meter weiter, erkennt er Kreuzung und Kaserne wieder, an der der Bus vor einigen Tagen abbog und ihn aus der Stadt transportierte. Der Anblick erinnert ihn wieder schmerzlich an seine Flucht vor der penetranten Technik und die mit ihr verbundenen Ereignisse und Qualen.
Auch eine eingehende Inspektion des Schildes bringt keine Entscheidung. 'Matz muss in seinem Drohnenfänger doch einen Zollstock oder ein Maßband haben', ist ein Gedanke, der Attila eine weitere Beschäftigung gestattet, mit der er die eingeschlagene Richtung nicht verlassen muss. Sein Innerstes sträubt sich mit allen nur möglichen Gefühlsverwirrungen gegen das Betreten des Straßenabschnitts hinter dem Ortseingangsschild. So siegen vorerst Bedenken, Beharrungsvermögen und Prokrastination. Im Fond des Transporters sind auf beiden Seiten Regale angebracht. Grobe Stahlgerüste aus Locheisen tragen Böden aus starkem Sperrholz. Auf diese sind reihenweise seltsame Geräte geschraubt: blanke Kästen mit vielen Knöpfen, Schaltern und Drehreglern. Einige besitzen Displays und sind eingeschaltet. 'Hmm, habe ich gar nicht bemerkt. Die sind offensichtlich mit der Zündung gekoppelt und laufen immer, wenn der Schlüssel eingesteckt ist', staunt Attila. Er betrachtet entzückt die vielen bunten Lichter, die blinkend und flackernd das Halbdunkel des Innenraumes erleuchten. Die viele Technik, die im Augenblick ausschließlich ihm zu Diensten ist, freut ihn. Endlich einmal ein ganzer Berg davon, der ihn nicht verfolgt, sondern unterstützt! Nur wie und wobei eigentlich? Einer der kleinen Monitore zeigt eine hektisch zuckende Figur. Immer wieder lecken Ausläufer an ihren Rändern wie gierige Tentakel eines hungrigen Wesens zum Rand des Displays und berühren dessen Rahmen. Attila kommt es vor, als ob diese zuckenden Finger ihm etwas zeigen, ihn auf eine Gefahr aufmerksam machen möchten. Alle weisen in Richtung des Ortes. Er ist überzeugt, dass dieses Gerät so etwas wie ein Drohnen-Radar ist, ein freundlich-technisches Hilfsmittel zum Aufspüren bösartiger Technik. Sein nervöses Zucken liegt vielleicht an der Nähe zu der Kaserne auf der anderen Straßenseite. Kann Technik gut, böse, befreundet oder feindlich sein? Sind das nicht Eigenschaften von Menschen, von sozialen Wesen, die zur Selbsterkenntnis und der aktiven, kooperativen Anpassung ihrer Umwelt befähigt sind? Nun, Drohnen können auch kooperieren und einige sind mit Werkzeugen ausgestattet. Er erinnert sich an einzelne der technischen Absonderlichkeiten, die Matz in großen Gurkengläsern aufbewahrt.
Bevor Attila sich in langwierige, philosophische Betrachtungen versenken kann, fällt sein Blick auf den Werkzeugkasten. Rechts steht auf dem Boden, direkt unter dem Regal, ein großer, blauer Klappkasten aus Blech. Er ist mit einem Gummiseil gesichert. Ein Griff, das Sicherungsseil ist entfernt und nach einem zweiter Griff hält Attila einen Zollstock in der Hand. Glücklich lächelnd geht er mit diesem zum Ortsschild zurück.
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Die ganze Aktion wird inzwischen von einer Frau beobachtet. Sie ist mit ihrem Wagen langsam an Attila heran gerollt, hat diesen etwa zehn Meter hinter dem Drohnenfänger geparkt, ist ausgestiegen und sitzt jetzt auf der warmen Motorhaube des Kleinwagens. Dort ist es trotz der frostigen Temperaturen auszuhalten. Sie macht es sich bequem, schlägt die Beine übereinander, neigt den Kopf etwas zur Seite und beobachtet aufmerksam das Geschehen vor dem Ortseingangsschild. Die lockigen, rotbraunen Haare bilden einen interessanten Kontrast zu dem hellen Fellkragen ihrer Weste - natürlich ein Kunstpelz. Ihr Blick drückt Neugier und Erstaunen aus. Attila ist so sehr in die aus seiner Sicht notwendige Schildvermessung vertieft, dass er sie noch nicht bemerkte. Er klappt den Zollstock auseinander - auf die vollen zwei Meter - erinnert sich an seinen Arbeitskundelehrer, der jede Stunde damit einleitete, dass dieses Gerät korrekt als 'Gliedermaßstab' zu bezeichnen ist und der ganzen Klasse wiederholt die TGL-Nummer des Messmittels in das Arbeitsheft diktierte. Schließlich tritt er andächtig vor das Schild. Dort beginnt er zu messen... Höhe, Breite, Diagonale von links oben nach rechts unten. Als er die zweite Diagonale von rechts oben nach links unten vermisst und zwei Zentimeter Abweichung zur zuerst vermessenen Diagonale feststellt, stutzt er. Das Schild sieht doch eigentlich regelmäßig aus, wie ein 'klassisches' Rechteck. Zwei Zentimeter sind schon ganz schön mächtig, für eine Abweichung. Wie er es dreht, er kann sich das nicht erklären und nimmt eine Nachmessung der ersten Diagonale vor. Während er versucht, den Zollstock auszurichten, wird ihm schlagartig die Absurdität seiner Aktion bewusst. Er hat gar keine Vergleichswerte und die ermittelten Dimensionen sind somit bedeutungslos. Er kennt die Abmaße eines deutschen Normortseingangsschildes nicht. Auf diese Art und Weise kann er schwerlich feststellen, ob das gelbe Stück Blech, welches hier vor ihm aufgestellt ist, größer als sonst üblich ist. Abermals betrachtet er das Schild lang und andächtig. Wird es ihm sein Mysterium offenbaren? Attila tritt abwechselnd nach links und rechts und untersucht es von den Seiten. Dabei vermeidet er unbewusst, hinter das Schild zu treten, faktisch in den Ort Storkow hinein. Mitten in diese wichtigen Untersuchungen hinein, meldet sich unvermittelt seine Blase. Zwei Liter Kräutertee, die er am Morgen in Matz's Küche genossen hat, drückt mit einem Mal mächtig. Diesem Signal und einem natürlichen Instinkt folgend, öffnet Attila den Schlitz seiner Hose - einer schweren Kordhose, wie es sich für Holzfäller gehörte - und tritt auf den nächsten Baum hinter dem Straßengraben zu. Wie nicht anders zu erwarten, knirschen die Tritte seiner Filzstiefel im gefrorenen Laub. Er ist ganz der Held der Forstarbeit. Natürlich behält er unbewusst das Ortsschild im Auge: Nur nicht hinter dieses mystische Teil treten, nicht die magische Grenze zur Stadt Storkow überschreiten.
"Hmm, hrrr, hkkk!", ein leises, gekünsteltes Hüsteln hält Attila von weiteren Verrichtungen ab.
Abrupt schließt er seine Hose und wendet sich um. Nicht nur hatte er niemanden hinter sich bemerkt, ob der unvermittelten Lautäußerung erschrickt er auch noch mächtig. Wer beobachtet ihn bei so wichtigen Verrichtungen, wie der Vermessung eines Ortseingangsschildes, ohne sich anzumelden? Nachdem er seine Hose wieder in die bürgerliche, anständige Verfassung gebracht hat, fällt sein Blick auf eine attraktive Frau, die entspannt auf der Motorhaube eines Autos sitzt. Er fühlt sich in die Aufnahmen für ein Kalenderblatt eines Reifenherstellers versetzt. O.k. nicht ganz, dann wäre die Frau deutlich weniger bekleidet...