Am Fluchtpunkt 1
Maykäfer, flieg!
Deutsches Volkslied
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist im Pommerland.
Und Pommerland ist abgebrandt.
Noch während er in die lokale Zeit eintritt, riecht er den scharfen Brandgeruch und hört schreckliche Schmerzensschreie. Dies beunruhigt ihn außerordentlich. Hinzu kommt, dass er seine neue Umgebung noch nicht sehen kann. Ungeduldig blickt er in seiner grell erleuchteten Zeitblase hin und her. Jegliche Anstrengung ist umsonst, er ist in dem leuchtenden Ei eingesperrt. Sooft er bereits durch die Zeit sprang, konnte er sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass er bei Ankunft in der Zielzeit erst nach einigen Sekunden die Welt um sich herum sehen kann. Die anderen Sinne werden bereits frühzeitiger mit Informationen versorgt. So geschieht es auch dieses Mal wieder. Ganz zu Anfang hört er die schrecklichen Schreie. Es ist unverkennbar: Menschen sterben. In die Todesschreie mischen sich wütende Ausrufe und der harte Klang von Metall, das auf unterschiedliche, andere Materialien geschlagen wird. Worte kann er nicht unterscheiden, geschweige denn verstehen, da die Rufe kaum artikuliert sind. Schließlich dringt der unverkennbare Geruch des Barock zu ihm, der sich von dem des Mittelalters nur leicht unterscheidet. All der Unrat, mit dem sich die Menschen auch zu dieser Zeit noch umgeben, riecht sehr intensiv und eigentümlich. An dem Ort, an dem er gerade in eine der Zeiten tritt, riecht die Luft zusätzlich scharf nach einem mächtigen Brand. In dieses Gemenge mischt sich außerdem noch leicht der metallene Geruch frischen Blutes. Das ergibt eine Kombination, die den Zeitreisenden frösteln lässt.
Er wartet ungeduldig und mit Schrecken auf eine freie Sicht. Als endlich die leuchtende Außenwand verschwindet, die die Maschine bei jedem Sprung erzeugt und er seine Umgebung erblickt, nimmt ihm das Geschehen um ihn herum den Atem. In seinem Inneren rebellieren alle Eingeweide gleichzeitig und es beginnt ihn zu würgen.
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Der schreckliche Krieg hat die Stadt bereits vier Jahre zuvor erreicht. Damals, im Jahre 1627, war ein Teil von Storkow zerstört worden. Insbesondere die Burg legten Haufen plündernder Landsknechte in Schutt und Asche. Dieses Bauwerk war bis zur Reformation im Besitz der katholischen Bischöfe von Lebus. Der letzte von ihnen starb als Alchemist auf der Burg in Storkow. Lokale Fürsten nahmen anschließend das Gebäude und die Stadt in ihren Besitz. Unter dem fadenscheinigen Vorwand von Religionsstreitigkeiten wurde wenige Jahre später in Nord- und Mitteleuropa um viele Besitztümer gestritten. Ganze dreißig Jahre lang, versuchten mehrere Fürsten sich gegenseitig zu berauben und sandten Söldner aus. Diese wurden schlecht oder gar nicht bezahlt. Waren Plünderungen anfangs nur ein 'Zuverdienst', wurden diese später zur eigentlichen Beschäftigung der Landsknechte. Einer dieser Haufen zog 1627 auch durch Storkow. In jedem Fall dient Krieg der persönlichen Bereicherung. Immer wurden und werden die Auseinandersetzungen um Besitztümer geführt. Religion, Nation, Rasse, ... - alles nur vorgeschobene Gründe, um Menschen dazu zu bringen, sich für den Nutzen anderer zu opfern. So geschah es auch in dieser Zeit. Die Landsknechte des Dreißigjährigen Krieges hatten schnell erkannt, dass ihre Anführer ausschließlich um Besitz und Vorherrschaft stritten. Natürlich wollten sie sich selbst einen möglichst großen Teil vom fremden Eigentum nehmen. Systematisch und ohne jegliche Skrupel oder Moral haben sie in allen Ortschaften, durch die sie zogen, die Einwohner gewaltsam ihres Besitzes beraubt. Unmengen an Menschen wurden getötet - ein Menschenleben galt als wertlos. Dagegen standen Geld und Gold. Der Warlord jener Zeit, der seinen Haufen durch Storkow führte, fand eine funktionierende Stadt vor. Insbesondere die Burg bot eine verlockende Aussicht auf schnellen Zugewinn. Die Söldner zögerten nicht und schnell waren Stadt und Burg geplündert. Vierhundert Einwohner konnten keinen ernsthaften Widerstand bieten. Der Haufen zog zügig weiter und zurück blieben eine vollständig zerstörte Burg, ein geschundener, beraubter Ort und viele Leichen. Die traumatisierte Bevölkerung, die das Massaker überlebte, versuchte Hoffnung in ihrem jeweiligen Glauben zu finden. Langsam, sehr langsam erholten sie sich und täglich bettelten sie ihre Götter an, sie vor weiteren Durchzügen meuchelnder Kriegshaufen schützen. Da sie keine Besitztümer mehr besaßen, die für Marodeure noch von Interesse waren, mussten sie alle um ihr Leben fürchten.
Entweder gibt es gar keine Götter oder sie sind des unendlichen Krieges überdrüssig. Vielleicht sind auch nur die existierenden Gottheiten vollständig gleichgültig gegenüber den Menschen und ihren Schicksalen. So geschieht es, dass nur vier Jahre später, am 21. April 1631, ein Haufen verirrter, schwedischer Söldner Storkow heimsucht. Das Heer des Schwedenkönigs, ein mächtiger Warlord, der alleiniger Herrscher und Steuerempfänger Nordeuropas werden möchte, zieht von Fürstenwalde auf Berlin. Eine Einheit von Landsknechten ist vom Wege abgekommen und auf Storkow getroffen. Die Soldaten sind hungrig, müde und haben die Hoffnung bereits aufgegeben, die größeren Orte bei Berlin als erste Einheit des Heeres zu erreichen. Sie werden dort keine reiche Beute mehr machen können. Die kleine Ortschaft zwischen Sümpfen, Seen und Bruchwäldern betrachten sie als willkommene Abwechslung und Entschädigung. Nur kurz versuchen ihre Hauptleute, den Marsch auf Berlin beizubehalten und zu beschleunigen. Schnell wird auch ihnen klar, dass sie das Rennen um die besten Plündergründe verloren haben. Außerdem ist der Tross mit Frauen, Kindern und dem Hausstand der Soldaten in den Sümpfen des Dahmelandes stecken geblieben. Die Söldner sind unruhig und drängen darauf, dass auf ihre Familien gewartet wird. Als über den Spitzen der schmalen und erst schwach belaubten Bäumen des Bruchwaldes der Kirchturm Storkows erscheint, gibt es für die Landsknechte kein Halten mehr. In der Hoffnung auf leichte und reiche Beute dringen sie in den Ort ein. Ihre Enttäuschung ist groß, als sie erkennen müssen, dass Storkow bereits lange vor ihnen all seiner Besitztümer beraubt wurde. Ein großer Schutthaufen, den bereits das Unkraut überwuchert und in dem noch einige rußige Mauerreste stehen, deutet eine ehemalige Burg an. Der Ort selbst gleicht einem alternden Gebiss, das die besten Zähne bereits verloren hat. Im Bild der schmalen Straßen sind viele Lücken erkennbar, in denen noch vor wenigen Jahren Häuser standen. Auch dort liegen Schutthaufen. Diesen Anblick kennen die marodierenden Söldner nur zu gut: Sie sind nicht die ersten im Ort. Jede der Siedlungen, durch die sie ziehen, ist nach ihrem Abzug in einem ähnlichen Zustand. Enttäuscht und wütend dringen sie zum Marktplatz vor. Storkow, schon seit Jahren jeden Schutzes beraubt, bietet ihnen keinen Widerstand. Die verbliebenen Einwohner überrascht der Überfall. Hatten sie doch gehofft, so weit vom Weg des schwedischen Heeres entfernt zu sein, dass ihnen nichts geschehen wird und Storkow verschont bleibt.
Die große Glocke der Kirche läutet ununterbrochen. Ihr tiefer, dröhnender Ton hallt alarmierend über die Dächer der Häuser und verliert sich in den Feldern. Er findet den Weg über das Wasser des Sees und in den kleinen, umliegenden Siedlungen verlassen die Bauern umgehend ihre Höfe, um sich in den Wäldern und Sümpfen zu verstecken. Für die Einwohner des Ortes in der Mitte, für die Storkower, ist es bereits zu spät für eine Flucht. Die Soldaten haben an der Kirche und dem ängstlichen, aktiven Geistlichen kein Interesse. Sie streben der Mitte des Ortes zu. Der Tritt ihrer schweren, groben Stiefel mischt sich in das Glockengeläut und hallt gemeinsam mit diesem durch die enge, verlassene Gasse, die vorbei an der Kirche führt und wenig später auf den Marktplatz trifft. Auf dem Fahrweg zwischen den Häusern liegen kaum Abfälle und Fäkalien. Die leere Gosse zeigt den Eindringlingen an, dass sich nur wenige Menschen im Ort befinden. Noch stören sie sich nicht daran, hoffen sie doch immer noch auf einen erfolgreichen Beutezug in der Stadt, die ihnen zufällig begegnete. Der Platz ist nicht zu verfehlen, da dort alle Wege zusammenlaufen. Bürgerhäuser umrahmen das Handelszentrum des Ortes. In einem von ihnen werden hastig die Fensterläden geschlossen. Grobe, hölzerne Klappen schwenken knarrend vor die bunt verglasten Fenster, die anschließend nicht mehr in der Abendsonne funkeln. Das ist ein fataler Fehler der Bewohner. Mehreren der Landsknechte, die mitten auf dem menschenleeren Markt stehen und sich umsehen, ist die Veränderung nicht entgangen. Mit heiseren, lauten Rufen dirigieren sie die gesamte Schar zu dem Gebäude. Es zählt zu den größeren am Platz und seine Fassade ist mit Schmuckelementen verziert. Sehr wahrscheinlich hätte es auch ohne die Bewegung der Läden die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich gezogen. Rostige, schartige Degen werden als Brechstangen genutzt. Geschickt hebeln zwei der Soldaten die Eingangstür und eines der Fenster auf. Aus dem Inneren des Hauses sind verängstige Schreie und ein Poltern zu hören. Die Bewohner verbarrikadieren sich in der Küche, die im hinteren, der Straße und dem Platz abgewandten Teil des Hauses liegt. Sie schieben einen der schweren Schränke vor die Tür. Die Landsknechte haben gar nicht vor, die Tür der Küche aufzubrechen. Routiniert durchsuchen sie das Haus nach Geld und Schmuck. Keines der möglichen Verstecke entgeht ihnen. Die wenigen, ärmlichen Einrichtungsgegenstände werfen sie aus den Fenstern. Eine kleine Truhe, die vormals ein Schmuckkästchen gewesen sein mag, trifft hart auf das Pflaster vor dem Haus. Das dünne Holz zersplittert krachend direkt neben den verschlissenen Stiefeln eines Landsknechtes, der in diesem Augenblick eine Fackel entzündet. Er speit verächtlich auf die Reste des kunstfertig bemalten Kästchens, die vor seinen Füßen liegen und blickt nach oben. Der Werfer steht hinter einem Fenster im oberen Stockwerk und sieht ihn wütend und enttäuscht an.
"Die haben nichts oder alles ist versteckt", ruft er herab.
"Wir räuchern die fetten Bürger aus und zwingen sie", ist die Antwort von der Straße.
Der Soldat mit der Fackel schreitet entschlossen auftretend die steinerne Treppe zur Eingangstür empor, tritt in den Flur und legt Feuer an der Tür zur Küche. Skrupel und Gewissensbisse hatte er vor vielen Jahren und nur kurz, als er mit dem Kriegshandwerk begann. Jetzt kennt er so etwas nicht mehr. Damals hatte er schnell verstanden, worum und wie es ging: Kriege dienten ausschließlich dazu, andere Menschen zu ermorden und zu berauben. Die Adeligen taten dies seit Anbeginn der Zeiten und er nimmt sich jetzt seinen Anteil. Schließlich ist das Leben kurz, schon morgen könnte er auf einem Schlachtfeld sterben oder sich mit einer der schrecklichen Seuchen anstecken, die ihnen durch die Lande folgten. Gott wird ihm nur helfen, wenn er brutal und gewaltsam seinen eigenen Interessen nachgeht. Gott hilft ausschließlich den Starken. Um die Schwachen kümmert sich der Tod.
Das brennende Pech der Fackel ist ein mächtiger Brandbeschleuniger. Seiner Hitze kann kein hölzernes Baumaterial trotzen. Hellrote, gelbe und rußende Flammen greifen nach dem alten, bleichen Eichenholz der Küchentür. Kein Scheuertuch wird diese jemals wieder reinigen können. Die Feuerzungen lecken nur kurz über das trockene und mehr als zweihundert Jahre alte Holz. Die untere Bohle fängt sofort Feuer und beginnt gelblich zu brennen. Nach wenigen Augenblicken brennt bereits die untere Hälfte der Tür. Die in der Küche Eingeschlossenen haben das bemerkt. Rauch dringt in den Raum und nimmt ihnen die Luft zum Atmen. Aus der Küche sind ängstliche Schreie zu vernehmen. Der Söldner im Flur spürt seine Macht über die Menschen in dem Raum. Brutal und kräftig tritt er gegen die brennende Tür. Eine Garbe aus Funken steigt in die Luft und hüllt ihn kurzzeitig in einen teuflisch glimmenden Mantel.
"Feuer - kommt zu mir, Bürgerlein!", brüllt er kehlig in einer Mischung aus Deutsch und Schwedisch.
Aus dem Raum hinter der Küche ist ein Scharren zu hören. Die Eingeschlossenen schieben den Eichenschrank hinweg, der die Tür von der anderen Seite versperrt. Wenig später schwingt die Tür nach innen auf und in einer Wolke aus blutroten Funken, die zur Decke aufsteigen, unter dieser verglimmen und als Rußflocken auf den Landsknecht regnen, erscheint ein älterer Mann. Seine Bekleidung weist ihn als Kaufmann aus. Vor einigen Jahren mochte sie ihn als wohlhabend gekennzeichnet haben. Heute ist sein Mantel abgetragen, die Stickereien haben sich an vielen Stellen abgelöst und der rechte Ärmel hat am Ellbogen ein großes Loch, das nicht einmal von einem Flicken verdeckt wird. Storkow war bis zum Ausbruch des endlosen Krieges eine bedeutende Stadt im märkischen Land. Sie liegt an einer alten Handelsstraße, die von Leipzig bis zur Küste führt. Ein guter, ertragreicher Platz zur Ansiedlung für Kaufleute. Durch Storkow kamen viele Waren und Händler - bis zum Krieg. Der Handel ist vollständig erloschen, das Land ist verwaist und entvölkert. Dort, wo es vormals ein gutes Auskommen gab, sind jetzt Armut und Hunger zu Hause. Der Mann hält das wertvollste Stück seines häuslichen Besitzes in beiden Händen und trägt es vor sich her. Der Zinnkrug ist mit Bildern und Inschriften verziert, eine handwerkliche Leistung, die nicht aus diesen Landen stammt. Wahrscheinlich ist der Krug vor langer Zeit von einem begabten Meister im Erzgebirge gefertigt worden. Heute sind diese Künstler tot oder vertrieben. Der Krieg hat auch im Gebirge ganze Arbeit geleistet. Schweigend, stolz und den Krug wie eine Monstranz vor sich haltend, schreitet der Storkower Bürger an dem Soldaten vorbei und tritt durch die Eingangstür hinaus auf den Marktplatz der Stadt. Der Landsknecht folgt ihm sofort. Hofft er doch, von den Schätzen, die der alte Mann besitzt, den größten Teil zu bekommen. Schließlich ist es sein Verdienst, die Tür zur Küche geöffnet zu haben.
Auf dem Marktplatz haben sich einige Landsknechte versammelt. Sie stehen im Kreis um eine kleine Anzahl verängstigter Einwohner des Ortes herum und berichten sich gegenseitig sehr lautstark von der Enttäuschung, der sie in den Häusern begegneten. Dort gibt es einfach keine Wertsachen. Überall ist die Einrichtung ärmlich, abgenutzt und wertlos. Wenige Laib hellen Brotes und zwei Krüge mit Bier sind die einzige Ausbeute ihrer Plünderung. Sie empfinden dies als Beleidigung und Respektlosigkeit. Fünf Einwohner haben sie angetroffen und auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Diese hocken dort verängstigt und in Todesangst wimmernd in der Mitte des weiten Kreises, den die Soldaten um sie bilden. In dem Augenblick, in dem sie abstimmen wollen, wie sie mit den Einwohnern umgehen, tritt der alte Mann aus der Tür des Bürgerhauses. Er trägt immer noch den verzierten Zinnkrug in seinen vorgestreckten Händen. Obwohl sein Erscheinen geräuschlos ist, sehen alle Landsknechte und Einwohner zu ihm hinüber, als ob sie es erwartet haben oder davon auf eine unheimliche Art informiert wurden. Die Sonne des frühen Abends färbt die wenigen Wolken am kalten Himmel blutrot. Über den Marktplatz ziehen erste, dichte Rauchwolken. Auch diese werden von der westlichen Sonne, die nur noch knapp über den Dächern der niedrigen Häuser steht, in ein bedrohliches, dunkles Rot gefärbt. Ein fettiger Brandgeruch liegt schwer in der Luft und drückt auf die Lungen. Der alte Mann blickt traurig über das Zentrum seiner Stadt. Er ahnt das Ende seiner Zeit und das des Ortes. Vom Treppenabsatz aus wendet er sich mit einer kurzen Ansprache an die schwedischen Landsknechte. Er legt in seine Worte die letzte Hoffnung, die ihm noch verblieben ist. Wenn auch schon ihre Häuser brennen, verschonen die Kriegsgesellen eventuell ihr Leben. Seinen Glauben an einen Gott hat er vor wenigen Minuten verloren. Ein höheres, vergeistigtes Wesen, das alles sieht, dem rein gar nichts entgeht und das offensichtlich aus Freude foltern und quälen lässt, kann es nicht geben. Dessen Existenz ist schier unmöglich.
"Ich möchte euch danken, ihr schwedischen Retter der Reformation und Brüder im Glauben. Ihr seid unsere Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und mit unserem gemeinsamen Gott. Nehmt dieses Geschenk als Zeichen unserer Freude und unterwürfigen Dankbarkeit."
Ruckartig dreht er sich nach rechts um und reicht den Zinnkrug dem Landsknecht, der die Küchentür entzündete und hinter ihm aus der Eingangstür trat. Überrascht und ohne nach dem Krug zu greifen, sieht dieser von oben in das Trinkgefäß hinein. Der Ausdruck auf seinem unrasierten und von Geschwüren und Narben verunzierten Gesicht wechselt von Freude zu Erstaunen und dann zu Wut.
"Danke - ja, wie? - ist leer!"
Flehend blickt ihm der alte Mann in die Augen. Dem Landsknecht ist jedoch jegliche Menschlichkeit schon vor langer Zeit abhandengekommen - irgendwo im mecklenburgischen Norden. Auf dem Weg zu der ersten Schlacht, die das schwedische Heer kurz nach seiner Landung an der südlichen Küste der Ostsee schlug, verlor er die letzten Ideale, die ihm nach der Werbung geblieben waren. War er anfangs zur Verteidigung des rechten Glaubens aufgebrochen, zählte schnell nur noch die persönliche Bereicherung an seinen Opfern. Keine Ortschaft, durch die sie zogen, war vor den marodierenden Landsknechten sicher. Der versprochene Sold erreichte ihn so gut wie nie. Ging der doch regelmäßig in den Taschen der Offiziere und am Feldzug beteiligten Adeligen verloren. Um als unbezahlter Söldner zu überleben, beraubte er alle anderen Menschen, denen er begegnete. Selbst seine Kameraden waren nicht vor ihm sicher. So mancher von ihnen starb nicht auf dem Schlachtfeld oder an Krankheiten, sondern durch sein Messer. In dem Maße, in dem seine Brutalität wuchs, steigerte sich auch seine Gier. Ein Zinnkrug ist keine Beute, hat für ihn keinen Wert. Der lässt sich nicht einmal beim Kartenspiel als Einsatz nutzen.
"Mehr hast du mir nicht zu bieten, alter Mann?", fragt er verächtlich und kalt.
Dieser sinkt in sich zusammen. Er hebt den Krug über seinen Kopf empor und ergibt sich in das unausweichliche Schicksal dieser Begegnung. Ein unzufriedener Marodeur foltert zuerst und tötet anschließend. Das ist brutales Versprechen und ungeschriebenes, grausames Gesetz dieses schrecklichen, endlosen Krieges. Es gilt auch heute und hier. Der hässliche Landsknecht reißt seinen Degen aus dem Gürtel, hebt diesen ebenfalls über seinen Kopf und wendet sich wütend und ungeduldig an den vor ihm knienden Mann.
"Kaufmann, sprich: Wo ist das Gold!"
In diesem meldet sich ein letzter Widerstand, verzweifelter Protest. Im Angesicht des eigenen, unabwendbaren Todes, der ihn in wenigen Augenblicken ereilen wird, verspürt er den Mut des Verurteilten.
"Nachdem du mein Haus entzündet hast, ist mir nur noch dieser Becher geblieben. Er ist ein Geschenk an dich. Bin ich auch kein Zimmermann, sondern nur ein armer Kaufmann: Der Becher gleicht für mich im Wert dem Kelche Jesu. Es ist mein heiliger Gral, den ich dir zum Geschenk darbiete."
"Was sprichst du mich wirr an? Für mich zählt nur eines: Kein Gold, kein Leben."
Noch während er dies spricht, lässt er den rostigen Degen von der Höhe über seinem Kopf herabfallen und schlägt mit dessen stumpfer Klinge beide Hände des alten Kaufmanns ab. Ob der Wucht, mit der dieser Schlag ausgeführt wird, dringt die stumpfe Klinge durch Fleisch, Sehnen und Knochen. Der zinnerne Krug fällt klirrend auf die Steine der Treppe. Mit einem leisen Klatschen fallen die beiden, von den Armen befreiten Hände ebenfalls auf die Trittstufen. Der alte Mann hält die Arme immer noch erhoben über seinem Kopf. Sein Herz drückt das Blut in zwei pulsierenden Fontänen aus den Stümpfen heraus. Es fällt in dicken Tropfen, als ein hellroter Regen, ebenfalls auf die Treppe. Ganz entgegen seiner Erwartung verspürt er keinen Schmerz. Da ist nur Leere - eine unendliche, leere Gleichgültigkeit seinem eigenen Schicksal gegenüber. Er weiß, wie es für ihn weitergehen und enden wird. In diesen wirren Zeiten führt für ihn kein Weg mehr in eine, wie auch immer geartete, Zukunft. Der Landsknecht grinst bösartig den Kaufmann an und richtet ein letztes Mal das Wort an ihn.
"Auch mit Gold wäre dein Leben wertlos. Gott liebt nur den Stärksten!"
Unter Aufbietung aller Kräfte seiner Arme, reißt der Söldner den Degen wieder in die Höhe. Dieses Mal trifft dessen Klinge den Hals seines Opfers. Ein lautes Knacken verrät das Durchtrennen der Wirbelsäule. Kurz darauf kippt der Kopf des Kaufmannes zur Seite und fällt in die Tiefe. Während des Falles werden die Augen stumpf und der letzte Gedanke verlischt: 'Warum heute?' Eine breite, rote Spur aus Blut hinterlassend, rollt und hüpft das abgeschlagene Haupt über die Treppenstufen. Die abgewetzte Kappe aus Samt, die der Mann trug, fällt nicht ab und rollt gemeinsam mit dem Kopf über den Marktplatz. Er gleicht einer Kugel, deren eine Hälfte schwarz und andere rot gefärbt ist. Der tote Körper neigt sich langsam zur Seite in Richtung des Marktes und eine große Lache Blutes breitet sich über die gesamte Treppe aus. Mehrere Rinnsale bildend, läuft es auf die Steine des Platzes. Die Frauen, die hinter dem Kaufmann und dem Landsknecht aus dem Eingang des brennenden Hauses traten, müssen ebenfalls auf dem Treppenabsatz stehen und alles aus nächster Nähe mit ansehen. Keine von ihnen bringt während des schrecklichen, sinnlosen und verstörenden Geschehens kein Wort heraus. Als der Kopf des Kaufmanns fällt, hebt die Frau, die dem Landsknecht am nächsten steht, die rechte Hand zum Schwur. Bittend und unter Tränen blickt sie zu dem brutalen Mann auf.
"Herr Soldat, lassen sie Gnade walten. Ich schwöre zu Gott, dass wir nichts besitzen."
Dieser blickt sie aus Kälte ausstrahlenden Augen hart an. Statt einer Entgegnung lässt er den erhobenen Degen, von dem inzwischen das Blut des Kaufmannes herab und über seinen Arm läuft, wieder fallen. Er schlägt der Frau die beiden zum Schwur erhobenen Finger ab.
"Schweig Weib! Einzig mein Messer besitzt Recht und Wahrheit, solange ich es führe!"
Nachdem das Mordwerkzeug wieder an seinem Gürtel hängt, sieht er unbeeindruckt zu, wie sein zweites Opfer in Ohnmacht fällt. Die Frau sinkt auf den toten, enthaupteten Körper des alten Kaufmanns. Der Landsknecht geht ruhig die Treppe hinunter, stößt den Kopf des Kaufmanns, der unweit der untersten Stufe in seinem Weg liegt, mit der Spitze seines linken Stiefels zur Seite und wendet sich den anderen Söldnern zu.
"Hier gibt es nichts zu holen. Beenden wir unser Werk."
Ohne auch nur kurzzeitig zu zögern, erschlagen die grausamen Soldaten alle fünf Einwohner, die auf dem Marktplatz vor ihnen knien. Das hellrote und in der Kälte des Frühlingsabends dampfende Blut der Getöteten läuft über die Pflastersteine und versickert in den Fugen zwischen ihnen. Der märkische Boden ist gierig und saugt Blut offensichtlich mit einer gespenstischen, schrecklichen Vorliebe auf. Wenig später schlagen hohe Flammen über mehreren Häusern am Marktplatz in den Abendhimmel und vor vielen von ihnen spielen sich ähnliche Szenen ab. Eine große Wolke schwarzen Rauches liegt schwer über dem Zentrum des Ortes. Sie versucht, die Schreie zu ersticken, die aus allen Richtungen zu hören sind. Die grausamen Rufe verfluchen Zeit und Ort in einer lauten, endlosen Anklage. Unter dem glutroten Himmel färbt das Blut vieler Ermordeter den Boden dunkel. Der Tod ist zu Gast in Storkow. Er übt eifrig, erbarmungs- und wahllos sein Handwerk aus.
Ursprünglich wollten die schwedischen Soldaten den reformierten Bürgern des deutschen Nordens bei der Verteidigung ihres Glaubens helfen. Das gaben sie zumindest vor und sich selbst als Glaubensbrüder aus. Bereits nach wenigen Tagen übten sie sich in kollektivem Vergessen. Seit diesem Wandel verfolgt jeder von ihnen nur noch das Ziel der persönlichen Bereicherung unter Einsatz aller Mittel. Die Söldner der anderen Seiten stehen ihnen in nichts nach. Langsam versiegt das menschliche Leben in den norddeutschen Landen. Der apokalyptische Wahnsinn tobt nun bereits seit mehreren Jahren. Mitten in diesem brutalen, barbarischen und vollständig sinnlosen Gemetzel, das die Landsknechte in Storkow anrichten, erscheint ein leuchtendes Objekt zwischen ihnen. Ein greller Blitz kündigt es an. Dieser fällt nicht vom Himmel herab, sondern er erstrahlt am Rande des Marktplatzes, plötzlich und aus dem Nichts. Helles Licht blendet die Mörder bei ihrem grausamen Werk, füllt den gesamten Platz aus und verdrängt für einen Augenblick die schrecklichen, roten Farben aus der Welt. Der Blitz vergeht und lässt ein leuchtendes Oval zurück. Es ähnelt einem mannshohen Ei und schwebt eine Handbreit über den blutbenetzten Pflastersteinen des Marktplatzes. Das leicht pulsierende Licht scheint aus tieferen Schichten des Objektes nach außen zu gelangen und dessen transparente Hülle zu durchdringen. Die entmenschlichten Schlächter unterbrechen erstaunt und gleichzeitig erschrocken ihr mörderisches Tun. Einer von ihnen fällt auf die Knie und faltet die Hände vor der Brust. Er ist sofort überzeugt davon, dass sie jetzt die Strafe Gottes für all ihre Verbrechen ereilt.
"Oh Herr, der du uns einen deiner Racheengel sandtest, ich bekenne alle meine üblen Taten. Richte über mich und nimm mich auf in dein Reich."
Das leuchtende Objekt verändert sich leicht, als ob es eine Antwort auf die dreiste Bitte geben möchte. Ein Lichtband entsteht an seiner Spitze, wird länger und läuft in einer Spirale um das Gebilde herum. Nachdem das Band den Boden des Objektes erreicht hat, beginnt die Spirale zu rotieren. Sie dreht sich immer schneller um das leuchtende, große Ei. All das geschieht ohne Geräusche. Ausschließlich die schrecklichen Schreie der Sterbenden und Gefolterten füllen den Marktplatz. Inzwischen sind fast alle Marodeure auf die Knie gesunken. Nur der Landsknecht, der den Kaufmann enthauptete, steht unweit der leuchtenden Erscheinung. Auch er blickt diese entsetzt an, hält jedoch den blutigen Degen in der rechten Hand. Seine Faust umschließt das Heft so fest, als wäre es der letzte Halt vor dem tiefen, sicheren Fall in die Hölle. Er kann dieses Ereignis nicht interpretieren. Es gelingt ihm nicht, es mit irgend einer seiner Erfahrungen und Erlebnisse aus der Vergangenheit in Übereinstimmung zu bringen. Nur eines ist sicher: Eine Bestrafung ist das nicht. Nach den vielen, schrecklichen Taten, die er bisher ungestraft vollbrachte, glaubt er nicht mehr an so etwas. Dann verschwindet das Licht. So wie es in einem Punkt erschien und sich ausbreitete, bis es die Form eines großen, leuchtenden Körpers erreichte, zieht es sich jetzt wieder auf einen Punkt zusammen. Mit einem leichten Aufblitzen verschwindet auch dieser Leuchtpunkt. An der Stelle, die zuvor das leuchtende Gebilde füllte, steht jetzt ein ungewöhnlich großer Mann. Er trägt eine eng anliegende, schwarze Rüstung, die jeglichen Strahl der untergehenden Sonne aufzusaugen scheint. Schwarze Platten bedecken ihn gleich dem Schuppenpanzer einer Echse. Seine Augen werden von einer großen, spiegelnden Brille verdeckt. Nur an deren unteren Rand ist ein farbiges Flimmern erkennbar. Alle anwesenden Menschen sehen ausschließlich auf den Ankömmling. Der Söldner, der sich als erster auf die Knie geworfen hatte, lässt sich nun auf den Boden fallen und rutscht mit dem Gesicht über das blutige Pflaster. Er getraut sich nicht, die schwarze Gestalt anzusehen.
"Fürst der Hölle! Nimm mich nicht, verschone mich!", stöhnt er aus der Tiefe.
Der Landsknecht mit dem Degen in der Hand beginnt zu brüllen und zu laufen. Die lange Klinge des Mordinstrumentes vorgestreckt, stürmt er auf den schwarz gekleideten Ankömmling zu. Dieser scheint sich aus irgend einem Grund zu schütteln.
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Der Anblick um ihn herum ist erschütternd und zutiefst verstörend. Überall auf dem Platz liegen tote, verstümmelte Menschen. Die Steine des Marktes sind mit Unmengen feuchten, dampfenden Blutes befleckt, das von der roten, tief stehenden Abendsonne grausam und schrecklich funkelnd beleuchtet wird. Über der apokalyptischen Szene hängt eine riesige, dunkle Rauchwolke, die vom Himmel herabdrückt und im Licht der späten Sonne ebenfalls glutrot glimmt. Die grausigen, gequälten Schreie der Einwohner, die noch im Sterben liegen, bohren sich in sein Hirn. Wenn es eine Hölle gibt, dann es ihn in diese verschlagen. Direkt vor seinen Füßen liegt ein abgeschlagener Kopf. Eine schwarze, in Blut getränkte Samtkappe bedeckt ihn zur Hälfte. Aus dem Halsstumpf sickert immer noch ein dünner Faden Blut. Der Zeitreisende sieht direkt in die offenen, leeren Augen des Kopfes ohne Rumpf. Es würgt ihn abermals und er muss sich instinktiv schütteln. Wie Menschen diese abscheulichen, unvorstellbaren Grausamkeiten anderen Menschen antun können, ist ihm ein Rätsel. So muss sich der Untergang der Welt anfühlen: sinnlos, grausam, dunkel, extrem schmerzhaft und ohne jegliche Hoffnung. Alle Bewegung scheint zum Stillstand gekommen zu sein.
Aus den Augenwinkeln heraus nimmt er eine Veränderung wahr. Ein hässlicher, verdreckter Soldat läuft auf ihn zu. Er brüllt laut, ohne erkennbare Artikulation und streckt einen alten, einfach gefertigten Degen vor sich, dessen Klinge mit Einkerbungen übersät ist. An der Waffe läuft Blut entlang, das in dickflüssigen Tropfen dem Landsknecht über die Hand rinnt. Als dieser den Zeitreisenden einen Augenblick später erreicht, kann der nur noch leicht dem Stoß des mörderischen Gerätes ausweichen. Die Spitze des Degens schlägt gegen eine der schwarzen Kacheln aus fotoelektrischer Keramik, die seinen Anzug bedecken. Das ist das härteste Material, das ihm jemals begegnete. Die Klinge gleitet von der Platte ab, ohne auch nur einen Kratzer auf dieser zu hinterlassen. Sie trifft auf das Aramid-Kohlenstoff-Gewebe, auf dem die Kacheln angebracht sind. Es hält zwar den Stoß ab und lässt den Degen nicht eindringen, verteilt jedoch auch nicht die Energie, wie dies die Keramikplatte zuvor tat. Den Schmerz des Schlages verspürt der Zeitreisende unvermittelt. Erschrocken stöhnend sieht er dem Söldner in die Augen und entdeckt darin nichts weiter als den Widerhall unvorstellbarer Brutalität, Unmenschlichkeit und Gier. Instinktiv und mit aller Kraft, die er aufbieten kann, schlägt der Zeitreisende sich vor die Brust, auf den Auslöser der Notfluchtfunktion. Als die Klinge des Angreifers im milchig leuchtenden Nichts der Zeitblase verschwindet, zieht dieser sie erschrocken heraus und springt einen Schritt zurück.
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Die Anzeigen in den Gläsern seiner Schutzbrille signalisieren ihm, dass er den 25. November 2013 erreicht hat. Nach lokaler Zeit ist es zehn Minuten vor Mitternacht. Eine andere Zeit und Epoche am gleichen Ort. Ungeduldig wartet er wieder auf eine freie Sicht in seine Umgebung. Wenige Augenblicke zuvor hatte er das schrecklichste Erlebnis seines Lebens. Die Geschehnisse seiner letzten Minuten lassen ihn nicht los, bedrücken ihn. Der Zeitreisende ist auf der Suche nach der Tambourette. Seit er den Dacapo im Berliner Hauptquartier des BKA traf und dieser ihm von dem Kind erzählte, das in den Falten der Zeit gefangen ist, möchte er es unbedingt treffen. Noch nie zuvor ist er einem anderen Zeitreisenden begegnet. Auch wenn das Mädchen, im Gegensatz zu ihm, unfreiwillig in dieser Lage ist, möchte er sich mit ihr austauschen. Es ist dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das ihm abhandengekommen ist: Er gehört zu gar keiner Gruppe von Individuen mehr, er ist ganz allein, außerhalb der Gemeinschaft. So gesehen ist auch er aus Zeit und Raum gefallen. Seine Nachforschungen der letzten Tage brachten ihn zu der Erkenntnis, dass sich die Tambourette am 21. April 1631 in Storkow (Mark) in der Zeit verirrt haben muss. An diesem Tag verläuft sich das kleine Mädchen im sumpfigen Bruchwald und findet nicht mehr zum Tross und dem Haufen Landsknechte zurück. Genau zu diesem Zeitpunkt wollte er in Storkow sein, um zu sehen, was dort geschieht und eventuell die Tambourette zu treffen. Die fünf Minuten, die er dann in der Stadt erleben musste, haben ihn zutiefst verstört. Bisher hat er es instinktiv vermieden, in Kriege und Kämpfe zu springen und auch nur in deren Nähe zu kommen. Er ahnte, was ihn erwarten würde. Da die menschliche Geschichte eine endlose Folge aus Gewalt und brutalen Grausamkeiten ist, musste er irgendwann einmal in eine solche Situation geraten. Das Erlebte übertraf jedoch alle seiner Vorstellungen über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und die Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig sein können.
Die Notfluchtfunktion seines Anzuges befördert ihn schnell und zuverlässig aus dem Zentrum der historischen Apokalypse heraus. Ihm hilft sie beim Entkommen, vielen anderen Menschen nicht. An diesem Tag, in der Mitte einer dreißig Jahre andauernden, sinnlosen Auseinandersetzung, die von gierigen Warlords nur aus dem Grund des Diebstahls von fremden Eigenturm angezettelt wurde, sterben viele Einwohner Storkows eines schrecklichen und schmerzhaften Todes. Ihre Leben werden abrupt beendet, sie hörten auf zu existieren, zu denken. Dieser Krieg halbiert die Einwohnerzahl des Ortes und nimmt ihm für immer seine Bedeutung. Niemandem helfen zu können, schmerzt den Zeitreisenden. Es ist ein tiefer, beißender, bohrender Schmerz. Er weiß, dass dieser über Jahre nicht - wahrscheinlich nie - vergehen wird. Zum Ende des Novembertages im Jahre 2013 ist es ruhig in Storkow. Er hört nur das Rascheln von Laub und riecht saubere, feuchtkalte Luft. Bereits dieser Geruch lässt ihn zur Ruhe kommen. In wenigen Sekunden wird er den Marktplatz sehen können und höchstwahrscheinlich ist er kurz vor Mitternacht auf diesem allein. Eine warme Übernachtung wird sich finden. Jetzt wird es endlich Zeit für eine freie Sicht...
Plötzlich hört er deutlich ein lautes Fauchen, ein Überdruck entlädt sich ganz in seiner Nähe und endet in einem platschenden Klatschen. In dem gleichen Augenblick verspürt er einen starken Schmerz in der Brust. Pulsierend breitet er sich exakt von der Stelle aus, an der ihn der Degen des Marodeurs kurz zuvor getroffen hatte. Dessen Waffe war zwar nicht durch seine Jacke gedrungen, hatte ihm keine Schnittwunde beigefügt, der heftige Stoß hinterließ jedoch eine Rippenprellung. Die Geschehnisse und der Aufruhr in seinem Kopf hielten ihn bisher von deren Entdeckung ab. Der Zeitreisende krümmt sich vor Schmerz und sieht auf seine Brust. Ein hässlicher, oranger Fleck breitet sich auf dieser aus. Parallel dazu flutet ein panischer Gedanke seinen Kopf: Sein Blut hat sich verfärbt, er hat doch eine Wunde von der altertümlichen Stichwaffe und nun verblutet er. Bevor sein Hirn Amok laufen kann, verschwindet endlich der weißlich leuchtende Nebel der Zeitblase um ihn herum und die Außenwelt wird sichtbar.
Nur zwei Meter von ihm entfernt steht ein mittelgroßer, unscheinbarer Mann mit einer Waffe, die dieser auf ihn richtet. Sein Gegenüber hinterlässt einen heruntergekommenen, unwirklichen Eindruck. Der helle Trenchcoat ist zerknittert, an mehreren Stellen durchnässt und befleckt. Sein schwarzes Barett ist von hellen Farbflecken durchsetzt und verklebt. Es sitzt dem Mann schräg auf dem Kopf, verrutscht in einer hektischen Reaktion. Einer seiner Schuhe ist von getrocknetem Schlamm überzogen. Abgesehen von der Verschmutzung, passt die Bekleidung nicht in das Jahr 2013. Der Zeitreisende sortiert ihn in die 80-er Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts ein. Wie kommt dieser Mann hierher? Dessen Augen sind weit aufgerissen, blicken starr und ohne zu blinzeln auf den Zeitreisenden, scheinen ihn abzutasten, zu taxieren. Der Blick drückt gleichzeitig Verwirrung, Erstaunen, Neugierde und Angst aus. Ursache ist wahrscheinlich das plötzliche Auftauchen der Zeitblase, die von der Maschine bei jedem Sprung erzeugt wird. Oder hat er bei seiner Flucht den Mann aus dessen Zeit gerissen und mit in das Jahr 2013 genommen? Seines Wissens nach ist das physikalisch nicht möglich, aber was weiß er schon und was ist wirklich sicher? Die Schusswaffe, die immer noch auf ihn gerichtet ist, beunruhigt ihn viel stärker als die ungeklärte Herkunft des Mannes im Trenchcoat. Soll er ein zweites Mal die Notfluchtfunktion seines Anzugs nutzen? Diese bringt ihn wieder zu den schrecklichen Geschehnissen in das Jahr 1631 zurück. In gar keinem Fall möchte er diesen rot beleuchteten Platz wiedersehen, über dem schwarze Brandwolken hängen und der mit Leichen und Blutlachen bedeckt ist! Jetzt resigniert auch er. Wenn es denn hier zu seinem Ende kommen muss, dann muss dem so sein.
Der Zeitreisende bemerkt eine Parkbank neben sich, setzt sich resigniert auf diese und erwartet sein Ende. Die Aufregungen und Erlebnisse der letzten Minuten beginnen eine starke Wirkung zu zeigen. Sein Hirn befindet sich in einem Schockzustand, es ist schlichtweg überfordert und nimmt sich eine Auszeit zu seiner Erholung. Er sieht sich in einer ausweglosen Situation gefangen - allein, in einer feuchtkalten Novembernacht, auf einer Parkbank, mitten in einer menschenleeren, märkischen Kleinstadt. Traurig und gedankenlos blickt er in die Mündung des auf ihn gerichteten Gewehrlaufes.