Attilas Stern

Alle Theorie ist grau,
und nur der Wald und die Erfahrung sind grün.

Friedrich Wilhelm Leopold Pfeil

Das grauen Dämmerlicht des Morgens wabert durch die Küche des Spreewaldhofes. Mit äußerster Vorsicht tastet sich die geringe Helligkeit zu dem Geschirr vor, das neben der Spüle aufgestapelt ist. An dem typischen Spätherbsttag hat sich die Sonne hinter einer Wand aus dichtem Nebel versteckt und der Spreewald schläft einfach weiter. Die Details der Einrichtungsgegenstände verschwimmen zu einem angenehmen, konturlosen Brei. Ecken und Kanten, an denen der Blick hängenbleiben könnte, liegen verborgen im trüben Allerlei und kein visueller Hotspot reizt die Augen. Selbst die technischen Artefakte, die rastlos in ihren gläsernen Gefängnissen summen, surren und scharren, sind nicht zu sehen. Kurz gesagt, eine angenehme und grundlegend entspannte Atmosphäre erfüllt die Küche des ’elemec’ Hofes. Das Deckenlicht schaltete Matz bewusst aus, nachdem Attila die Küche verließ. Mit ihm ist auch der wild gemischte Berg an Technik vom großen Tisch verschwunden. Matz kommt nach der ersten, morgendlichen Aufregung langsam zur Ruhe. Verträumt blickt er durch das Fenster auf die Nebelschwaden, die zwischen den Gebäuden des Hofes treiben. Der leichte Wind bemüht sich vergebens, den Dunst hinwegzuschieben und Bewegung in die grauen, schwebenden Fetzen zu bringen. Es könnte ein ganz normaler, ruhiger Vorweihnachtstag werden, einer der Tage, die er nach den vielen Abenteuern mit wahnsinniger Technologie herbeisehnt: Keine Technik bedeutet keinen Wahnsinn. Auf diese Art beginnt Erholung.

Die Ruhe außerhalb des Hauses wird jäh unterbrochen, als ein verspätetes Wildschwein durch den Garten hastet. Wegen des trüben Lichtes hat es den Sonnenaufgang verpasst und sich nicht seinen Artgenossen angeschlossen. Die Wurzeln an der Straße nach Lehde waren einfach zu verlockend. Nun ist das wilde Tier sehr spät noch unterwegs, während die anderen bereits ihren vormittäglichen Verdauungsschlaf halten. Auf dem Weg zu seiner Suhle pflügt es quer über das Mohrrübenbeet, das Attila bereits vor einigen Tagen verwüstete. Obwohl an Menschen gewöhnt, meidet es trotzdem ihre Nähe, so gut es geht. Sind diese Mitbewohner, mit denen es die heimatlichen Auen teilen muss, in ihrem Verhalten doch unberechenbar und umgeben sich mit immer mehr monströsen Seltsamkeiten. Im Spreewald ist die Wanderung ’querfeldein’ nicht immer einfach, da die Kanäle zusätzliche, unüberwindbare Barrieren bilden. Sie zwingen alles mobile Lebe, das nicht fliegen oder schwimmen kann, auf wenigen Routen durch das Gelände. Tiere und Menschen müssen die gleichen Wege nutzen, sie sich teilen. Das runde, schwere Schwein schwebt scheinbar über den Boden hinweg. Die Beine bewegt es so schnell, dass sie im trüben Morgenlicht nicht zu erkennen sind. Dabei zerteilt es die Nebelschwaden und hinterlässt einen durchsichtigen Streifen in der Luft. Matz denkt sofort an ’negative Kondensstreifen’. Vielleicht sondert das Tier ’Chemtrails’ ab, die den Nebel auflösen... Er sinnt dem hastigen Wildschwein hinterher und betrachtet traurig das neue Werk der Zerstörung, den tiefen Trampelpfad über sein Beet. Ob Attila sich im Frühjahr noch an sein Versprechen erinnert, das Beet zu erneuern und Möhren zu säen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Da wird er wohl nachhelfen müssen. Dem Wildschwein ist das egal. Es ist längst nicht mehr zu sehen und hat seine matschige Lagerstatt erreicht. Zufrieden lässt es sich in den warmen Morast fallen, grunzt noch einmal und beginnt augenblicklich angenehm bunt von halluzinogenen Pilzen zu träumen.

****

Attila befindet sich in einer Lage und Verfassung, die der des wilden Schweines sehr ähnlich ist. Versunken in seine aktuellen Handlungen, vergisst er die Zeit und hängt nebenbei bunten Tagträumen über seine ’technologisch revolutionäre Weihnacht’ nach. Natürlich möchte er sich auch ablenken. Viel zu schnell schließt er die ersten Vorbereitungen für die Ausführung seines großen Planes ab. Dafür bleibt in den kommenden Tagen kaum noch etwas zu tun. Mit einer Sortierung der technischen Gerätschaften, Kabel und des sonstigen Sammelsurium erledigt sich die Aufgabe zügig. Attila hat einen Stuhl zwischen zwei große, ausgediente Farbeimer gestellt, sitzt nun in deren Mitte und lässt Teile abwechselnd nach links oder rechts fallen. Alles Gerät, das er als ’brauchbar’ für sein epochales Vorhaben einschätzt, landet im linken Eimer. Der Rest füllt langsam und stetig das Gefäß auf seiner rechten Seite. Er kommt sich dabei wie ein modernes Cyber-Aschenputtel vor, mit dem Unterschied, dass im Gegensatz zum Märchen nicht die böse Stiefmutter diese Arbeit angeordnet hat. Nein, die Idee dazu kam ihm ganz von allein. Es ist eine Idee, von der sein Gastgeber behauptet, dass sie ’nicht ganz normal’ ist. Normal? Egal! Endlich hat er eine Beschäftigung gefunden, die ihn interessiert, ihn vollständig gefangen nimmt und die nicht gefährlich für seine Mitmenschen zu sein scheint. Gut, den Beweis für den letzten Teil ist er noch schuldig. Was ist schon ungefährlich und was ist sicher? Das gesamte Leben ist ein Warten auf den Tod ... nur dieser ist sicher. Obwohl auch das sich in den kommenden Jahren ändern wird. Warum denkt er eigentlich fortwährend über Sicherheiten nach, wenn doch alles grundsätzlich unsicher zu sein scheint, auch das, was bisher als ’gesetzt’ und sicher galt?

Die Suche nach den Eimern, deren künstlerische und mathematisch exakte Anordnung neben einem Stuhl und die gesamten Sortieraktion, hält ihn nicht länger als eine halbe Stunde beschäftigt. Anschließend bringt Attila die brauchbaren Teilchen in die Werkstatt. Für den andere Eimer mit den Abfällen hat er keine Verwendung. So findet dieser sein vorläufig letztes Quartier vor der schweren, eichenen Eingangstür - ganz zur Freude von Matz, der gegen diesen läuft, als er auf den Hof tritt.

Das war’s ... leider. Einen Baum gibt es nicht zu dekorieren, da er noch nicht im großen Zimmer aufgestellt ist. An den Zusammenbau seiner Installation zu denken, lohnt sich erst, wenn der Weihnachtsbaum aufgestellt ist. Heute bleibt nichts weiter übrig, das ihn noch beschäftigen könnte. Schlagartig beginnt sich Attila zu langweilen und überlegt fieberhaft, wie sich er sich erneut die Zeit vertreiben kann und sich der Abend des 24. Dezember noch ungewöhnlicher gestalten lässt. Hat er keine Aufgabe, wird er ins Grübeln kommen und sich ganz sicher an die schrecklichen Monate vor seiner Ankunft auf dem ’elemec’-Hof in Lehde erinnern müssen. Das ist zwanghaft und diesen Rückblick auf einen gelebten Albtraum möchte er in jedem Falle vermeiden. Alle Gedanken daran verdrängt er sofort auf einen großen Haufen in die hinterste, dunkelste Ecke seines Bewusstseins und schüttet Unmengen an sinnlosen Tätigkeiten und Überlegungen darüber. Bisher war er im Erfinden von Ersatzhandlungen sehr erfolgreich, doch gerade in dieser Situation sind ihm die Ideen ausgegangen. Attila beginnt unruhig zu werden und sein Blick wandert rastlos über die Regale und Arbeitstische der Werkstatt. Auf einer der Werkbänke liegen Teile einer Miniaturdrohne, darunter sind ein kleiner Motor und der zugehörige Propeller. Das ist schon einmal brauchbar ... doch wozu eigentlich? Seine Augen gleiten weiter über die Geräte, Maschinen und Materialien und verweilen auf einem der gefangenen Artefakte. Die hässliche Kombination aus Oktokopter, Spinne und Blattwanze hüpft nervös in ihrem gläsernen Gefängnis auf und ab. Das große Gurkenglas steht zum Glück verkehrt herum auf dem Tisch. Der Deckel auf dem Boden ist fest verschraubt und zusätzlich mit einer dicken, gelblichen Wulst aus Heißkleber am Glas fixiert. Matz wollte offensichtlich ganz sicher sein, dass die gefangene Wahnsinnstechnik nicht wieder in die Freiheit gelangen kann. Der glatte, grüne Rückenpanzer des aufgeregten Gerätes ist nicht größer als eine Handfläche. Aus der Seite, an der eine Wanze ihren Kopf hat, ragen auch bei dem Gerät Fühler, Sensoren und Kameras heraus. Attila hat den Eindruck, dass er damit von dem künstlichen Insekt fixiert wird. Das technologische Artefakt hüpft inzwischen von innen gegen die Wand des Glases und wählt dabei immer seine Richtung. Obwohl es immer wieder abprallt und nach unten fällt, setzt es diese Beschäftigung ununterbrochen fort. Entsetzt und angewidert weicht Attila etwas zurück, schüttelt sich und wendet seinen Blick ab.

”Grrr, was bist du denn für ein hässliches Ding?”, bricht es aus ihm heraus.

Er möchte sich den Zweck Gerätes nichts vorstellen und über den Absender des Biests möchte er erst recht nichts wissen. So wie die technische Scheußlichkeit aussieht und sich verhält, kann dieser wirklich keine netten Absichten mit deren Aussendung verbunden haben. Der bedrohliche wirkenden Technik ausweichend, wandert Attilas Blick wieder über die Einrichtung der Werkstatt. Hässliche Dinge muss ich heute nicht ansehen, wenn ich nicht möchte, beschließt er. Automatisch fühlt er sich wieder von dem Motor und Propeller angezogen, die an einer anderen Stelle auf der Werkbank liegen. Seine Augen ruhen sich bei ihrem Anblick aus. Diese bewegen sich nicht von allein auf ihn zu. Das ist sehr beruhigend. Er kann sich nicht mehr von dem Propeller lösen. Die geschwungenen Rundungen von dessen drei Blättern ziehen ihn auf eine magische, unerklärliche Art und Weise an. Während seine Gedanken über den gebogenen Rand des Propellers wandern, hinterlassen sie eine Ideenspur in seinem Hirn. Langsam wird ihm klar, mit welchen Ersatzhandlungen er die nächsten Stunden füllen kann. Er ist so sehr davon fasziniert, dass er den Gedanken laut aussprechen muss.

”Das kann ich bestimmt in eine Kugel für den Christbaum bauen!”

Einmal ausgesprochen, haben Gedanken eine andere Wirkung als zuvor. Haben sie doch die Welt des Ideellen verlassen und sind in die Realität eingetreten. Ihr materielles Abbild, die Schallwellen, haben sich im Raum ausgebreitet, sich an der Stofflichkeit der Einrichtungsgegenstände gerieben und Veränderungen an der Umgebung vorgenommen. Auch wenn diese minimal und kaum wahrnehmbar sind, die Idee ist damit in Wechselwirkung mit der materiellen Welt getreten. Von nun an ist sie ein Bestandteil dieser. Die Katze ist sozusagen aus dem Sack. Gedanken werden also durch ihr Aussprechen belebt. Das ist nichts weiter, als die materielle Erklärung des Idealismus, findet Attila. Kurz ausgedrückt: Er versucht sich an ’philosophischem Sprengstoff’.

Auch wenn dies nur ein kurzer Versuch ist, sein Hirn von den Erinnerungen an seine Flucht und deren Ursachen abzulenken, zeigt der doch einige Wirkung. Diese empfindet Attila durchaus als wohltuend. Die Kreativität durchströmt ihn mit ihrer warmen Energie und er ist nun vollständig auf sein Vorhaben fokussiert. Vor seinem inneren Auge beginnt sich eine Kugel zu drehen und zerfällt in einzelne Segmente, die sich immer weiter verjüngen. Aus ihnen werden Streben, die sich wie Meridiane vom oberen zum unteren Pol ziehen. Auf einer Mittelebene, die gleich einer äquatorialen Scheibe die Meridiane zusammenhält, sind der Motor samt Propeller, einige Leuchtdioden und etwas Elektronik montiert. Der Motor summt rhythmisch und bringt durch einen zyklischen Luftstrom die Kugel zum Pendeln, die dabei auch noch wild blinkt - einfach herrlich! Attila ist so fasziniert von seiner gedanklichen Konstruktion, dass er sofort mit den Arbeiten zu ihrer Umsetzung beginnen muss. Er setzt sich an einen Computer, der natürlich auf der Werkbank nicht fehlt und konstruiert die Einzelteile. Nach und nach fließen seine Gedanken in sehr speziell geformte Konstruktionen und nur wenige Minuten später summt der angeschlossene 3D-Drucker und erzeugt die ersten Meridianbögen. Von einer großen Spule wickelt sich der Filamentfaden ab, in hauchdünnen Schichten wird das Plastik aufgetragen und die Objekte wachsen langsam in die Höhe. In der Werkstatt riecht es süß und verlockend wie in einer Konditorei. Das aus Zuckerrohr gefertigte Material schwitzt den Geruch von kandiertem Zucker aus. Seit Attila den 3D-Drucker entdeckte und zum ersten Mal erlebte, wie sich seine Ideen gefühlt in einer Konditorei materialisierten, kann er gar nicht mehr davon lassen. Er fühlt sich wie ein Gott - gut, wie ein kleiner Hilfsgott.

Über die intensive Beschäftigung mit der Konstruktion seiner selbständig pendelnden Weihnachtskugel, vergisst Attila den Anblick des gefährlich anmutenden, technischen Insektes vollständig. Er blendet dessen Anwesenheit, obwohl es direkt neben ihm in seinem Gefängnis tobt, komplett aus seinem Bewusstsein aus. Anders verhält es sich mit dem Artefakt selbst. Sein Interesse an dem in der Werkstatt anwesenden Menschen ist nicht abgeflaut, ganz im Gegenteil: Am anderen Ende der Werkbank rumort es mächtiger als zuvor in seinem gläsernen Gefängnis hin und her. Beharrlich springt es in Attilas Richtung gegen die durchsichtige Barriere. Die Elektronik ist emotionslos, verspürt keinen Schmerz und ist erschreckend ausdauernd ... sss ... klack ... sss ... klack ... Die Geräusche dringen so leise aus dem Gurkenglas, dass das Summen des 3D-Druckers sie problemlos übertönt.

Für einen kurzen Augenblick setzt das Summen des Druckers aus. Sofort und instinktiv dreht sich Attila zu dem Gerät um. Während dieser plötzlichen, ruckartigen Bewegung stößt er gegen das gläserne Gefängnis der nervösen, elektromechanischen Kreatur. Schnell rutscht das Glas auf den Rand des Tisches zu und kippt über dessen Kante. Obwohl Attila sofort aufspringt, einen Hechtsprung ausführt und nach dem Gefäß greift, gelingt es ihm nicht mehr, dieses vor einer Bodenberührung zu retten. Mit einem dumpfen Knall und unter lautem Klirren zerschellt es auf dem Beton und übertönt final den 3D-Drucker, der inzwischen weiterarbeitet. Glassplitter streben in allen Richtungen davon und hinterlassen einen erschrockenen Attila, der neben dem nun nutzlosen Deckel des Glases und einigen größeren Scherben liegen bleibt. Er starrt gleichzeitig besorgt und ratlos auf das künstliche, handtellergroße Insekt. Dieses ist ebenfalls erstaunt über seine unerwartete Befreiung und macht sich nach dem Sturz erst einmal mit der neuen Lage vertraut. Vorsichtig rollt Attila zur Seite und erhebt sich langsam vom Boden. Dabei weicht er in die Ecke neben der Eingangstür zurück. Mit der Wand im Rücken und einer Fluchtmöglichkeit neben sich fühlt er sich deutlich sicherer. Attila und das unabsichtlich befreite Gerät beobachten sich abwartend. Ohne jegliche Bewegung und Regung lauern sie auf die nächste Reaktion des Gegenübers. Es ist beinahe so wie in einem Schachspiel, nur dass jetzt nicht klar ist, wer den nächsten Zug ausführt.

Attila überlegt, ob und wie er nun reagieren soll ... nach Matz rufen und ihn um Hilfe bitten ... einfach die Werkstatt verlassen und so tun, als wenn nichts geschehen ist ... mutig auf das Gerät zugehen und ihm zeigen, wer die Alphaintelligenz im Raum ist ... die technische Abscheulichkeit wieder einfangen und in ein neues Gefängnis stecken ... elektrische Monstrum mithilfe eines schweren Gegenstandes in einen stromlosen Stein umwandeln ... Er wartet darauf, dass von der hässlichen, riesigen Wanze irgendeine Aktivität gegen ihn ausgeht und rechnet jeden Augenblick mit einem Angriff. Sein Gegenüber lässt ihn nicht lange warten. Die elektronische Scheußlichkeit hat sich inzwischen gefangen, offensichtlich die Werkstatt vermessen und alle Gegenstände in dieser kategorisiert. Den Menschen in der Ecke des Raumes hat sie dabei als einzige Bedrohung und zugleich auch Ziel ihrer Aktivitäten ausgemacht. Zügig senkt sie ihren grüner Panzer an dessen Ende ab, genau dort, wo keine Sensoren aus ihm herausragen. Mithilfe eines heftigen Schlages der hinteren Beine und unter Einsatz aller Propeller springt die Wanze plötzlich in die Höhe und in einem weiten Bogen auf Attila zu. Trotz seines Erschreckens ob der deutlich aggressiven Reaktion, verfällt Attila nicht in Panik. Im letzten Moment kann er sich zur Seite bewegen. Das Gerät prallt gegen die Wand. Dabei zerbirst einer der Plastikpropeller an dem harten, rauen Putz unter einem kreischenden Geräusch in viele, kleine, schwarze Splitter. Unter einem leisem Klacken landen diese nacheinander auf den Betonboden und markieren die Aufprallposition. Der Angreifer rutscht an der Wand nach unten und bleibt auf dem ’Rücken’ liegen. Dort werden einen große Anzahl an Sensoren und mechanischen Tentakeln sichtbar. Attila hat keine Zeit, danach zu sehen. Er steht nun direkt vor die Tür und hat jede Chance auf eine Flucht verloren. Den Ausgang aus der Werkstatt zu öffnen und in die Freiheit zu stürmen, würde eine lange Folge von Bewegungen und viel Zeit in Anspruch nehmen. Er ist sich sicher, dass das aggressive Gerät dies nutzen würde, um ihn zu erreichen. Da er nicht weiß, über welche Werkzeuge und Einrichtungen diese technische Missgeburt noch verfügt, verwirft er die Fluchtidee. Während das Gerät sich auf dem Boden wieder auf die Füße stellt und sich erneut in seine Richtung dreht, fliegen ihm die Bilder seiner Erlebnisse in Storkow durch den Kopf, die er dort mit einer ähnlichen Technik durchlebte. In der gesprengten und abgebrannten Wohnung hatte er eine Drohne mithilfe einer großen Bratpfanne erschlagen und vor dem Ortseingangsschild eine weitere mit einem Beil vertrieben. Unterdessen fokussiert ihn das elektronische Insekt mit seinen kalten, ausdruckslosen Kameraaugen erneut. Ein kribbelnder Schauer läuft ihm den Rücken hinunter, gleitet durch die Beine zu den Füßen und verklebt diese mit dem Beton des Bodens. Er fühlt, wie sein unheimlicher Gegner ihn erneut taxiert. Das geschieht ohne jegliches Gefühl, ausschließlich mit einer schaurigen, digitalen Berechnung und Entschlossenheit, die ihm nie zuvor begegnete. Bisher hat er Technik immer als willenlos und von Menschen gesteuert wahrgenommen. Dieses Gerät scheint eine sehr gefährliche Ausnahme zu sein. Ihm bleibt offensichtlich nur die letzte der Aktionen, die ihm vor mehreren Augenblicken durch den Kopf gingen: Der Angreifer muss mit einem schweren, harten Gegenstand zerstört werden. Er wird ihn sozusagen ’entstromten’. Wenn seine Füße nur nicht so fest auf den Boden fixiert wären, hätte er sofort die Initiative ergriffen und den Gegenstand ergriffen. Gegenstand ... wo findet er jetzt einen warmen Apfelstrudel mit herrliche sahnigem Vanilleeis?

Apfelstrudel? Vanilleeis? Die unpassende Reaktion seines Hirns verwirrt Attila. Offensichtlich hat es sich entschlossen, die schwierige Aufgabe zu vertagen und sich mit einer Ersatzhandlung zu beschäftigen, die wesentlich angenehmer als die Vernichtung eines unbekannten, unergründlichen Angreifers ist. Reflexartig verfällt sein Hirn in die beliebteste Arbeitsweise von Spitzenpolitikern: Anstatt sich mit der Lösung der komplizierten Aufgaben zu beschäftigen, die die Wähler ihnen übertragen haben, verfallen sie in sinnlose, unlogische Nebenbeschäftigungen und geben mit kostspieligen Vergnügungen die ihnen anvertrauten Steuergelder aus. Als ihm dieser peinliche Rückfall bewusst wird, beginnt Wut in ihm aufzusteigen. Er verspürt sie in Verbindung mit diesem Rückfall, mit seiner Angst und Handlungsunfähigkeit und auch darüber, dass er einem handtellergroßen Stück Elektronik ausgeliefert zu sein scheint. Entschlossen streckt er sich. Dabei fällt sein Blick auf die Geräte zur Brandbekämpfung direkt neben ihm. Über einem Zinkeimer hängt ein Feuerlöscher und neben diesem eine Axt mit einem rot bemalten, glatten Schaft an der Wand. Die Rettung befindet sich in seiner Reichweite!

Zwischen Feuerlöscher und Axt muss er sich gar nicht entscheiden, hat doch das mächtige Werkzeug zur Holzbearbeitung ihn schon einmal gerettet. Blitzschnell streckt Attila den rechten Arm aus, greift die Axt und reißt sie von der Wand. Das technische Insekt, das ihn aus drei Metern Entfernung belauert, bewegt ebenso schnell die Kameras an der Vorderseite seines flachen Panzers. Sie folgen der plötzlichen Bewegung Attilas und dann der Axt. Er lässt sich davon nicht mehr irritieren, wird er doch zum Gegenangriff übergehen - jetzt sofort! Mit dem archaischen Werkzeug in der Hand fühlt er sich mächtig und jeder Technik überlegen.


W25C3P1
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http://texorello.org/W25C3P1
22. Dezember 2013 08:31 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Matz 'elemec'
22. Dezember 2013 12:07 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Attila
Objekte, Materialien: Axt
Inhaltsverzeichnis
  1. Attilas Abenteuer bis hierher