Attila spielt

Wenn der Vogel im Glas summt,
das Gebrüll im Osten verstummt.

Hildegard Tand - reisende Bekleidungshändlerin

Attila sitzt in elemec's Küche, sieht aus dem Fenster und beobachtet, wie die gesamte Landschaft innerhalb weniger Tage in den Winterschlaf verfällt. Neben ihm summen gefangene Drohnen in großen Gläsern. Es sind schon einige Tage vergangen, seit sein Gastgeber das letzte Stück vagabundierender Technik eingefangen hat. Der letzte Fund sieht seltsam aus. Die vier Rotoren sind schwenkbar. Matz sagt, die Navigationseigenschaften lassen sich damit bedeutend steigern und das kleine Fluggerät muss für beschleunigte Vorwärtsbewegung nicht mehr gekippt werden. Interessiert hat Attila assistiert, als der Sender entfernt und Konstruktion und Elektronik dokumentiert wurde. Das war vor mehr als zwei Wochen. Jetzt sitzt er neben dem Gurkenglas, in dem die Drohne gefangen ist und beobachtet die Nebelschwaden, die hinter den Fenstern über die Kanäle ziehen. Matz ist zu einer Konferenz in die große, bunte Stadt gereist. Um das 'get-together' nicht zu verpassen, übernachtet er dort. Attila ist für drei ganze Tage allein auf dem Hof im dunstig-feuchten Nichts und langweilt sich gewaltig. Um ihn herum summen die gefangenen, technologischen Artefakte in ihren Gläsern.

Plötzlich hat Attila eine Eingebung. Eine Idee drängt sich ihm auf und setzt sich in seinem Kopf fest. Dort bläht sich diese zu einem riesigen, bunten und glänzenden Ballon auf. Sie nimmt nach kurzer Zeit allen Denkraum in seinem Hirn ein und überstrahlt jeglichen anderen Gedankengang: Er wird ein 'Drohnen-Theaterstück' aufführen. Hier in der Küche des elemec-Hofes wird er die legendäre Luftschlacht nachstellen, in der der Rote Baron sein Ende fand. Da es noch keinen Gerichtshof für Rechte von Technik gibt, wird er bestimmt nicht wegen Ausbeutung von gefangenen Drohnen belangt werden. Wegen dieses Spaßes wird er nicht weiter flüchten müssen. Ein Grund mehr, dieser Idee nachzugehen und dem Vergnügen freien Lauf zu lassen. Schnell sind die Drohnen aus ihren gläsernen Gefängnissen befreit. Freudig summen sie im Raum umher. Nur die langen, dünnen Kabel, ihre Lebensadern zu den Energiestationen, hindern sie daran, sich zu entfernen und in die endgültige Freiheit zu entschwinden. Diese Verbindung ist so etwas wie eine Fußfessel bei menschlichen Gefangenen. Sie hindert Attila jedoch nicht bei der Verwirklichung seines Choreographie. In einem der Bücherregale findet sich der Tatsachenbericht über das Ableben von Richthofen. Attila skizziert den Verlauf des letzten Kampfes auf einem Blatt und überlegt, wie er den Drohnen beibringen kann, sich entsprechend seiner Anweisungen zu verhalten. Er hat noch nie ein Programm von innen gesehen. Matz sagt immer wieder Worte wie 'embedded' und 'micro controler'. Was ein Controller ist, weiß Attila und Betten kennt er auch. Wie die in Zusammenhang mit der Bewegung von faustgroßen Fluggeräten zu bringen sind, kann er sich auch nach mehreren Wochen Aufenthalt bei Matz noch nicht vorstellen. Nachdem Attila ihm seine Erlebnisse der letzten Monate erzählt hatte, sagte Matz zu dem Thema Drohnensteuerung nur noch: "Ist auch besser so, du kannst damit gar nichts anfangen." Mit der Erklärung, dass er zuerst noch bezüglich seiner gesellschaftlichen Einstellung gefestigt werden müsse, konnte Attila noch viel weniger anfangen. Nun ja, elemec ist ein Freak, was soll er da erwarten. Dessen Aussprüche sind von Natur aus unverständlich für Normalmenschen wie ihn. Diese simple Erklärung beruhigte Attila vor einigen Wochen. Bei der Lösung seines aktuellen Problems hilft sie ihm jedoch nicht. Irgendwie muss er die Drohnen steuern und ihnen seinen Willen - seine Choreographie des legendären Luftkampfes - aufzwingen. Die Flugtechnik war so etwas wie 'halbintelligent'. Matz nennt das immer 'autonom'. Zuerst war Attila die Verbindung von Autonomen und Intelligenz nicht als möglich erschienen. Sein tägliches Erleben der Vergangenheit lehrt ihm etwas Anderes. Nach und nach verstand er, dass die Autonomie, die Matz meinte, nichts mit den Autonomen, die er aus der großen, bunten Stadt kannte, zu tun hat. Autonome Drohnen können sich unabhängig von Befehlen bewegen, in der Luft halten. Sie tun 'autonom' nichts weiter, als nirgendwo anzustoßen/zu kollidieren. Dabei gehen sie jedem und allem aus dem Weg: anderen Drohnen, Einrichtungsgegenständen und Menschen. Attila erinnert sich, welche Mühe er hatte, in seiner ausgebrannten Wohnung in Storkow die Drohne mit einer Bratpfanne zu erschlagen. Immer wieder war sie ihm ausgewichen. Erst, nachdem er sie in eine ausweglose Lage in eine Ecke der Küche gedrängt hatte, konnte er das technische Insekt erlegen.

Diese Erinnerung bringt ihn jetzt auf eine Idee: Federballschläger! Mit diesen kann er die Drohnen dirigieren. Lange kramt er durch die Schränke des großen Hauses. Nach etwas mehr als zwei Stunden wird er fündig. Die Schläger sind aus gebogenem Leimholz: elegant aber schwer. Seine Ziele wird er trotzdem mit ihnen erreichen. Das Netz aus Plastikfäden, das in ihnen gespannt ist, wird die Drohnen in ihrer Bewegung beeinflussen. Sie werden den Schlägern ausweichen, wenn er mit diesen in ihre Nähe kommt. Er muss jetzt nur noch seine Choreographie einstudieren, die Drohnen durch die Luft wedeln und dazu den Luftkampf dramatisch kommentieren. Schade, Zuschauer sind nicht vorhanden und auch nicht zu erwarten. Auch die Bewohner des Dorfes halten Matz für einen Freak und finden keine kommunikative Ebene, auf der sie sich mit ihm unterhalten können. Matz sagt, es 'schwingt nicht'. Im November gibt es keine Touristen und die Nachbarn halten sich fern, also keine Zuschauer in Attilas Küchentheater.

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Auf dem Kanal der stark verästelten Spree, der vor den Küchenfenstern von Matz Haus vorbei führt, halten zwei Kähne. Die beiden Frauen, die mit ihnen unterwegs sind, beobachten ungläubig und erstaunt das Geschehen hinter den Fenstern. In der hell erleuchteten Küche fliegen kleine Wesen, offensichtlich magischen Ursprungs, durch die Luft. Es tobt ein epischer Luftkampf über dem Herd. Ein Mann versucht sie mit großen Kellen einzufangen. Dabei läuft er hektisch durch den Raum und führt theatralische Gesten auf. Es sieht aus, als ob er eine rituelle Handlung, Beschwörung vornimmt. Er möchte ganz sicher eine magische Suppe aus den Flugwesen kochen und in die großen Gläser abfüllen, die auf Tischen, Arbeitsplatten und dem Herd stehen. Die beiden Frauen sehen sich entsetzt an. Ist da ein Hexenmeister in diesen Hof eingedrungen und bereits am Werk? Laufen sie alle Gefahr vergiftet oder verzaubert zu werden? Nach einem kurzen Gedankenaustausch staken sie beide hastig in entgegengesetzter Richtung in den Nebel davon. Kurze Zeit später sind sie nicht mehr zu sehen, der Kanal liegt ruhig da und keine Welle kräuselt mehr seine glatte Oberfläche. Matz wird nach seiner Rückkehr einige Gerüchte im Dorf zerstreuen müssen und wahrscheinlich darf er einige Erklärungen zu seinem seltsamen Mitbewohner abgeben.

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Nach einiger Übung 'gehorchen' die Drohnen Attilas Winken. Mit weit ausholendem Wedeln lenkt er die ihn umsummende Technik entsprechend seiner Choreographie durch das Theaterstück 'Luftschlacht'.

"Einundzwanzigster April im Kriegsjahr 18. Der Rote Baron muss wieder in den Einsatz."

Sanft schiebt Attila eine kleine, rote Drohne mit dem Schläger in seiner rechten Hand in die Mitte der Küche. Dort verharrt das Stück Technik in der Luft und summt traurig, eintönig vor sich hin.

"Der Rote Baron hat einen Gegner fixiert und folgt Wilfrid May. Sein unbändiger Jagdtrieb ist erwacht."

Mit dem Schläger, den er in der linken Hand hält, wedelt er eine schwarze Drohne ebenfalls in die Mitte des Raumes. Der rote Flugkörper scheint sie nicht dulden zu wollen. Er fliegt auf den Neuankömmling zu und drängt ihn aus der Raummitte hinweg. Ein drittes, etwas größeres Flugobjekt nähert sich vom Fenster aus den beiden Kombattanten. Es schiebt die rote Drohne in Richtung der Küchenschränke davon.

"Arthur Brown kommt May zu Hilfe und setzt sich hinter den Roten Baron."

Attila ist begeistert. Der Luftkampf gestaltet sich gemäß seiner Vorstellungen. Die Schlacht im Luftraum der Küche hat ihren Höhepunkt erreicht. Die Wilfrid-May-Drohne fliegt gegen die Pendelleuchte, die von der Decke hängt und fällt auf den Küchentisch. Unterdessen drängt das größere Fluggerät den Roten-Baron-Brummer weiter in Richtung eines Schrankes.

"Wumm! Das war's. Der Rote Baron muss notlanden."

Eine der Drohnen hat keinen Freiraum mehr zum Ausweichen und fällt krachend in einen offenen Wandschrank. Energisch summend befreit sie sich wieder. Dabei verheddert sich ihr Energieverbindungsdraht zwischen zwei Blechbüchsen, die auf einem der Regalböden stehen. Die Drohne legt sich mächtig ins Zeug und zieht mit dem Draht beide Büchsen vom Board. Sie schlagen mit lautem Poltern kurz hintereinander auf den Fliesen des Küchenbodens auf, kommen ins Trudeln und entlassen ihren Inhalt in die Freiheit. Helle Rinnsale aus Mehl und Zucker fließen unter den Küchentisch und vermischen sich dort.

"Au weiha!", Attila ist erschrocken über die Wirkung seiner Aufführung.

Einen solch katastrophalen Ausgang des Luftkampfes hatte er nicht erwartet. Betreten betrachtet er das Durcheinander. Die Drohne, die beide Büchsen aus dem Schrank gerissen hatte, ist wohl auch erstaunt. Offensichtlich möchte sie die Auswirkungen ihrer Aktion im Detail begutachten und fliegt knapp über dem Boden unter den Küchentisch. Der Luftstrom ihrer Propeller bläst das Mehl hinweg. Jetzt breitet sich in der Küche ein feiner Dunst aus, ähnlich dem Nebel über dem Kanal, nur trockener. Attila hat Mehl eingeatmet und muss husten. Nicht nur der Boden der Küche ist weiß bepudert, inzwischen verteilt sich der Mehlstaub auch über alle Möbel. Attila hält inne und überlegt angestrengt, wie er das Durcheinander wieder rückgängig machen kann. Irgendwie will ihm nichts einfallen, das nicht mit Magie und außergewöhnlichen Kräften zu tun hat. Dafür kommt ihm ein anderer, gefährlicher Gedanke in den Sinn: Das viele Mehl in der Luft kann sich entzünden! Nicht auch noch eine Mehlstaubexplosion! Von Feuer, Bränden, Explosionen, ... hat er für die nächsten Jahrzehnte genug. Da hilft nur eine radikale Lösung. Weit öffnet er alle Fenster, läuft zum Schaltkasten im Flur und schaltet das gesamte Haus über die Hauptsicherung stromlos. Klack, Stille, Halbdunkel.

Attila steht in der Tür zu Küche. Er lehnt sich an den Rahmen und betrachtet sein Werk mit Ruhe und Andacht. Einer Bewertung geht er gedanklich aus dem Weg. In jedem Falle war es spaßig und er hatte ein wenig Abwechslung. Durch die geöffneten Fenster kommt feuchte, kühle Abendluft herein. Sie bindet den Mehlstaub sofort. Er legt sich als schleimiger, schmieriger Film auf Möbel, Gurkengläser, abgestürzte Technik, ... einfach alles im Raum. Attila ahnt, dass ihn die Aufräumaktion einige Stunden beschäftigen wird. Zum Glück kommt Matz er morgen wieder zurück.

W26C1P1
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http://texorello.org/W26C1P1
23. November 2013 14:38 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Attila
23. November 2013 17:23 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Attila
Inhaltsverzeichnis