Attila sucht
Unser Vergnügen liegt nur in der Einbildung.
Ludwig Tieck
Die Küche ist aufgeräumt, gesäubert und desinfiziert. Die gefangenen Drohnen summen wieder in ihren gläsernen Gefängnissen, die wie am ersten Tag ihrer Festsetzung blinken. Auch ohne die Zuhilfenahme unerlaubter Großreinigungsgeräte ist Attila ein Erfolg gelungen. Die schwere Technik ist ebenfalls gereinigt, keimfreier als noch vor zwei Tagen und die Geräte stehen wieder in ihrer Abstellkammer. Während sich Matz um die Auswertung seiner Reise und das Versenden einiger Angebote über die Entfernung unliebsamen, technischen Ungeziefers kümmerte, arbeitete sich Attila ganz klassisch mit Eimer, Lappen und Handtuch durch die Backab- und -unfälle in der Küche. Dort treffen beide Bewohner des elemec-Hofes am Nachmittag wieder zusammen. Die Nachmittagssonne sendet ihre letzten, rötlich-gelben Strahlen in den Raum. Das warme Licht steht in einem interessanten und angenehmen Kontrast zu dem frischen Duft der von Attila verwendeten Reinigungsmittel.
"Na, Attila, wie sieht's aus? War das komplett unspaßig?"
"Ja", ist die abgehackt kurze und einsilbige Antwort.
"Schade, aber ich habe eine Idee. Die wird dir gefallen. Und das ist auch noch mit Spaß verbunden."
"Lass mich raten: Ich soll den Rest des Hauses auch noch grundreinigen", nach einer kurzen Pause: "Ach nein, das ist ja nicht 'mit Spaß verbunden'."
Attila betont die letzten drei Worte deutlich, wendet sich zum Fenster und versucht gekränkt zu wirken. Das gelingt ihm nicht. Seine Neugier bezüglich der Idee, die Matz gerade erwähnt hat, kann er nicht unterdrücken. Deutlich ist das Blitzen in seinen Augen zu erkennen und das Lächeln in den Mundwinkeln.
"In einigen Tagen beginnt die Vorweihnachtszeit. Ohne einen geschmückten Baum wird das traurig. Willst du nicht einen besorgen?"
Schnörkel- und floskellos schwingt die Idee durch den Raum und fällt wie ein großer, schwerer Klumpen Teig auf den Küchentisch. Dort liegt sie nun. Zumindest starren beide auf den Tisch. Matz lauert auf die Reaktion des nach Vergnügungen süchtigen Gastes, dem er auf seinem Hof eine Zuflucht geboten hat. Nach den Erzählungen Attilas war dessen wiederholte Flucht gar nicht lustig gewesen. Ein wenig Erholung, gepaart mit Spaß, steht ihm da wohl zu. Wird Attila einwilligen und damit für einige Zeit ausreichend beschäftigt, abgelenkt und unterhalten sein?
Attila selbst ist unsicher: Das soll 'Die Idee' sein? Einen Christbaum an einem der Stände kaufen, die zu dieser Zeit überall im Land mit ihren Angeboten locken? Dazu läuft er mit dem Handwagen in den Ort, kauft den Baum und kutschiert diesen auf den Hof. Schnell, einfach, kein Spaß. Er wendet sich vom Tisch ab, blickt auf und sieht seinen Gegenüber an. Die Enttäuschung ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
"O.k., o.k., ich muss die Idee vielleicht noch weiter 'ausrollen'", versucht Matz die Situation zu retten.
"Warum? Ich geh' dann 'mal den Handwagen holen. In einer halben Stunde bin ich mit dem Baum wieder hier."
"Ahh, sag ich doch. Du hast das noch nicht ganz verstanden. Du sollst den Baum selbst schlagen - im Wald."
Attila, bereits aufgestanden, setzt sich wieder auf seinen Stuhl. An diese Variante hat er noch gar nicht gedacht. Sofort beginnt sein aktuell unterfordertes Hirn hastig und farbig zu arbeiten. Er sieht sich bereits als 'schwer bewaffneten Holzfäller' in den Wald ziehen, gewappnet mit einer gigantischen Motorsäge. Seine schweren Filzstiefel hinterlassen tiefe, knirschende Abdrücke in dem mit glitzerndem Raureif überzogenen Laub. Ein Rudel Wildschweine flüchtet voll Angst vor ihm und bricht krachend durch das dichte, junge Erlenholz am Rande eines der Kanäle: Natur, Spreewald, Ruhe und er als Sinnbild des Helden der Arbeit! Weiter schwingen seine verwirrten Gedanken nicht. Matz sieht seinem träumenden Blick an, dass er sich offensichtlich falsche Vorstellungen von dem gesamten Vorgang macht. Bevor es wieder in einer Katastrophe endet, unterbricht er Attilas Tagtraum.
"Natürlich ist das in einem Biosphärenreservat nicht möglich. Du musst also einen Forstbetrieb oder Bauern suchen, der das außerhalb des zentralen Spreewaldes anbietet."
"Mit dem Handwagen komme ich da aber nicht hin", Attila ahnt, dass die Aktion insgesamt gar nicht so langweilig ablaufen wird, wie zuerst gedacht.
"Du nimmst den Drohnenfänger."
Matz meint damit seinen alten Ford-Transporter. Den benutzt er auf seinen Kammerjägereinsätzen, um sein Equipment zum Einsatzort und die Fänge zurück zum Hof zu bringen. Der Wagen hat einige Altersprobleme und Spezialitäten. So fährt er nicht mehr schneller als 80 km/h, die Beifahrertür lässt sich nicht öffnen und die Rostflecke sind mit Sprays unterschiedlicher Hersteller und Farben 'geheilt' worden. Auf dem Dach sind zwei Rundumleuchten angebracht: eine grüne und eine violette. Anstatt einer Sirene ist zwischen ihnen eine elektromechanische Schnarre installiert, ganz wie es sich für einen 'elemec' gehört. Im hinteren Innenraum gibt es diverse Regale mit abenteuerlichen Apparaturen und großen Käfigen. Es sieht ganz so aus, als ob das Arbeitsleben von Matz nicht immer harmonisch und friedvoll abläuft. Das Fahrzeug fasziniert Attila bereits vom ersten Tag seiner Ankunft an. Es ist nicht nur Teil einer Legende, es ist selbst eine und nun darf er es fahren!
Attila springt also wieder auf und läuft sofort in Richtung der Tür. Matz hat gerade noch Zeit sich umzudrehen und "Haaalt!" zu rufen. Mit dem Türgriff in der Hand bleibt Attila stehen und sieht den Rufenden an. Dabei verlagert er sein Gewicht sehr plötzlich in Richtung des Raumes und fällt mit der geöffneten Tür in diesen. Mit beiden Armen rudernd, gelingt es ihm, die Balance zu halten und nicht der Länge nach auf die Fliesen zu schlagen. Matz muss lachen. Einen so aufgeregten Attila hat er noch nie gesehen.
"Wohin willst du denn fahren? Hast du überhaupt ein Ziel?"
"Ach so?", Attila fragt dies vorsichtig, nachdenklich. "Ja? Wo soll ich suchen?"
"Na, im Internet natürlich."
****
Den Rest des Abends sitzt Attila mit einem Laptop in der Küche, trinkt Unmengen an Kräutertee und sucht. Nach dem Genuss von etwas mehr als zwei Litern Aufguss von Matz's Spezialmix, findet er einen Hof in Mellensee, auf dem Christbäume geschlagen werden können.
"Du, Matz, wo ist Mellensee? Ist das weit entfernt?"
"Etwa eine Stunde von hier. Wenn du in Richtung Potsdam fährst, kommst Du daran vorbei."
"Das bekomme ich hin. Ist Richtung Nordost von hier aus. Hast du einen Kompass?"
"Ja und eine Karte auch", nach einer kleinen Pause: "Dort gibt's Salzwasser, wusstest du das?"
"Bis zur Ostsee in einer Stunde? Niemals nicht mit dem Drohnenfänger!"
"Nein, der Mellensee selbst ist leicht salzig", sagt Matz und hat sofort den Gedanken im Kopf, wie Attila aus dem See trinkt. Um Schlimmeres zu vermeiden, setzt er schnell hinzu: "Aber nur wenig Salz UND trinken solltest du das Wasser nicht."
"Ich bin doch kein Kleinkind!", äußert sich Attila brüskiert.
Er geht aus dem Raum und sieht sich dabei nicht um. 'Natürlich ist er kein Kind, nur allzu oft merkt man das nicht', denkt Matz und freut sich, der Entwicklung die gewünschte Richtung gegeben zu haben.