Attila schlägt
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann und
Frantisek Moornherr
die Axt im Walde ersetzt den Borkenkäfer.
Die Entscheidung ist Attila leicht gefallen: Einfach nur den Ort der schrecklichen Begegnung verlassen! So befindet er sich auf dem kürzesten Weg zur 'Autobahn'. Dieses magische Wort assoziiert er mit dem schnellen Entkommen aus seiner momentanen Situation. Während der letzten Minuten war seine Fahrt alles andere als angenehm, entspannt oder gar schön verlaufen. Die Schrecknisse haben ihn in ein neues Tal seines Technologietraumas gerissen. Er blickt starr geradeaus, durch die zerkratzte Frontscheibe und hält das Lenkrad fest in beiden Händen. Diese pressen den abgenutzten Kunststoff so sehr, dass die Knöchel weiß hervortreten. Beim verzweifelten Drehen der Hände löst Attila kleine, schwarze Stücke aus dem alten Schaumstoff, der die metallene Seele des Steuerrades umhüllt. Seine Gedanken kreisen ausschließlich um ein Thema, einen einzigen Fakt: Warum verfolgt ihn diese fliegende Wahnsinnstechnik? Was ist an ihm so Besonderes, dass ausgerechnet er das erdulden muss. Um so mehr er sich in diesen Gedanken verbeißt, um so weniger fällt ihm dazu ein. Langsam wechselt sein Gemütszustand von Depression in Wut. Immer mehr verkrampft sich sein Gesicht, die Augen werden abermals zu schmalen Schlitzen und die Augenbrauen neigen sich über der Nasenwurzel nach unten. Attila beugt sich nach vorn. So hält er verkrampft das Lenkrad in den Händen, tritt das Gaspedal des alten Transporters gegen das Bodenblech und fixiert voller Wut die Auffahrt zur Autobahn. Oh, er ist gewaltig wütend. Es ist eine ohnmächtige Wut auf die Verfolgung durch fliegende Technik, Wut auf seine Reaktion, Wut auf seine wiederholte Flucht, Wut auf einfach alles in seiner Umgebung. Er hat das Empfingen, sich schnellstmöglich abreagieren zu müssen, um nicht zu explodieren.
****
Von den ersten Kilometern der Fahrt auf der Autobahn bekommt er nichts mit. Seine innere Gefühlswelt hält ihn fest in sich gefangen und Attila fährt annähernd so automatisch wie die Drohnen fliegen, die ihm immer wieder über den Weg summen. Ein Leitpfosten nach dem anderen fliegt an ihm vorüber. Da der Verkehr mäßig ist und der altersschwache Drohnenfänger sich trotz seiner wütenden Bemühungen nicht zu einer Hochgeschwindigkeitsfahrt überreden lässt, kann er in der rechten Spur bleiben. Das anhaltende, monotone und laute Stöhnen des gequälten Motors holt Attila in die Wirklichkeit zurück. Er ist auf der Autobahn schon einige Kilometer vorangekommen und immer noch ist ihm der Weg zu seinem Ziel nicht klar. Wie gelangt er von hier zu dem Christbaumwald in Mellensee? Die überstürzte Flucht hat ihn vollständig aus dem Konzept gebracht, er hat sich fehlleiten lassen. Was nun? Soll er einfach die nächste Abfahrt nutzen, um in einem Ort nach dem Weg zu fragen? Vielleicht ist dieser Ort wieder Storkow? Nein! Dort besteht die Gefahr, weitere, schreckliche und traumatisierende Technikerlebnisse zu erleiden. Nach noch mehr Erfahrungen dieser Art steht ihm heute nicht mehr der Sinn. Er lässt seinen Blick durch das Seitenfenster über den Rand der Straße streifen. Dort, auf dem bewachsenen Seitenstreifen, offenbart sich ihm die Lösung seines Problems, die schnelle Erlösung aus seinen aktuellen Nöten.
"Ahhhhh, dort sind kleine Weihnachtsbäume!", versucht Attila das Motorgedröhn zu übertönen. Er hat vergessen, dass er allein im Transporter sitzt und niemand ihn hören kann. Nur das sanfte Blinken einiger weniger Messgeräte im Fond antwortet ihm stumm.
Neben der Autobahn sind kleine Kiefern zu sehen. Diese haben sich am Rand des Waldes von allein ausgesamt. Einzeln stehend und in der benzolhaltigen Luft aufgewachsen, haben sie sich neben den Fahrspuren gut entwickelt. Der Wald hinter ihnen ist einige Meter entfernt. Er lässt ihnen ausreichend Platz für eine üppige Entfaltung und einen gleichmäßigen Wuchs. Attila muss nicht lange überlegen. Diese Gelegenheit lässt er sich nicht entgehen: Hier zwischen Storkow und Friedersdorf kann er seinen Auftrag sofort vollenden und den Weg zurück in den Spreewald findet er auch! Damit spart er sich den unbekannten Weg nach Mellensee - das salzige Wasser dort sollte er ja so und so nicht kosten. Außerdem meldete sich der Kräutertee vom Morgen in diesem Augenblick wieder. Es ist eine neue Chance, seiner wichtigsten Maxime zu folgen: Dringenden Bedürfnissen muss man unverzüglich nachgeben.
Kurz entschlossen steuert Attila den Transporter auf den Standstreifen und hält dort an. Sicherheitshalber steigt er auf der Beifahrerseite aus. Mit dem Verkehr auf der Autobahn ist nicht zu spaßen, sicher ist sicher. Auch aus diesem Grund sucht er nach dem Warndreieck im hinteren Teil des Drohnenfängers. Es ist ordentlich in einer Halterung in der Tür befestigt. Attila platziert es übertrieben vorschriftsmäßig im Abstand von vier Leitpfosten hinter dem Transporter auf der Mitte der rechten Fahrspur. Die große Entfernung wird ihm etwas später sehr hilfreich sein. Als er sich das Beil aus dem Fußraum vor dem Beifahrersitz angelt, fällt ihm auf, dass hier gar kein Publikum anwesend ist. Niemand wird sehen, wie er heroisch die Arbeit im Wald verrichtet. Trotzdem schultert er das kleine Beil und schreitet aufrecht auf eine der jungen Kiefern zu, die direkt neben dem Standplatz seines Wagens wächst.
Bezüglich des fehlenden Publikums behält Attila nicht recht. Da er das Warndreieck mitten auf den rechten Fahrstreifen gestellt hat, weichen alle vorbeikommenden Fahrzeuge folgsam auf die linke Spur aus. Das verengt die Autobahn und führt zu einem stop-and-go-Auflauf, der sich stetig vergrößert und in Richtung Storkow ausbreitet. Die Insassen, der langsam an seinem Tätigkeitsort vorbeifahrenden Wagen, beobachten interessiert die Forstarbeiten. Auch die Journalistin ist darunter, die er vor wenigen Minuten am Ortseingang der Stadt Storkow fluchtartig allein gelassen hat. Der ehemalige Spitzenpolitiker kommt ihr immer absonderlicher vor. Was treibt ihn dazu, mitten auf der Autobahn zu halten, einen Unfall vorzutäuschen und dann direkt neben der Fahrbahn Bäume zu fällen? Bei der für den Autobahnabschnitt zuständigen Straßenmeisterei ist er mit Sicherheit nicht angestellt. Dann wäre die Absperrung professioneller ausgeführt gewesen. Ist das eine neue politische Aktion von ihm? Möchte er wieder die Bühne der Öffentlichkeit betreten? Die Autobahn im dichten Verkehr ist bereits ein Teil der Öffentlichkeit. Das Ganze scheint absurd zu sein. Birgit ist als Journalistin daran gewöhnt, dass die meisten Politiker nicht nachvollziehbar und ohne tiefgreifende Überlegung handeln. Sie fährt so langsam, wie es die Verkehrssituation hergibt, um möglichst nichts von den Ereignissen neben der Autobahn zu verpassen. Neben Attilas Transporter zu parken und ihn zum Ziel seiner Tätigkeit zu befragen, traut sie sich jedoch nicht. Schließlich ist das Halten auf der Autobahn aus gutem Grund verboten. Als der Fahrer des ihr nachfolgenden Autos durch Lichtsignale zu verstehen gibt, dass sie ihm zu langsam fährt, kann sie Attila bereits nur noch im Rückspiegel sehen. Sein Bild wird schnell kleiner, ganz im Gegenteil zu dem Raum, den sie ihm in ihren Überlegungen gibt. Der Techniktrauma-Artikel nimmt in ihren Gedanken weiter Gestalt an.
Attila bemerkt nicht einmal den Stau, den er provoziert, da er sich vollständig auf seine Tätigkeit konzentriert. Die Aufregungen der gerade vergangenen Stunde schüttelt er wie Regentropfen aus seiner Erinnerung. Er übt sich im aktiven Verdrängen unangenehmer Ereignisse. Warum sollte er sich auch mit diesen belasten? Schließlich ist er der 'Held der Waldarbeit'. Theatralisch schwingt er das Beil über seinen Kopf. Die blanke Klinge saust herab und beschreibt dabei einen weiten, fast vollständigen Kreis, bis sie auf das frische, harzige Holz des dünnen Kiefernstammes trifft: brrrrr! Attila hat nicht bedacht, den Schlag schräg zu den Fasern des Holzes auszuführen. Die Spitze des Werkzeugs trifft exakt im rechten Winkel auf den jungen, elastischen Stamm. Als Ergebnis von Attilas heroischen Bemühungen hinterlässt das Beil nur einen leichten, enttäuschend schmalen Kratzer. Die Kiefer wehrt federnd und mit Vibrationen den Schlag ab. Diese Schwingungen übertragen sich auf das Beil, dessen schwere Klinge wie ein Resonanzverstärker wirkt. In Wellen laufen die Vibrationen den Schaft hinauf und Attilas Hände übertragen das Zittern auf seine Arme. Summend gleitet es diese entlang, bis es Schultern und Kopf erreicht. Seine Augen zeigen ihm den Baum kurzzeitig unscharf, bis er durch Anspannung aller Muskeln die Schwingungen in seinem Körper unterdrücken kann.
"Hä? Was soll denn das!", rügt Attila den Baum.
Zu seinem Glück ist keiner der vorbeifahrenden Zuschauer ausreichende Zeit anwesend, um das heldenhafte Versagen komplett beobachten zu können. Attila kniet vor dem Baum nieder und untersucht den kleinen Schnitt. Es ist viel eher eine Druckstelle. Sollte er Matz anrufen und ihn fragen, wie ein Beil zu benutzen ist? Nein! Diese Blöße möchte er sich in keinem Falle geben. Vor seinem Gastgeber möchte er nicht als Versager dastehen, das wäre peinlich. Er hat ihm versprochen, den Auftrag auszuführen und mit einem selbst geschlagenen Christbaum wieder auf dem Hof in den Tiefen des Spreewaldes zu erscheinen. Nachdenklich betrachtet er den Baum aus dem Kniestand. Der ist wirklich schön gewachsen, eigentlich viel zu schade zum Abholzen. Aber: Was sein muss, das muss nun einmal sein. Er wird diesen Arbeitskampf siegreich beenden, da ist er sich ganz sicher. Dieses Stück dummer, belebter Materie wird sich ihm nicht widersetzen - nicht einem Attila Schlottermüller!
Mit einem Mal, ganz plötzlich, fällt ihm die Lösung des Problems ein. Er muss die Schläge schräg am Stamm ansetzen, abwechselnd von oben und unten. Damit lassen sich große Späne aus dem Holz schlagen und er kann eine keilförmige Öffnung in den Stamm treiben. So hat er es vor langer Zeit einmal im Fernsehen gesehen. Mühevoll und weniger theatralisch arbeitet sich Attila mit dem Beil in den Stamm. Es ist mehr ein Wüten als ein Arbeiten. Seine Hände beginnen zu schmerzen. Ein kleiner Stein bohrt sich langsam durch die dicke Kordhose in das rechte Knie. Egal, der Ehrgeiz hat Attila fest im Griff, jetzt kämpft er verbissen. Millimeter für Millimeter lösen sich Späne und der Keil wird tiefer. Am Ende gibt der Baum nach und fällt zur Seite. Krachend splittert der dünne, verbliebene Steg des Holzes. 'Matz hat bestimmt eine Motorsäge. Er wollte sie mir nur nicht geben, damit ich mich mit diesem Spielzeug abmühen muss. Heute Abend wird er mich dann auslachen...', Attila findet diese Arbeit gar nicht lustig - sie ist anstrengend, langwierig und definitiv nicht spaßig. Seit einem Monat ist er süchtig nach kurzweiligen Späßen. Zumindest ist jetzt der erste Teil der Arbeit vollbracht. Er muss den Baum nur noch nach Hause transportieren. Er richtet sich auf, streckt sich und nimmt seine Umgebung wieder wahr. Das Dröhnen von Verbrennungsmotoren dringt aus Richtung der nahen Autobahn zu ihm herüber. Als er sich nach dem Drohnenfänger umsieht, erblickt er den Stau hinter seinem Warndreieck.
"Upps, war ich das?", fragt er erstaunt, aber nicht erschreckt, in den sanften Wind. Dieser trägt die Worte ungehört von anderen Menschen fort.
****
Zur Befestigung des Baumes auf dem Dachgepäckträger finden sich ausreichend Materialien im Fond des Transporters. Attila wickelt den Baum in eine große, grüne Plane. Diese ist auf der Oberseite tarngefleckt und die Unterseite ist mit einem Metallnetz beschichtet. Er möchte sich gar nicht vorstellen, für welche Zwecke Matz sich oder den Drohnenfänger tarnen muss. Die Rolle wird mit Panzertape gesichert - silbrig, klebrig, kräftig - das hilft bei jeder Reparatur und Lebenslage. Mit Hilfe eines langen Seils zieht er den Christbaum über die Motorhaube auf das Dach des Wagens. Der Baum steht vorn bis zum Nummernschild und hinten einen ganzen Meter über. 'Nicht schlecht, eine gute Wahl!', denkt Attila und beginnt die große Rolle mit dem Seil am Dachgepäckträger zu befestigen.
Einigen staugeschädigten Autofahrern ist die Baumernte wohl aufgefallen. Sehr wahrscheinlich hat einer von ihnen die Polizei informiert. Als Attila den Baum auf dem Dach des Transporters mit einem letzten Knoten sichert, hält eine Polizeistreife direkt hinter seinem Warndreieck. Die blauen Lichter auf dem Fahrzeug blinken lustig asynchron. Zwei Polizistinnen steigen langsam aus und sortieren ihre Ausrüstung. Während sie die Gürtel und angehängten Taschen zurechtrücken und sich beim korrekten Aufsetzen der Mützen in den Seitenspiegeln betrachten, wischt sich Attila den Schweiß aus dem Gesicht. Er muss gar nicht nachdenken, um zu wissen, dass das Interesse der Polizei ihm gilt.