Auszug aus dem Paradies
Der Teufel hat die Welt verlassen, weil er weiß,
Friedrich Rückert
Die Menschen machen selbst die Höll' einander heiß.
Ein lauter, dumpfer Knall, dem ein gurgelndes Zischen und Poltern folgte und das Beben der Erde reißen den kleinen Fuchs plötzlich und ungewollt aus seinem Nachmittagsschlaf. So etwas ist ihm in seinem kurzen Leben noch nie begegnet. Er lag im Sand vor dem Eingang zu seinem Bau und träumte von der Jagd des vergangenen Morgens und einem neuen, erfolgreichen, abendlichen Beutezug, der sich in wenigen Stunden ereignen sollte. Um diese Jahreszeit sind die kleinen Nager gut genährt, haben sich bereits ihren Winterspeck angefressen und sind deshalb leicht träge. Am frühen Nachmittag hatte ihn bereits ein ungewöhnliches Stöhnen und Rumpeln geweckt, das aus dem Inneren der Erde zu ihm drang. Es trieb ihn aus seiner Behausung an die Oberfläche, in die Sicherheit des Waldes. Obwohl diese Geräusche sehr bald wieder verstummten, legte er sich vor seinen Bau, um im Fall der Fälle schnell auf weitere Ereignisse reagieren zu können. Er war nicht der Fuchs, der über Erscheinungen philosophierte. Wenn es einer Handlung bedurfte, dann war er schnell und entschlossen bei der Sache. Unnötige Gedanken machte er sich nie und die Zukunft reichte für ihn immer nur bis zur nächsten Jagd. In dem Falle, dass er über die eigentümlichen Geräusche aus der Tiefe nachgedacht hätte, wäre er nicht vor seinem Bau liegen geblieben.
Natürlich bleiben die nächsten, erschreckenden Geschehnisse nicht aus. Durch einen heftigen Explosionsknall aufgeschreckt, springt der kleine Fuchs aus seinem leichten Schlaf heraus sofort auf die Beine. Innerhalb eines Augenblickes ist er hellwach und einen weiteren später analysieren alle seine Sinne die Signale, die aus der Umwelt zu ihm dringen. Wieder aus der Tiefe kommt ein dumpfes und sehr lautes Grollen zu ihm. Im Inneren der Erde scheint ein gewaltiges Tier zu wohnen, das ganz plötzlich seinen Unmut äußert. Trotz seiner sensitiven und hoch empfindlichen Wahrnehmung kann der Fuchs die Position des anderen Tieres nicht eindeutig orten. Kurz darauf werfen ihn heftige Vibrationen von den Beinen. Er fällt einfach um und rutschte hilflos, inmitten von Sandbrocken und Kiefernzapfen, die sich ebenfalls abwärts bewegen, den kleinen Abhang vor seinem Bau hinunter. Gar nicht weit von seiner Behausung entfernt, weniger als zwanzig Sprünge eines flüchtenden Kaninchens in Richtung der Abendsonne, verschwindet ein ganzer Abhang in der Tiefe. Der Erdrutsch wird von alarmierenden, lauten Geräuschen und heftigen Erderschütterungen begleitet. Büsche und ganze Bäume verschwinden spurlos, jedoch mit viel Lärm, in einem großen Loch, das sich auftut: Dort muss der Eingang zum Bau des gewaltigen Erdtieres liegen...
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Nun steht der kleine Fuchs auf einer Anhöhe und beobachtet das Geschehen um das große Erdloch, das entstanden ist. Das mächtige Tier aus dem Inneren der Erde scheint übermäßig groß zu sein. Es hat sich einen gewaltigen, neuen Ausgang für seinen Bau geschaffen. Er überlegt, ob es ihm gefährlich werden könnte. Der Vergleich der Ausgänge ihrer unterirdischen Behausungen sagt ihm, dass er nichts zu befürchten hat. So wie Ameisen für ihn uninteressant sind, wird ein Tier der Größe, die solch einen gewaltigen Ausgang notwendig macht, ihn gar nicht wahrnehmen. Diese Erkenntnis beruhigt ihn und er beschließt, sich auf seinen abendlichen Jagdzug zu begeben. Dass dieser heute etwas zeitiger als sonst startet, stört ihn nicht. Sein Abendessen ist durch die ungewöhnlichen Ereignisse ebenfalls aufgeschreckt und bereits unterwegs. So verlässt er die Anhöhe neben dem neuen, großen Erdloch und läuft in den Wald hinein. Der kleine Fuchs verschwindet leise zwischen den alten Wällen, Gräben und Schützenlöchern, die längst mit Moos überzogen sind. Er beginnt seine Jagd und wird eins mit seinem Wald, mitten in der Mark Brandenburg, am Rande des Dahmelandes.
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In dem unterirdischen Hangar hat sich der Staub der Explosion inzwischen gelegt. Jewgeni und Wassili stehen Hand in Hand vor der Motorhaube des Lastkraftwagens und sehen durch die große Öffnung, die sich am Ende der Halle aufgetan hat. Sie blicken gemeinsam staunend und hoffnungsvoll in die helle, strahlende Freiheit, die hinter der großen Grube grüßt. Genau so müssen sich die Besatzungsmitglieder der Santa Maria gefühlt haben, als sie nach einer endlos scheinenden, erfolglosen, kräftezehrenden und tödlichen Suche doch noch Land erblickten. Beide strahlen über das ganze Gesicht, sie reflektieren förmlich das wenige Licht, das aus dem Wald zu ihnen dringt. Ihre Freude ist annähend so gewaltig, wie Explosion und Erdrutsch vor wenigen Minuten. Der Schutzheilige der Abenteurer und transnistrischen Wissenschaftler scheint auf ihrer Seite zu sein. Sie haben einen Ausgang gefunden, haben die Sprengung überlebt und sind nun im Besitz eines Stromerzeugers. Der wird ausreichend Energie für den großen Tesla-Generator geben, den sie bauen möchten.
Wassili findet zuerst in die Wirklichkeit zurück. Er lässt Jewgenis Hand los, wendet sich zu dem ЗИЛ-157 um, der fahrbereit hinter ihnen steht und betrachtet die zur Hälfte zerstörte Frontscheibe. 'Nun, Frontscheibe zerstört ... fühlt sich nach Fronteinsatz an ... das gibt unserem Transporter ein leicht martialisches Aussehen. So wird uns niemand aufhalten oder uns dumme Fragen stellen', denkt er vergnügt. Am Ende lässt sich aus jeder Situation ein Vorteil gewinnen, es ist nur eine Frage der Einstellung und Wassili ist prinzipiell immer positiv motiviert. Im Gegensatz zu ihm, plagen Jewgeni bereits wieder trübe Gedanken. Er ist heute bezüglich seiner Stimmung komplett anders 'gepolt', als sein Begleiter und Freund.
"Ja. Nun ist das Glas zersplittert. Jetzt hast du den Laster zerstört", äußerst er sich deprimiert, sieht zu Boden und lässt die Schultern hängen: "Die Scheibe ist herausgebrochen, verschwunden, nicht mehr existent, futsch, fehlend, einfach nicht mehr da... Und ich soll das Fahrzeug lenken. Da bläst MIR der Fahrtwind direkt in MEIN Gesicht und ICH werde nichts sehen können."
"Auch das bekommen wir gelöst, warte ab", antwortet Wassili optimistisch.
Jewgeni wird wieder von dem Pessimismus überrollt, der ihn schon den ganzen Tag begleitet und mit dem er ohne Unterbrechung Wassilis Geduld strapaziert. Er möchte nur zurück in das Sommerhaus, das sie gemietet haben. Am Ende des anstrengenden Tages fehlt ihm sein 'Zuhause', der ruhige Rückzugsort, ein entspannter Abschluss und viel Erholung. Jede Verzögerung ihrer Heimfahrt und weitere Probleme geben seiner Depression neue Nahrung. Bereitwillig teilt er seine negativen, pessimistischen Ansichten unwillkürlich mit Wassili - aus einem unerfindlichen Grund ist ihm heute danach.
"Und wie willst du das anstellen? Möchtest du eine Plastikfolie in den Rahmen kleben? Dann werde ich als Fahrer die Straße nicht mehr sehen. Wovon wirst du die vielen, überfahrenen Hühner bezahlen?"
"Hühner? Am Abend? In der Dunkelheit? Auf der Straße?", fragt Wassili lachend.
"Ja, genau da!", ist die trotzige, deprimierte Antwort.
Wassili hat eine bessere Idee. Mit entsprechender Bekleidung lässt sich die fehlende Frontscheibe ganz sicher kompensieren. Optionale Anbauten und Verkleidungen müssen nicht unbedingt repariert werden. Schließlich gibt es viele Fahrzeuge, die über den Luxus eines solchen Glases gar nicht verfügen. Deren Fahrer behelfen sich mit entsprechenden Brillen und Kopfbedeckungen. Die Regale mit Kampfausrüstung und Bekleidung, die an den Seiten der unterirdischen Halle aufgebaut sind, werden schon Entsprechendes enthalten. Schließlich muss in einem Kampfeinsatz mit der Zerstörung von Gläsern gerechnet werden. Er muss nur noch Jewgeni davon überzeugen, dass die Bekleidungslösung perfekt ist.
"Lass uns einmal zu den Regalen an den Seiten gehen. Vielleicht finden wir ja dort die Lösung."
"Eine neue Frontscheibe? Habe ich dort nicht gesehen..."
"Komm, sei nicht so pessimistisch. Bestimmt finden wir dort etwas", bittet Wassili seinen Freund.
Jewgeni steht neben ihm, als die praktische Verkörperung eines verdrehten Fragezeichens. In den Knien leicht eingeknickt, lässt er seine Schultern nach vorn hängen. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und blickt Wassili traurig und leer aus weit aufgerissenen Augen an. Sie gehen zu der langen Regalreihe, die sich links von ihnen über die gesamte Seitenwand der unterirdischen Halle zieht. Jewgeni trottet im Abstand von drei Metern hinter Wassili her. Die Sohlen seiner Schuhe schlurfen über den staubigen Beton des Bodens. Hinter ihm bilden sich in Kniehöhe graue Wolken aus schwebenden Teilchen, die in dem Licht, das jetzt durch die Seitenöffnung in den Hangar dringt, silbrig schimmern. Am Ende der Reihe angekommen, dreht sich Wassili um und betrachtet fasziniert das leuchtende Band aus Staubteilchen, die in der Luft schweben und schwach glimmen.
"Toll!"
Jewgeni, ebenfalls stehengeblieben, sieht ihn leer und verständnislos an. Er kann den Ausruf nicht zuordnen. Die gesamte Aktion erscheint ihm noch sinnloser als zuvor. Sein Wunsch, in das von ihnen gemietete Sommerhaus am Rande Storkows zurückzukehren, ist so groß wie noch nie an diesem Tag. Er ist nicht mehr gewillt, hier noch weitere Zeit zu vertrödeln und sich sinnlosen Hoffnungen hinzugeben. Der Tag ist gelaufen! Als ob in seinem Inneren ein Schalter umgelegt wird, schlägt der Pessimismus in Wut um. Mit einem kräftigen Ruck richtet er sich gerade auf, ballt die Hände zu Fäusten und stemmt diese in seine Seiten.
"So! Du meinst, es ist 'toll', dass wir gar keine Fahrzeugteile gefunden haben? Du findest diesen ganzen, vergammelten, historischen Krempel aus der Sowjet-Ära toll und hilfreich? Damit willst du unseren Auftrag ausführen? Das fliegt uns maximal in einer weiteren, mächtigen Explosion um die Ohren! Wir können von Glück reden, wenn wir hier nicht durch Zufall auch noch einen atomaren Sprengsatz finden. Wahrscheinlich sind wir schon jetzt komplett verstrahlt! Auf jeden Fall benimmst du dich bereits so...", redet sich Jewgeni in Rage.
Seine Augen blicken nicht mehr leer. Zusammengezogen funkeln sie, zeigen kleine, helle, kalte Punkte und sind auf Wassili gerichtet. Dieser weiß nicht, wie er den Stimmungsumschwung seines Freundes interpretieren soll. Er schweigt lieber zu den Vorwürfen. Nur zu gut kennt er Jewgenis Reaktionen auf Korrekturen der Fakten seiner unlogischen Wutausbrüche. So sagt er gar nichts, sieht seinen Freund freundlich und mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck an. Nur möglichst keine Ecken, Kanten und Angriffspunkte bieten. Dann wird sich Jewgeni schon wieder beruhigen. Der hat das jedoch gar nicht vor. Noch hat er den Höhepunkt nicht erreicht und seine Wut bricht weiter laut aus ihm heraus.
"Bring' mich jetzt nach Hause! Ich will sofort von hier weg - JETZT! SOFORT!", dabei stampft Jewgeni mit dem rechten Fuß auf den Boden, eine neue Wolke von Staubpartikeln breitet sich flimmernd in der Luft um seine Knie aus und fordernd ergänzt er: "Mach' endlich 'was!"
Wassili versucht zumindest, unbeeindruckt zu blicken. An dem heftigen Spiel von Jewgenis Gesichtsmuskeln kann er jedoch ablesen, dass ihm das nicht wirklich gelingt. Gerade, als er etwas sagen und seinen Freund beruhigen möchte, ändert sich die Situation abermals. Jewgenis Gesichtsausdruck wechselt abrupt. Er reflektiert nun eine starke, innere Verwirrung und Verunsicherung. Wassili findet diese schnelle Veränderung von Depression über Wut zu Verunsicherung reichlich bedenklich.
Der Feldwebel der Infanterie, der mit dem Schnauzbart, erscheint plötzlich wieder hinter Wassili. Ohne eine Ankündigung, ein Flackern in der Luft oder auch nur die geringste, akustische Vorwarnung, ist er aus dem Nichts aufgetaucht. Von einem Augenblick auf den nächsten steht er neben dem Regal, lehnt seinen breiten Rücken gegen einen Stapel blauer Wattejacken und zwirbelt mit der linken Hand seinen Schnauzer. Jewgeni weicht erschrocken zurück. Mund und Augen öffnet er weit, fixiert das Hologramm und blickt durch Wassili hindurch. Dieser hat die neuerliche Ankunft eines der Geister nicht mitbekommen und sieht seinerseits verwundert Jewgeni an. All seine Entschlossenheit und auch die Wut, die noch vor wenigen Sekunden Jewgeni durchflutete, sind auf einen Schlag verschwunden. Er begibt sich auf den Rückzug. Langsam und vorsichtig mit den Füßen tastend, bewegt er sich rückwärts in Richtung der Sitzbank, die vor der langen Tafel steht. Natürlich kann Wassili die Ursache dieses Verhaltens nicht deuten. Es kommt ihm so vor, als ob Jewgeni vor ihm flüchten würde. "Bin ich so schrecklich, dass du vor mir fliehst?"
Jewgeni hat die Bank erreicht und sich auf diese fallen gelassen. Er hebt den rechten Arm und zeigt mit der ausgestreckten Hand auf Wassili.
"Da-a-a..."
Dieser sieht an sich hinunter. So sehr er sich auch anstrengt und jeden Flecken seiner Bekleidung begutachtet: Er kann keine ungewöhnlichen Dinge entdecken. Fragend hebt er die Schultern, breitet die Arme auseinander und kehrt die Handflächen nach oben. Jewgeni deutet nach wie vor mit der ausgestreckten Hand in seine Richtung und schüttelt diese.
"Da-da-da...", stößt er bei jeder Handbewegung hervor.
Wassili beugt sich nach vorn, blickt auf den Boden und schließlich zwischen seinen Füßen hindurch. Weniger als eine Armlänge hinter sich erblickt er das bewegliche, räumliche Abbild des Feldwebels. Nicht nur, dass er damit nicht gerechnet hat, wähnte er sich doch mit Jewgeni allein im Bunker, die unmittelbare Nähe erschreckt ihn zusätzlich und außerdem steht das Geist auf dem Kopf.
"Hugh!"
Wassili richtet sich ruckartig auf, macht einen Satz nach vorn und stolpert. Mit beiden Armen in der Luft rudernd, versucht er das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Leider gelingt ihm das nicht und er fällt hart auf sein Gesäß.
"Au!", in einer Wolke aus glitzerndem Staub sitzend und seine hinteren Weichteile massierend, wendet er sich erbost an den Feldwebel: "Muss dieses heimliche Anschleichen sein? So etwas machen zivilisierte Menschen nicht!"
Dieser grient ihn nur an und stößt sich schwungvoll mit der Schulter von dem Regal ab. Anschließend geht er mitten durch Wassili hindurch und direkt auf Jewgeni zu. Der ist vor Schreck erstarrt und vergisst sogar zu atmen, sodass er beginnt, blau anzulaufen. Nachdem er die Bank erreicht hat, setzt sich der Feldwebel neben ihn. Wieder bewegt sich das Sitzbrett nicht - Geister haben nun einmal kein Gewicht. Mit einer weit ausholenden Geste schlägt das Gespenst Jewgeni auf den Rücken. Natürlich findet seine Hand keinen Widerstand und Jewgeni sieht einen Arm, der plötzlich und schnell aus seinem Brustkorb wächst.
"Hallo Soldat, Luft holen!"
Der zweite Schreck scheint den ersten komplett zu lösen, es ist wie eine Negation der Negation. Keuchend stößt Jewgeni die verbrauchte Luft aus seinen Lungenflügeln, atmet tief ein und wendet sich zu dem Feldwebel auf der Bank neben sich um.
"Bin - kein - Soldat!", protestiert er japsend.
"In der Erfüllung unserer heroischen, proletarischen Pflicht sind wir alle Soldaten, mein Junge", antwortet dieser väterlich und zieht seinen Arm wieder aus Jewgenis Brust heraus.
Anschließend beginnt er ununterbrochen und salbungsvoll zu erzählen: Er spricht vom 'heroischen Auftrag' den sie für den 'großen Sieg des Kommunismus' hätten und von der bald kommenden, 'kommunistischen Weltregierung' und von der 'interkontinentalen Wodka-Pipeline' die dann alle großen Metropolen verbinden wird. Bei der Vorstellung von unbegrenzten, freien Mengen an Wodka für jeden Genossen werden seine Augen feucht und er wischt sie sich mit dem linken Ärmel seiner Uniformjacke trocken.
"Ja, Wodka für jedermann, so viel man möchte...", resümiert er verträumt.
Dabei blickt er durch die große Öffnung am Ende des unterirdischen Hangars in den Wald. Seine Vorstellung von der großartigen Zukunft der Menschheit scheint auf freien Wodka reduziert zu sein. Wassili kann diesem Ideal prinzipiell nichts entgegensetzen. Der traditionelle, russische, spirituelle Treibstoff hat die Nation über Jahrhunderte zusammengehalten. Warum sollte diese Flüssigkeit nicht auch die Welt retten und befrieden können? Falls sich das als falsch erweisen würde, könnte man mit dem Fusel zumindest noch Motore betreiben. Das ist auf jeden Fall ökologisch verträglicher, als die Nutzung von Erdöl. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigt ihm, dass sie jetzt den letzten Ausweg aus dem Bunker finden sollten. In wenigen Minuten wird das restliche Licht des Tages verlöschen. Dann wird der Brückenschlag über die große Grube vor dem Ausgang wieder schwieriger.
"Ja, das ist ein erstrebenswertes Ziel. Freier Wodka für alle würde alle Probleme lösen. Bis dahin gibt es aber noch etwas zu tun. Wir müssen jetzt los, den Bunker verlassen - unser Auftrag kann nicht länger warten."
"Aber nicht ohne Frontscheibe!", protestiert Jewgeni.
Er befürchtet, dass er im schneidenden, kalten Fahrtwind der Novembernacht das Fahrzeug durch das Dahmeland steuern muss. Eine Vorstellung, die ihm gar nicht gefällt. Sein Pessimismus, den er fast vergessen hatte, meldet sich wieder zurück.
"Ach, mein Junge, das lässt sich auch anders lösen", beruhigt ihn väterlich der Feldwebel.
"Wie? Mit Zauberei? Hier gibt es keine Ersatzteile für den ЗИЛ."
"Würde an der Front die Scheibe unter Beschuss zertrümmert werden, gäbe es auch keine Ersatzteile."
"Logisch - aber das hilft mir jetzt gerade gar nicht!", echauffiert sich Jewgeni.
"Immer ruhig Söhnchen! Die richtige Kleidung macht eine Frontscheibe überflüssig", ist die beruhigende Antwort des virtuellen Gastes.
Der Feldwebel steht auf, geht wieder an die lange Regalreihe und zeigt auf einige der Fächer. Er scheint zu wissen, dass er die Gegenstände in diesen nicht berühren oder aufnehmen kann.
"Die Panzerhaube hier hält den Kopf warm. Mit der Fliegerbrille schützt du deine Augen und in dieser öligen Wattejacke wirst du weder kalt noch nass."
Zufrieden grinsend lehnt er wieder an dem Regal, genau wie in dem Augenblick seines Erscheinens. Wassili wundert sich, wie ihr virtueller Besucher die gleiche Idee wie er selbst bekommen kann. 'Nun, Geister sind anders als wir und können bestimmt auch unsere Gedanken lesen.' Damit gibt er sich vorerst zufrieden, nimmt die aufgezeigten Bekleidungsstücke aus dem Regal und wirft sie Jewgeni zu. Dieser zieht sie langsam und widerwillig an. Als er damit fertig ist, beginnt Wassili zu lachen. Vor ihm steht sein verkleideter Freund. Die dunkelblaue Wattejacke ist eine Nummer zu groß und außerdem über und über mit schwarzen Flecken von Altöl bedeckt. Sein Kopf ist von einer alten, schwarzen Kappe eines Panzerfahrers verhüllt. Diese scheint mit der Jacke im Wettbewerb um die größere Anzahl an Ölflecken zu stehen. Vom Gesicht ist kein Stück mehr zu sehen, es ist komplett verhüllt. Der obere Teil wird von einer riesigen, ledernen Fliegerbrille mit einem breiten Messingrahmen verdeckt. Nase, Mund und Kinn stecken unter einer hellgrauen Atemmaske, die auf dem Bau als Staubschutz Verwendung findet. Wassili hatte einige davon mitgenommen, da er nicht wusste, was sie in dem Bunker erwarten würde. Jewgeni sieht aus, wie ein Raumfahrer aus den utopischen Filmen der 50-er Jahre. Er hält die Arme etwa fünfzehn Grad vom Körper abgespreizt, beugt sich leicht nach vorn und steht breitbeinig und steif im Raum. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass er die Sachen nicht freiwillig angezogen hat und sich in ihnen gar nicht wohlfühlt. Dieses Aussehen und Jewgenis deprimierte, hilflose Pose treiben Wassili in einen Lachflash. Er krümmt sich laut lachend, schlägt sich mit den Händen klatschend auf die Oberschenkel und muss sich auf den Boden setzen, da es ihm schwerfällt, das Gleichgewicht zu halten, ausreichend Luft einzuatmen und nicht umzufallen.
"Erst machst du mich zum Arbeitsclown und dann lachst du mich auch noch aus. Ein schöner Freund bist du...", protestiert Jewgeni leise.
"Du siehst immer noch besser aus, als der Politclown, den uns Leonid im Oktober anvertraute. Was beschwerst du dich also?", bringt Wassili hervor.
Beim Sprechen wird er immer wieder von neuen Lachattacken unterbrochen. Jewgeni blickt ihn nur noch vorwurfsvoll an und antwortet nichts mehr. Dieser ist ganz sicher nicht sein Tag. Er möchte nur noch in ihr vorübergehendes Zuhause zurückkehren, endlich weg aus diesem Bunker und Wald. Inzwischen ist ihm sogar das 'Wie' egal.
Wassili macht sich ganz andere Gedanken. Natürlich möchte er sich nicht so seltsam kleiden müssen, wie sein Freund. Wenn sie den schweren Lastkraftwagen über die Landstraßen und durch die Wälder steuern, möchte er in der Fahrerkabine eine gute Figur abgeben. Es könnte sein, dass sie gesehen werden und vielleicht sogar von zukünftigen Klienten. In den Regalen liegen auch noch andere Bekleidungsstücke, die etwas wertiger aussehen.
"Auf der Seite des Navigators ist die Frontscheibe noch erhalten, nicht?"
Der abrupte Themenwechsel verwirrt Jewgeni. Er blickt auf das Fahrzeug und sucht es mit den Augen nach etwas ab, das zu dem Wort 'Navigator' passt. Da er durch die verstaubte Brille sehen muss, dauert dies etwas länger.
"Navigator?", fragt er nach einigen Sekunden zurück.
"Du siehst ja nicht viel durch die Brille, so muss ich dir als Beifahrer schon den Weg weisen..."
Nachdem Wassili festgestellt hat, dass die Frontscheibe auf der rechten Seite noch vorhanden ist, wählt er eine warme Pelzmütze und eine Offiziersjacke mit einem breiten, hellen Fellkragen. Er sieht jetzt wie ein Kommandeur aus. Jewgeni mustert ihn missbilligend, sagt jedoch nichts mehr. Er schleicht missmutig zum ЗИЛ-157, klettert umständlich in das Fahrerhaus, setzt sich auf den Sitz, legt Arme und Kopf auf das große Lenkrad und wartet auf den Aufbruch.
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Wassili sieht sich in der Halle um und sucht den Feldwebel, der noch vor wenigen Minuten ihr virtueller Gast war. Er kann ihn nicht mehr finden. Der Geist scheint auf die gleiche Art und Weise verschwunden zu sein, wie er erschienen ist: unerwartet.
"Schade. Ich hätte ihn gern noch gefragt, ob er weiß, was er jetzt ist...", spricht Wassili leise zu sich.
Anschließend wendet er sich um und geht auf den im Licht des Abends nur noch schwach erleuchteten Ausgang zu. Jetzt müssen die Metallrinnen über die große Grube geschoben werden, damit sie mit dem ЗИЛ aus dem Bunker herausfahren können. Das kann keine schwierige Aufgabe sein. Die Schienen haben zwar ein hohes Gewicht, das lässt sich aber mithilfe eines Flaschenzuges ausgleichen. Schnell hat er die Stahlschienen erreicht. Diese bieten jedoch eine neue, unerwartete Überraschung: Sie sind fest mit dem Beton des Bodens verbunden. So sehr er sich auch müht, sie lassen sich nicht bewegen. Wütend hebelt er mit einem schweren Brecheisen an der Schiene, die der großen Grube am nächsten ist. Die Stange aus massivem Eisen reicht ihm bis zur Brust. Das flache Ende steckt unter dem U-Profil der Schiene. Trotz aller Anstrengungen bewegt sich nichts. Entnervt lässt er das Brecheisen fallen. Laut hallt das metallene Klingeln der Stahlstange durch den unterirdischen Hangar. Wassili setzt sich auf die breite, unverrückbare Metallschiene, stützt seinen Kopf in die Hände und blickt traurig durch die gesprengte Öffnung in die Freiheit. Nun bekommt auch er Angst: Sollte Jewgeni mit seinen depressiven Vorstellungen recht behalten? Bisher haben sie alle Hürden überwunden. Scheitern sie jetzt an der letzten Kleinigkeit, wird die unüberwindliche Grube ihre Abreise aus dem unterirdischen Hangar verhindern?