Am Endpunkt
Danach sah ich einen andern Engel herniederfahren vom Himmel, der hatte große Macht, und die Erde wurde erleuchtet von seinem Glanz.
Offenbarung 18,1
"Entschuldigung, es war nicht meine Absicht, sie zu erschrecken", wendet sich der Maler an seinen Banknachbarn.
Der schwarz gekleidete Fremde sitzt nun bereits seit zwei Minuten in sich zusammengesunken neben ihm auf der Bank. Er sagt nichts und atmet nicht einmal hörbar. Einzig und allein auf seinen Armmanschetten ist eine Bewegung erkennbar. Diese sind breit, aus Messing gefertigt und unterscheiden sich damit deutlich von der anderen, undurchdringlich schwarzen Bekleidung. Farbige, gebogene Displays sind in das blank polierte Messing eingelassen. Über diese huschen immer wieder neue, bunte Folgen von Zahlen. Ab und zu erscheinen kurze Texte. Deren Schrift ist jedoch so klein, dass der Maler sie ohne eine Lesebrille nicht entziffern kann. Die ungewöhnliche Bekleidung des Mannes beunruhigt ihn nicht. Als Bewohner der großen, bunten Stadt ist er einiges gewohnt. Immer mehr Menschen tragen heute von Technik durchsetzte Kleidung. Ihm macht die tiefe Niedergeschlagenheit des Fremden Angst. Um das Eis zu brechen, spricht er ihn nochmals zaghaft an.
"Möchten sie vielleicht einen Keks essen? Der schmeckt zwar nicht, ist aber beruhigend. Und außerdem stammt er aus den Beständen der 'letzten, richtigen Armee'."
Bei dem Wort 'Armee' zuckt sein Sitznachbar merklich zusammen. Dann beginnt er zu sprechen. Zuerst sind die Worte von Pausen unterbrochen und so leise, dass der Maler ihn nicht verstehen kann. Langsam werden die Worte des Fremden deutlicher, verständlicher.
"... da war Blut - Unmengen von Blut - dampfend ..."
Die Erinnerung an das erst kurz zuvor Erlebte lässt den Mann frösteln. Er schüttelt sich leicht und die unheimlichen, schwarzen Keramikplatten auf seinem Anzug, die keinen Lichtstrahl reflektieren, stoßen leise klackend aneinander.
"... und dann waren diese grausamen Schreie in der Luft - überall, ununterbrochen - schreckliche Todesschreie..."
Was er hört und versteht, macht den Maler unruhig. Solche Erlebnisse hätten ihn auch verstört. Wahrscheinlich könnte er nicht einmal mehr hier sitzen und davon berichten. War der Mann Zeuge eines schrecklichen Unfalls? Wie ist er überhaupt hierher gekommen? Er muss von der anderen Seite des Marktplatzes auf das seltsame Feuerwerk zugegangen sein und stand nach dessen Erlöschen dem Maler gegenüber. Ihm ist nicht klar, warum er den Verursacher der Lichterscheinung selbst nicht gesehen hat. Trotzdem ist diese Erklärung hinreichend logisch und stellt ihn vorerst zufrieden.
"... die Augen aus dem abgeschlagenen Kopf blickten durch mich hindurch ... da war keine Hoffnung mehr ... erloschen ..."
Der Maler springt erschrocken auf. Das kann er sich nicht vorstellen. Mit geweiteten Augen und erhobenen Händen, bereit für den Griff zu den beiden Pumpguns auf seinem Rücken, steht er vor dem Fremden.
"Wo, hier?"
"Ja", ist die traurige Antwort, die anschließend eine seltsame Ergänzung erfährt: "Als der brutale Landsknecht mit dem blutigen Degen auf mich stürmte, bin ich geflüchtet. Ich konnte niemanden retten..."
Der Maler senkt seine Hände wieder, er hat instinktiv überreagiert. Das geschilderte Szenario ist zu unwahrscheinlich. Landsknechte und Degen, auch noch blutige, sind hier nun wirklich nicht zu erwarten und einen schrecklichen Unfall mit vielen Verletzten hätte er ganz sicher bemerkt. Polizei und Rettungswagen wären nicht zu überhören. Vielleicht ist sein Gegenüber geistig verwirrt? Nein. Da spricht seine Kleidung gegen: Jemand, der schon in der realen Welt Wahrnehmungsprobleme hat, verstärkt diese nicht noch durch das Hinzufügen virtueller Ebenen. Der schwarz gekleidete Fremde ist wieder in sich zusammengesunken. Sein Gesicht verbirgt er in den Händen und stützt den Kopf mit den Unterarmen auf den Knien ab.
"Das ist jetzt und hier geschehen?", versucht der Maler vorsichtig die Situation zu klären.
Er möchte den Mann aus der Depression reißen, ihn irgendwie in die ungefährliche, nächtliche Wirklichkeit zurückholen. Die Antwort, die nicht wirklich etwas klärt, bekommt er einige Augenblicke später.
"Ja, vor nicht einmal zehn Minuten. Genau hier auf diesem Markt, an dieser Stelle, am 21. April 1631."
"April 31 - siebzehntes Jahrhundert? Wir haben jetzt November 2013! Da liegen mehr als zehn Minuten dazwischen."
Nun glaubt der Maler doch wieder an eine geistige Verwirrung des Mannes, der so plötzlich und unerwartet vor ihm auftauchte. Sind hier in der Nähe nicht Kliniken, in denen geistige Erkrankungen behandelt werden? Vielleicht sind diese Messingmanschetten moderne Messgeräte zur Überwachung von Kranken? Dann ist der Fremde dort Patient und in seiner Verwirrung irgendwie in die Novembernacht nach Storkow geraten. Was soll er nun tun, wie bekommt er den Patienten in sein Krankenhausbett zurück? Er ist 'Der Maler' - ein Gang zur Polizei ist für ihn vollständig unmöglich. Das erweist sich zu seinem Glück schnell als unnötig.
"Ja, und für mich liegt das nur zehn Minuten zurück. Ich war dort."
"Dort? Mann! Da tobte der Dreißigjährige Krieg! Selbst wenn man es könnte, da geht man nicht freiwillig hin! Ich hoffe, diese Zeit ruht für immer in der Vergangenheit", antwortet der Maler ungläubig und entsetzt.
"Nein, leider nicht. Wenn es nach den Warlords der heutigen Zeit ginge, würde es jetzt wieder geschehen."
"Warlords?", fragt der Maler interessiert, vorsichtig forschend und leise.
"Ja, gierige Politiker, korrupte Verwaltungsleiter, Kriminelle ... all die Organisierten."
Der Maler empfindet diese Erklärung als gefährlich. Ja, das ist so, das weiß er nur zu genau. Gegen diese von Gier und Machtwahn zerfressenen Elemente der Gesellschaft zieht auch er täglich zu Felde. Und genau hier liegt das Problem: Er kennt alle seine Mitstreiter, die zumeist in der Anonymität leben und allein operieren. Selten sehen sie sich untereinander. Die Treffen sind meist zufällig und kurz. Trotzdem wissen sie sehr genau, wer alles in ihrer Liga spielt. Der Untergrund kennt sich und geht sich aus dem Weg. Von einem in eine schwarze Rüstung gekleideten Kämpfer für die Gerechtigkeit hat er noch nie etwas gehört. Die professionelle Erscheinung des Fremden bestärkt ihn in der Vermutung, dass das kein Anfänger ist, der sich erst heute entschlossen hat, sich für Recht und Freiheit aufzuopfern. Auch dessen Erscheinen während des ungewöhnlichen Feuerwerks kommt ihm jetzt seltsam vor.
"Sage mir, wer du bist!", fordert der Maler direkt und etwas lauter.
Er versucht, seiner Stimme Nachdruck zu verleihen, um den Gegenüber zur Bekanntgabe seiner Identität zu verleiten. Ihre scheinbar gleiche Beschäftigung erzeugt eine Nähe, die ihn unwillkürlich zum 'du' übergehen lässt. Er muss wieder einige Augenblicke auf eine Antwort warten. Dieses Mal hat er jedoch das Gefühl, dass der Fremde nicht wegen einer tiefen Verstörung zögert. Er scheint nicht gern über sich selbst zu sprechen. Nun, welcher Anonyme erklärt sich schon gern?
"Die wenigen, die mich kennen, nennen mich 'Der Surfer'."
"Surfer? Hier gibt es keinen passenden Strand mit hohen Wellen in der Nähe..."
"Nein, ich surfe auf den Wellen der Zeit - timesurfer", ist die etwas unwillig vorgetragene Erklärung.
'Unwahrscheinlich existent' zu sein, hat viele Vorteile. Dieser Zustand ist jedoch nur mit viel Zeit und Mühe erreichbar und sein Erhalt erfordert ebenfalls große Anstrengungen. Fragen solcher Art zu beantworten, ist für dieses Ziel nicht förderlich. Wenn er sich als Zeitreisenden bezeichnet, erwartet er im Normalfall Ungläubigkeit als Reaktion. Die meisten Menschen halten ihn für nicht ganz zurechnungsfähig, sehen ihn freundlich an, gehen auf Distanz und entfernen sich schnell. Der Mann mit dem verschmutzten Trenchcoat scheint jedoch gar nicht erstaunt zu sein. Er hat bereits Erfahrungen mit Zeitreisenden gemacht und glaubt ihm diese Erklärung deshalb.
"Was, das kannst du? Du kannst genauso wie die Tambourette durch die Zeit reisen?", platzt der Maler auch sofort interessiert heraus.
Er setzt sich wieder auf die Bank neben den Zeitreisenden, diesmal etwas näher. Jetzt ist der jener an der Reihe, erstaunt zu sein. Damit, einem Menschen zu begegnen, der die Tambourette traf, hat er heute nun wirklich nicht mehr gerechnet.
"Du kennst sie, die Tambourette?"
"Ja, ich habe das ewige Kind vor wenigen Stunden getroffen. Sie hat mir auf meiner Flucht geholfen, hat mir den Weg aus dem Wald und nach Storkow gewiesen."
"Nur um die Tambourette zu treffen, bin ich nach Storkow gekommen und in das Jahr 1631 gesprungen. Damals, am 21. April, ist sie hier verschollen, hat sich im Wald verlaufen. Da und hier war der Beginn ihres mystischen Martyriums. Ich möchte ihr gern helfen. Vielleicht kann ich sie zurückbringen", und nach kurzer Unterbrechung fügt er leise hinzu: "Leider ist mir nicht die Tambourette, sondern die Apokalypse begegnet."
"Das mit dem abgeschlagenen Kopf und dem Blut und dem Landsknecht ist also wahr?", fragt der Maler vorsichtig und besorgt.
"Ja", und wieder nach einer kurzen Pause: "... ich bin mitten in eine unvorstellbar brutale Plünderung geraten."
"Oh Gott!"
"Der hilft nicht - weder damals, noch heute. Du kannst dir keine Vorstellung von dem schrecklichen, unmenschlichen Grauen machen, das ich erblickte", antwortet der Zeitreisende prompt und fest. Nachdenklich ergänzt er: "Ich war nur fünf Minuten dort. Die Menschen, die damals hier wohnten, mussten das mehrere Jahrzehnte erdulden und die meisten haben es nicht überlebt. Da sprechen wir heute von Traumata nach Katastrophen. Das muss damals zu einem gesamtgesellschaftlichen Megatrauma geführt haben, schließlich war es ein Leben in der Hölle. Sie wurden für ihre pure Existenz bestraft. Wie konnten diese Menschen sich noch von Priestern mit dem Heraufbeschwören von endlosen 'Höllenqualen' gängeln lassen? Sie mussten genau das bereits erleiden..."
"Weißt du, die Tambourette hat mir auf unserer gemeinsamen Wanderung viel über ihre Erlebnisse erzählt. Es waren einige sehr schreckliche darunter. Sie hat jeden der Kriege, die das Dahmeland - diesen Teil der Mark Brandenburg - heimsuchten, mehrfach erleben müssen. Da sie nicht freiwillig und absichtlich durch die Zeit reist, weiß sie nicht, wohin sie das nächste Mal geworfen wird. So quält ihr Fluch sie immer wieder mit zufälligen Sprüngen in eine der grausamen Auseinandersetzungen."
Der Maler greift in die rechte Außentasche seines Trenchcoats und holt den Kompass hervor, den die Tambourette ihm schenkte. Er klappt den Messingdeckel auf, um das darauf geprägte Hakenkreuz nicht betrachten zu müssen und hält das einfache Navigationsinstrument in das Licht der Laterne. Glas und metallener Rahmen funkeln in der schwachen Beleuchtung.
"Sieh hier, das hat sie mir geschenkt, damit ich den Weg zur Straße finde. Den alten Kompass bekam sie von einem Soldaten, der während des Zweiten Weltkrieges hier im Kessel bei Halbe starb. Sie ist entkommen, der Soldat nicht. Er wurde sinnlos hergetrieben und hingeschlachtet. Sie konnte ihn auch nicht retten - das macht sie ebenfalls traurig."
Der Zeitreisende nimmt das Instrument in seine rechte Hand und betrachtet es nachdenklich. Es wird wirklich nicht einfach, die Tambourette zu treffen. Wenn sie immer wieder zufällig in andere Zeiten gestoßen wird, gelingt ihm das vielleicht nie. Woher soll er wissen, wann und wo sie auftaucht? Ob er ihr überhaupt helfen kann? Ihr Schicksal passt nicht in seine Sicht auf die Physik der Zeit. Seine einzige Chance ist, Menschen zu finden, die sie bereits getroffen haben und dann zu einer solchen Begegnung ebenfalls zu erscheinen. Der Mann mit den beiden Gewehren ist eventuell die erste Möglichkeit für eine solche Begegnung. Wobei die Einsamkeit einer herbstlichen Nachtwanderung an der Dahme keine einladende Umgebung zu sein scheint. Wahrscheinlich würde er das Mädchen mit seinem Erscheinen erschrecken. Er muss also nach anderen Menschen suchen, die das ewige Kind in der Öffentlichkeit trafen. Dort wird es kein Problem darstellen, wenn er hinzukommt.
Plötzlich tritt eine farbliche Veränderung in ihrer Umgebung ein. Irgendetwas färbt sich rot, leuchtend rot. In der trüben, dunklen Novembernacht ist der neue Schein nicht zu übersehen. Der Maler bemerkt sofort, dass sich in das gelbliche Licht der Laterne ein roter Farbton mischt, kann die Ursache jedoch nicht erkennen. Er unterbricht den Bericht von seiner Begegnung mit der Tambourette und sucht die Umgebung mit den Augen ab. Nichts - er findet nichts. Als er sich wieder dem Zeitreisenden zuwendet, fällt ihm auf, dass dieser durch irgendetwas abgelenkt ist. Die Pause im Redefluss seiner Erzählung scheint der schwarz gekleidete Banknachbar gar nicht bemerkt zu haben. Er wirkt aufgeregt und in sich gekehrt. Die Welt um ihn herum hat er ausgeblendet. Dann fällt es dem Maler auf: Dort, wo der Zeitreisende noch kurz zuvor eine große, breite und dunkle Brille trug, glimmen jetzt zwei überdimensional große Augen in einem tiefen, höllischen Rot. Erschrocken springt er von der Bank auf und tritt zwei Schritte zurück. Sitzt dort ein Dämon mit rot glühenden Riesenaugen auf der Bank? Fasziniert, gleichzeitig verunsichert und erschrocken kann er den Blick nicht von diesen Augen wenden. Mit hastigen Bewegungen tippt der Zeitreisende abwechselnd auf die Displays der linken und rechten Ärmelmanschette. Diagramme, Zahlenkolonnen und Texte laufen über diese. Als der Maler farbige Schriften in den glühenden Augen erkennen kann, beruhigt er sich etwas. Es sind die Gläser der Schutzbrille des Zeitreisenden, die rot leuchten und nicht die Augen eines Dämonen! Beängstigend und erschreckend ist das trotzdem: Was hat diese Veränderung bewirkt? Vorsichtig nähert sich der Maler wieder der Bank und setzt sich in sicherem Abstand zu seinem neuen Bekannten. Der Zeitreisende hat diese Bewegung mitbekommen und beginnt, seine Umwelt wieder wahrzunehmen.
"Die Anomalien haben mich abgelenkt, entschuldige..."
"Anomalien?", fragt der Maler vorsichtig.
Der sieht sich, wieder etwas erschrockener, nach allen Seiten um. Obwohl und weil er nichts entdecken kann, ist er beunruhigt. Sind eventuell die marodierenden Söldner des Dreißigjährigen Krieges dem Zeitreisenden gefolgt und durch die Zeit gebrochen? Zu seltsam waren die letzten Minuten. Er weiß nicht mehr, ob er seinen Sinnen vollständig trauen kann. Stockend, da abgelenkt durch seine Ärmeldisplays, antwortet der Zeitreisende erst nach einigen Augenblicken voll quälender Ungewissheit.
"Mein Anzug hat sich mit den aktuellen Tagesinformationen vollgesogen. Das dauert leider einige Minuten, da die Kommunikationsnetze deiner Zeit nicht besonders schnell sind."
"Das ist anormal und lässt die Brille rot leuchten?"
"Nein, entschuldige. Der Anzug, das heißt, die vielen Computer darin, vergleicht diese Information mit der, die er schon vorher über den heutigen Tag hatte."
"Hä?"
"Na Informationen, die ich in der Zukunft über heute bekommen habe."
"Okay?"
"Egal - er vergleicht sie und sucht nach Ungleichheiten, Verwerfungen - Anomalien eben."
"Hmm, da haben wohl einige Journalisten unsauber gearbeitet. Das ist normal, kenne ich zur Genüge", stellt der Maler beruhigt fest und atmet entspannt aus.
"Nein, es geht um wirklich eingetretene Veränderungen. Die kleinen Schwindeleien finden die Computer von allein und filtern sie aus. Treten Anomalien auf, dann weist mich das System darauf hin - unter anderem mit einem roten Leuchten in der Brille."
"Sollte mich das beruhigen? Sind diese Anomalien vielleicht gefährlich?"
"Kann man so nicht sagen ... irgendetwas hat sich im Verlauf der Zeit verändert. Das mag gut oder schlecht sein. Es ist auf jeden Fall anders."
"Ja und?"
"Mann! Du verstehst aber auch gar nichts! Da hat jemand den Verlauf der Ereignisse manipuliert! Wäre ich das gewesen, hätte die Brille gelb aufgeleuchtet. Es muss also jemand anderes gewesen sein - ein anderer Zeitreisender eventuell..."
Nachdenklich blickt der Zeitreisende auf den Maler. Dieser ahnt, woran sein Gegenüber denkt.
"Kann die Tambourette die Anomalien ausgelöst haben?"
"Dachte ich zuerst auch, erscheint mir aber immer unwahrscheinlicher. Sie springt nicht von sich aus durch die Zeit - diese verschiebt das Mädchen und ich habe noch nie gehört, dass sie irgendwo gehandelt hätte."
"Dann gibt es noch andere Surfer, die auf der Zeit reiten?"
"Ja, sehr wahrscheinlich. Es wäre seltsam, wenn ich über eine Zeitspanne von Jahrtausenden der einzige Mensch wäre, dem diese technische Entwicklung gelungen ist. Bisher habe ich noch niemanden davon getroffen. Die Erde ist nun einmal groß und die Zeit unendlich ausgedehnt..."
"Und warum willst du die anderen finden?"
Der Zeitreisende blickt den Maler an und dieser hat trotz der undurchsichtigen Brillengläser den Eindruck, dass sehr viel Trauer in dem Blick liegt. Die Antwort bekommt er erst eine Minute später und nach einem kräftigen Ausatmen.
"Ich suche eine Familie. Zeitreisen machen einsam, sehr einsam ... erzähle mir mehr von der Tambourette. Sie ist das einzige Familienmitglied, von dem ich bisher hörte."
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Während der Zeitreisende den Kompass im schwachen Laternenlicht hin und her wendet und über sein weiteres Vorgehen sinniert, spricht der Maler weiter über seine Begegnung mit der Tambourette und die gemeinsamen Wanderung über die nächtlichen Dahmewiesen. Am Ende berichtet er, wie das Mädchen ihm den Kompass schenkt und kurz darauf auf der Brücke über dem Wehr der Hermsdorfer Schleuse verschwindet, sich einfach im Nichts und der Zeit auflöst. Währenddessen entwickelt sich eine Frage im Hirn des Zeitreisenden. Zuerst ist es nur eine kleine Unregelmäßigkeit in seinen Gedankengängen, die dann schnell zu einer Unsicherheit heranwächst und endlich zu einer schwerwiegenden Frage mutiert. Wer ist dieser Mann, der hier neben ihm auf der Parkbank sitzt? Er trägt zwei Gewehre bei sich und flüchtet in einer feuchten, kalten Nacht durch die märkischen Wälder.
"Sag, wer bist du eigentlich, dass du dich in einer Novembernacht im märkischen Wald verstecken musst?", fragt er nachdenklich.
"Nun - Herr 'Surfer' - ich bin 'Der Maler'", antwortet sein Banknachbar lächelnd.
"Oh! Von dir habe ich gehört!", der Zeitreisende ist beruhigt, dies erklärt die Flucht seines neuen Bekannten: "In den Erzählungen warst du jedoch immer etwas ... sauberer."
Der Maler sieht an sich hinunter und beginnt laut die Flecke in seinem Mantel zu zählen. Bei 'zwölf' hört er damit auf, blickt zum Zeitreisenden und dann zu einem touristischen Wegweiser, der neben der Bank steht.
"Upps - ist mir passiert. Deshalb möchte ich jetzt auch nach Hause, nach Berlin zurück. Leider werde ich auf dem Bahnhof bis in die Morgenstunden warten müssen. Wenn du möchtest, kannst du mich begleiten. Ich wasche die Farbe aus deinem Anzug, geht bei 30 Grad."
Der Zeitreisende hat den orangen Fleck auf seiner Jacke bereits vergessen. Nun ist er an der Reihe, an sich hinunterzublicken. Er betrachtet und berührt den großen Farbklecks auf seiner Brust. Der ist inzwischen etwas angetrocknet. Die Farbe aus der Markiererkugel fühlt sich an den Fingern zäh an, bleibt an ihnen kleben und zieht Fäden.
"Pfui! Zuerst dachte ich, das ist Blut...", dann ergänzt er entsetzt und erleichtert zugleich: "... das ist ja Glibber!"
"Kein Problem, das lässt sich auswaschen", wiederholt der Maler.
"Nein, nicht nötig..."
Der Zeitreisende wischt sich mit einem Tuch die Farbe von den Fingern und anschließend streicht er sich kurz über die linke Ärmelmanschette. Einen Augenblick später zerfällt der Farbfleck in viele kleine Partikel, die dann von der Jacke abgesprengt werden und eine kleine Staubwolke bilden. Der orange Staub rieselt langsam auf die Pflastersteine des Marktplatzes. Irritiert sieht der Maler ihnen hinterher.
"Das ist nicht normal, oder?"
"Für mich schon - die selbstreinigende Faser wird in fünfzehn Jahren erfunden. Einige Tage musst du noch warten und waschen."
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Beide stehen annähernd gleichzeitig auf, sehen sich erstaunt an und beginnen zu lächeln.
"Ich werde dann einmal zum Bahnhof gehen und nachsehen, ob es dort eine überdachte Bank zum Schlafen gibt, bis der erste Zug kommt."
"Bestimmt findest du diese. Ich suche mir eine Herberge für eine Nacht."
"Wie? Jetzt, nach Mitternacht, ist doch keine mehr geöffnet, oder?"
"Nun, ich manipuliere etwas an der Zeit und bin dann an einem angenehm warmen Sommernachmittag wieder hier. Da haben alle Vermieter geöffnet..."
"Ach so? Na, hoffentlich 'verspringst' du dich nicht wieder."
Beide gehen langsam in unterschiedliche Richtungen auseinander, der Maler zum Bahnhof und der Zeitreisen zu einer dunklen, abgelegenen Ecke, in der er niemanden mit seinem Zeitsprung stört. Jeder hat seine eigenen Erlebnisse aufzuarbeiten und ihre Tage waren länger als üblich. Wenige Schritte später dreht sich der Maler noch einmal um.
"Ähm, falls dir zwei transnistrische Wissenschaftler begegnen, steig' besser nicht in ihr Auto. Die sind wirklich verrückt", ruft er zurück zum Zeitreisenden, dreht sich um und geht ohne weitere Erklärungen in Richtung des Storkower Bahnhofes davon.