Attila (ver-)zweifelt
Alle Wege beginnen und enden im Dahmeland
Tambourette
und keiner führt mich jemals hinaus.
Der Drohnenfänger kann auf den kurvigen, holperigen Straßen des Dahmelandes nicht schnell gefahren werden. Rechts und links der Fahrbahn wechseln sich Wälder, Wiesen und Seen ab. Die Novembersonne steht bereits tief. Sie sendet nur noch schwaches Licht durch den Dunst des Nachmittags, den Wald und die Alleebäume. Diese stehen eng und mächtig neben den Straßen. Noch tragen sie ein wenig grünes Laub. Das meiste hat sich bereits braun und gelb verfärbt und ist auf die Fahrbahn gefallen. Von dort wird es meist an den Rand geweht. Die Schleppe aus Luftwirbeln, die der aerodynamisch ungünstig geformte Transporter hinter sich herzieht, saugt das braune Laub von den Straßenrändern wieder an, wirft es in die Luft und bringt einen Teil davon zurück auf die Fahrbahn. Am Straßenrand stehen lustige Schilder mit Autos, die gegen Bäume fahren und lange Splitter aus diesen hobeln. Sie sind mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen kombiniert. Die 70 Kilometer pro Stunde dominieren eindeutig. Attila kann fast nie schneller fahren. Die Straßen und der Transporter sind einfach nicht dafür gebaut und das Laub macht den Untergrund unsicher.
Ein kleines Dorf folgt dem nächsten. Zuerst steuert Attila den alten Transporter holpernd über Katzenköpfe in Blossin und dann über die in Kolberg. Er und der 'Maler' schweigen sich an. Nur der Motor, der sich nach der anstrengenden Autobahnfahrt erholen darf und die polternden Fahrgeräusche der Räder sind zu hören. Ab und zu wird die akustische Eintönigkeit von einem leisen Piepsen und Glucksen aus dem Fond unterbrochen. Der 'Maler' wendet sich um und sieht die Reihen mit den Messgeräten. Farbige Leuchtdioden blinzeln ihn wie Augen von Raubtieren aus dem Dunkeln an. Er zuckt zurück und prallt wegen seiner gezwungenen Sitzhaltung mit dem Hinterkopf gegen die Frontscheibe. Die Futterale auf seinem Rücken vermindern seinen Freiraum für Bewegungen erheblich. Sich die Stoßstelle am Kopf reibend, versucht er die leuchtenden Mitfahrer besser zu erkennen. Dass sie nicht belebt sind, beruhigt ihn.
"Was soll denn das dort sein?", er deutet mit der rechten Hand über seine linke Schulter in den hinteren Teil des Wagens.
"Ich sagte doch, das ist so ein Matz-'elemec'-Ding", antwortet Attila.
Seine Stimme klingt gepresst. Er ärgert sich, dass er sich vom 'Maler' hat überreden lassen, ihn mitzunehmen. Wirklich nicht gut ist die fehlende Verabredung eines Ausstiegspunktes. Wenn sein Mitfahrer nicht vor Eintreffen auf dem Spreewaldhof den Drohnenfänger verlassen hat, dann weiß er nicht, wie er Matz das erklären soll. Attila möchte Matz gar nichts erklären müssen, er möchte ihn dieses Mal nicht wieder enttäuschen, er möchte den 'Maler' vorher aussteigen lassen und die eigene Mission ruhmreich beenden. Der 'elemec' lebt nicht umsonst so zurückgezogen. Gäste mag er nicht, da er die Sammlung in seinem Haus nicht jedem zeigen möchte. Matz sagt immer, das lockt nur Geheimdienste oder noch Schlimmeres an. Die sind klebrig wie alter Kaugummi an den Schuhsohlen und man kann sich ihrer nur mit viel Arbeit wieder entledigen. Attila möchte sich nicht weiter unterhalten. Er möchte darüber nachdenken, wie er den 'Maler' aussetzen kann. Seine Aufmerksamkeit wird vom nächsten Ortseingang auf ihrer Fahrt in Anspruch genommen, er nutzt dies als willkommenen Vorwand für die Fortsetzung des Schweigens.
Die Straße führt einen leichten Hügel hinunter. Das vorbeihuschende Ortsschild - in ungefährlicher Originalgröße - verkündet: Prieros. Noch bevor Attila in seinen Erinnerungen auf der virtuellen Gedächtniskarte diesen Ort finden kann, erschreckt ihn ein weiteres Hinweisschild. Eine Kreuzung ist ausgewiesen und links führt die Straße nach Storkow! Die Entscheidung ist eindeutig und kommt ohne weiteres Überlegen zustande: Er wird rechts abbiegen, ganz egal wo ihn das hinführt. An der Kreuzung versucht Attila nicht einmal zu bremsen. Ohne auf den Verkehr zu achten, biegt er sofort nach rechts auf die neue Straße ab. Der Drohnenfänger schaukelt gefährlich, der 'Maler' klammert sich an seinem Sitz fest und zwei Räder sind kurzzeitig ohne Bodenkontakt. Die Stoßdämpfer des alten Wagens krachen, als die Reifen wieder den Asphalt berühren. Beide Insassen werden durchgeschüttelt, pendeln auf ihren Sitzen hin und her und stoßen unter dem Rückspiegel schmerzhaft mit den Köpfen zusammen. Ein vereinzeltes, aus der Storkower Richtung kommendes, Auto muss hastig Platz für sie freigeben. Der Fahrer bremst scharf, weicht auf die Gegenfahrbahn aus und lässt die Hupe seines Wagens quäken. Attila interessiert das nicht, er fährt unbeirrt die Auffahrt zur Brücke über die Dahme hinauf.
"Sage 'mal!", presst der 'Maler' hervor.
"Storkow", ist die kurze Antwort Attilas. Aus seiner Sicht erklärt das alles.
Trotz des Erfolges bei der Baumsuche scheint dieser nicht Attilas Tag zu sein. Alles läuft ihm aus dem Ruder. Er verliert immer wieder die Kontrolle über den Fortgang der Ereignisse. Ganz besonders seltsam ist das wiederholte Auftauchen des Ortes seiner letzten Qualen während seiner heutigen Mission.
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Wenig später tauchen Wegweiser auf, die Attila die Richtung zum Spreewald zeigen. Er durchquert gemeinsam mit dem 'Maler' die Dubrow, das Herz des Dahmelandes und bewegt sich zu dessen südlicher Grenze. Nach einer langen Fahrt durch tiefe Wälder nähern sich die beiden Flüchtenden dem nächsten Ort. Wieder erscheint ein Ortseingangsschild, wieder erschrickt Attila und wieder kommt es zu einer unterbewussten Notbremsung: Märkisch Buchholz. Er verflucht sein Unterbewusstsein, aber hat es nicht Recht? Hier, in Märkisch Buchholz, ist er vor wenigen Monaten von Drohnen verfolgt aus dem Bus geflüchtet, von Drohnen verfolgt ist er zum Dahme-Umflutkanal geflüchtet und von Drohnen verfolgt ist er aus dem Ort geflüchtet. Immer nur die wildgewordene Technologie und immer nur Flucht, Flucht, Flucht. Er fühlt sich den unsichtbaren Verfolgern ausgeliefert. Bisher hat sich ihm nie jemand zu erkennen gegeben, der hinter dem technischen Wahnsinn steckt. Gemeinsam mit diesem sich verstärkenden Gefühl der Hilflosigkeit kehrt die Wut in ihn zurück. Doch dieses Mal ist die Wut eine andere. Attila spürt, dass er jetzt und hier sein Trauma überwinden kann. Noch bevor der 'Maler' sich über den abrupten Halt beschwert, tritt er so kräftig auf das Gaspedal, dass es mit einem deutlich hörbaren 'Klack' gegen das Bodenblech prallt. Er lässt den Motor aufheulen, kuppelt ein und mit einem Bocksprung stürzt sich der Drohnenfänger auf die Straße und in den Ort.
Im Ort erwartet Attila die nächste Überraschung. Wieder ein Wegweiser und wieder steht 'Storkow' als eines der ausgewiesenen Ziele auf dem großen, gelben Schild. Da er von seiner Flucht aus Storkow durch Märkisch Buchholz gekommen ist, erstaunt ihn das jetzt nicht. In der ersten Sekunde erwartet er noch eine Wiederkehr seines Technologietraumas. Es bleibt jedoch aus und wird durch eine noch stärkere Wut ersetzt. Sie drängt ihn zu einer bewussten, überbetonten Aktion und er schaltet das grüne und das violette Rundumlicht ein. Die Sonne ist verschwunden und das Licht des Tages mit ihr auch. Wild und bunt flackert der Schein der Rundumleuchten auf der Straße und an den Hauswänden. Der Drohnenfänger sprüht und leuchtet wie ein Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt, einfach nur mächtig bunt. Es entfaltet sich ein visuelles Schauspiel, das Attilas Gemütszustand verändert. In seine Wut mischt sich eine freudige Entschlossenheit. Der 'Maler' sinkt auf dem Beifahrersitz in sich zusammen, so gut ihm das seine verklemmte Sitzhaltung gestattet. Nach dem abrupten Start am Ortseingangsschild hat er angenommen, dass Attila die Fahrt wieder ruhig fortführt. Jetzt alarmiert ihn diese mehr als auffällige Beleuchtung. Der 'Maler' lebt seit vielen Jahren im Untergrund. Mit seinen Aktionen kennzeichnet er Verbrecher, Lügner, korrupte oder populistische Politiker und Beamte. In diesen weit verzweigten und eng verbandelten Kreisen hat er keine Freunde. Dort kennt, fürchtet und hasst ihn jeder. Somit muss er sich unerkannt bewegen, um nicht in eines der vielen, ausgelegten Fangnetze zu stolpern. Unerkannt ist nun aber nicht bunt blinkend. Er verharrt zusammengesunken auf seinem Sitz, in Erwartung weiterer Schrecknisse - und es kommt schrecklicher. Auf dem Höhepunkt seiner bereits ekstatischen und wütenden Entschlossenheit schaltet Attila die elektromechanische Schnarre ein. Mit einer eleganten Fingerbewegung schnippt er das kleine, blanke Hebelchen des Kippschalters nach oben. Das ohrenbetäubende 'Rrrrr - rrrrr - rrrrr - - - rrrrr - rrrrr - rrrrr - - - rrr...' ertönt wieder. Dieses Mal setzt Attila nicht den Hörschutz auf, da er fühlt, wie das laute Schnarren die letzten Reste des Technologietraumas aus seinem Hirn spült. Er genießt diese akustische Säuberung seiner Gefühlswelt in vollen Zügen.
Auf dem Beifahrersitz ergeht es seinem Mitflüchtenden ganz anders. Dieses infernalische Geräusch ist der Punkt auf dem 'i' von Information. Es informiert den gesamten Ort über ihre Ankunft. Jeder der anwesenden Einwohner muss ihre Anwesenheit jetzt zur Kenntnis nehmen! Dieser absurden, audiovisuellen Umweltverschmutzung kann niemand entkommen. Der 'Maler' fühlt sich beobachtet, erkannt, enttarnt. Zu seinem großen Entsetzen kann er sich auf seinem Sitz nicht noch kleiner machen, nicht verbergen. Der wenige Platz auf der Beifahrerseite und die Futterale mit den Paintball-Pumpguns, die er auf dem Rücken trägt, verhindern dies. Hastig irren seine Augen umher. Mit suchenden Blicken tastet er zuerst die Gehwege und dann die Fenster der umliegenden Häuser ab. Außer einem Fahrradfahrer, der sich schnell von ihnen entfernt, ist keine Bewegung, kein Mensch zu erkennen. Das beruhigt ihn nicht. Es mag sein, dass der Fahrer des seltsamen Wagens ebenfalls auf der Flucht ist: Er, der 'Maler', flüchtet anders. Er möchte jetzt nur noch aussteigen und aus dieser Flucht eines anderen flüchten.
"Halt! Ich will raus!", versucht er das Schnarren zu übertönen und reißt zur Verstärkung seines Wunsches am Ärmel der Jacke des Fahrers.
So hält Attila. Der 'Maler' steigt aus und geht grußlos in Richtung des Wehres am Dahme-Umflutkanal davon. Nicht einmal ein leichtes Winken leistet er sich zum Abschied. Beide glauben, dass sie sich nie wiedersehen werden. Sie wissen nicht, dass 'nie' bereits in einem halben Jahr enden wird.