Attila fährt
Es war ein flüchtiger Blick weit zurück in das arkadische Leben,
Nathaniel Hawthorne
oder noch weiter zurück in das Goldene Zeitalter...
Der Eiskratzer schabt über die befrorene Frontscheibe. Er hebt die Eiskristalle ab und schiebt kleine Streifen des weißen Pulvers zur Seite. Der Morgen ist kühl und klar, kein Nebel nimmt die Sicht auf den Kanal hinter dem Haus, die Wiesen hinter ihm und die kahlen Bäume am Ufer. Ihre blattlosen Äste werden durch den böigen Wind nur noch leicht bewegt. Erst in einigen Monaten werden ihre neuen Blätter ihm wieder ausreichend Widerstand bieten und die Luftbewegung von den Höfen fernhalten. Da es immer noch leicht friert, bleiben die Eiskristalle in den weißen Streifen erhalten. Beim Fahren werden sie zu Wasser, wenn die Wärme des Innenraumes auch die Scheibe aufheizt. Attila ist diese Handarbeit am Transporter ganz recht. In den Monaten vor seiner Flucht hat das sein Fahrer für ihn getan. Er war mobil und trotzdem zu hundert Prozent abhängig: kein Fahrer - keine Fahrt. Jetzt hat er zwar nur einen geliehenen Wagen, trotzdem kann er selbständig entscheiden wann, wie und wohin er fährt. Für die nächsten Tage muss er niemanden fragen oder sich aufwändig abstimmen. Für einen Menschen, der sich dauerhaft im 'Fluchtmodus' befindet, ist die mobile Freiheit ein hohes Gut. Neue Sichtweisen und die daraus resultierenden Erkenntnisse empfindet er seit Jahren als wichtig. So schabt Attila freudig und unermüdlich alle Fenster des Wagens frei.
Die Frontscheibe trägt bereits einige tiefe Risse in ihrer Oberfläche. Nichts endgültig Durchgehendes, es sind jedoch deutlich sichtbare Kampfspuren. Drei Kratzer ziehen sich quer über die gesamte Breite des Glases. Offensichtlich haben große, scharfe Messer diese Kerben in das durchsichtige Material gegraben. Attila vermutet, dass es die Propeller von Drohnen waren, die sich gegen ihre Gefangennahme zur Wehr setzten. Ja, das Arbeitsleben von Matz war wohl gar nicht ungefährlich. 'Dafür macht er aber einen wirklich ausgeglichenen Eindruck', denkt Attila und steigt in den Transporter. Während er zum Tor des Hofes fährt, geht er die Liste von Werkzeugen durch, die er eingepackt hat. In Gedanken hakt er die virtuelle Checkliste ab und bleibt bei 'Motorsäge' hängen. Hinter diesen Gedankeneintrag kann er keinen Haken setzen. Das ist erstens nicht schön und zweitens harmoniert es nicht mit dem Bild, dass er sich von seinem Eintreffen im Christbaumwald macht. Hat er dieses martialische Werkzeug nicht bei sich, kann er es nicht schultern und schweren Schrittes in die rote Nachmittagssonne schreiten, die gerade hinter dem magischen Wald untergeht. Das geht so gar nicht! Kurz entschlossen wendet er den Drohnenfänger und fährt die wenigen Meter wieder zurück, die er bereits seinem Ziel näher gekommen war. Hinter dem Transporter ist eine große, breite Wendespur auf dem gefrorenen Gemüsebeet zu erkennen. Da sich Attila im Herbst in den Tiefen des Spreewaldes verirrt hat, waren für ihn dort nie Mohrrüben zu sehen. Das war einfach nur ein ungenutztes Stück Boden.
Attila poltert in die Küche und bringt einen Schwall kalter Morgenluft mit hinein. Matz, der am Küchentisch sitzt und die Regionalzeitung studiert, fühlt sich genötigt, den Reißverschluss seines Pullovers bis zum Anschlag zu schließen.
"Du Matz, wo ist denn eigentlich die große Motorsäge? Die mit Benzin meine ich."
"Hab' ich nicht. Für solche Grobmechanik hatte ich bisher keine Verwendung."
"Und wie soll ich jetzt die Tanne fällen?"
"Attila, du sollst nur eine kleine Kiefer schlagen, nicht höher als anderthalb Meter. Das Beil dafür hast du bereits in den Transporter gelegt - hab' ich selbst gesehen."
"Das ist aber nicht sehr beeindruckend", antwortet Attila enttäuscht.
"Nein, aber es zähmte bisher immer alle widerspenstigen, technischen Artefakte."
"O.k., dann fahr' ich 'mal wieder."
Attila lässt betont den Kopf hängen und trottet durch die Tür. Sie fällt hinter ihm hörbar ins Schloss: Klack. Matz sieht auf. Während des Gespräches hat er nicht den Blick von der Zeitung genommen. Schließlich muss er Verwerfungen oder Unstimmigkeiten in den täglichen Nachrichten suchen, die auf eine Kollision von Menschen mit technischen Seltsamkeiten hindeuten. Das Entfernen dieser verdient ihm seinen Lebensunterhalt. Vor vier Jahren war das noch ein Hobby, welches etwas Nebeneinnahme erbrachte. Heute kann er bereits davon leben. So, wie sich die Technik entwickelt, wird er nicht mehr lange ohne Helfer auskommen. Ob Attila mit ihm gemeinsam auf die Technikjagd gehen würde? Die Motivation dazu hat er, nun muss er noch sein Drohnentrauma überwinden. Matz freut sich, eines hat er bereits erreicht: Attila ist beschäftigt. Es ist nur noch nicht entschieden, ob das gut und ohne weiteres Chaos ausgeht.
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Seit einer ganzen Reihe von Minuten fährt der bunt gefleckte Transporter auf engen, gewundenen Straßen durch den Spreewald. Einmal biegt er nach links und ein anderes Mal nach rechts ab. Attila passiert wiederholt einen alten Grenzstein.
Der verwitterte Sandsteinobelisk steht neben einer einsam gelegenen Kreuzung. Kein Baum spendet Schutz und Schatten und kein Hinweisschild leitet Reisende in die von ihnen gewünschte Richtung. Nur der alte Grenzstein wacht seit Jahrhunderten über diesen Ort. Eine seiner Seiten hebt sich markant von den drei anderen ab. Vor einigen Wochen hat eine Gruppe von Historikern diese von Moos, Algen und Flechten befreit. Auf der Suche nach geheimen Inschriften, haben sie sich einen ganz Tag mit Wasser, Pinseln, Schabern und Spachteln abgemüht. Sie haben jedoch nur die Gravuren alter Ortsnamen und wenige, einsame Meilenangaben gefunden. Ihre Aktion war in jedem Falle so erfolgreich, dass Attila den Stein bei seiner dritten Passage wiedererkennt.
"Mist! Habe ich mich doch verfahren!", schimpft er im Inneren des Wagens.
Attila hält neben dem Grenzstein. Hier steht kein Wegweiser, kein Hinweiszeichen, nichts. Er steigt aus, um sich besser orientieren zu können und betrachtet des Steines helle Seite, als ob sie ihm helfen könnte. Unwillkürlich liest er die Inschriften. Bei einem Wort bleibt sein Blick hängen: Storkow. Hier ist der Ort seines letzten Martyrium auf einem historischen Wegweiser vermerkt! Es schaudert ihn. Trotz seiner inneren Widerstände drängt sich ihm ein Gedanke auf: Storkow liegt außerhalb des Spreewaldes. Vorausgesetzt, der Stein ist im Laufe der Jahrhunderte nicht verdreht worden, führt ihn der Weg nach Storkow aus dem Spreewald hinaus. Soll er wirklich diesen Weg wählen? Alle anderen Ortsnamen sagen ihm gar nichts und schließlich ist Storkow eine Art Tor in das Dahmeland. Dieses muss er durchfahren, wenn er nach Mellensee, zum magischen Christbaumwald, gelangen möchte - glaubt er. Dunkle Erinnerungen an den Geruch von Rauch, nervige Drohnen und kalte Nächte drängen sich in sein Bewusstsein.
Attila ist kein Freund langen Überlegens und hinausgeschobener Entscheidungen. Kurz entschlossen springt er in den Transporter und folgt der Straße, die ihn nach Storkow bringen soll. Er vertraut der aus Vorzeiten stammenden Inschrift auf dem Grenzstein. Bei Falschangaben hätten vorhergehende Generationen das Kunstwerk wahrscheinlich bereits entfernt oder umgestürzt. Die Gedanken an sein Zwischenziel verdrängt er einfach - erst einmal fahren und dem Spreewald entkommen.