... und es bewegt sich doch!

Wer flieht, kann später wieder siegen!
Getötet bleibt man ewig liegen.

Samuel Butler

Die schwere Stange des Brecheisens rollt klirrend über den rauen Beton des Hallenbodens. Von den Wänden und der Decke des Hangars werden die lauten, hellen Geräusche vielfach reflektiert und verstärkt. Es sind die einzigen Töne, die in diesem Augenblick im großen Bunker zu hören sind. In ihnen schwingt leichte Depression mit. Trotz ihrer Lautstärke hinterlassen die Töne einen einsamen, leeren Eindruck. Wassili sitzt niedergeschlagen auf einer langen Metallrinne, lauscht dem vielfachen Echo des metallenen Klirrens hinterher und überlegt, ob depressive Gedanken und Gefühle ein Teil des unterirdischen Bauwerkes sind. Sie scheinen praktisch in ihm verbaut zu sein, wie einer der Stahlträger der Deckenkonstruktion oder der Mörtel zwischen den Ziegelsteinen der Zwischenwände. Er vermutet, dass der Putsch und die Weltrevolution im Jahr 1994 deshalb ausgeblieben sind. Er weiß zu seinem Glück nicht, dass der Bunker zufällig über einer mächtigen, unterirdischen Ader aus negativem Karma errichtet wurde. Diese ist während der letzten Tage des großen, sinnlosen Tötens in der Kesselschlacht bei Halbe entstanden. All das Leid, das sinnlos vergossene Blut der Soldaten beider Seiten und der Zivilisten, alle die Verzweiflung sind in den märkischen Sand gesickert und haben sich in der Tiefe gesammelt. Zusammen mit den giftigen Ideen aus der nahen, großen Stadt, die den schrecklichen Krieg auslösten, bildeten sie einen Speicher aus üblem Karma. Aufgrund eines weiteren Zufalles zog sich dieser in den nachfolgenden Jahren immer mehr unter einem Waldstück neben Wünsdorf zusammen. Das Reservoir negativer, karmischer Energie wird erst in einigen Jahrhunderten vollständig neutralisiert sein. Selbst dem phlegmatischen und nachgiebigen Sandboden der Mark Brandenburg, in dem sonst alles unwiederbringlich versickert, gelingt dies nicht schneller. Exakt in der Mitte dieser Ader, die randlos mit negativer, depressiver Energie gefüllt ist, haben die Putschisten ihr Versteckt in die Erde graben lassen. Da Wassili dies nicht weiß, sind ihm die tiefe Depression und das Verhalten seines Freundes ein Rätsel. Bisher hat er sich dem Einfluss dieser Energie entziehen können. Jetzt, da er keinen Weg, keine Brücke nach außen finden kann, da die Grube am Ende der Halle ihnen die Ausfahrt in die zum Greifen nahe Freiheit versperrt, beginnt die Depression auch ihn zu vergiften. Der letzte, konstruktive Rest seines Bewusstseins versucht die Frage zu klären, was die Putschisten für die Überwindung der Grube, die den Abhang verschluckte, geplant hatten. Wollten sie eventuell das große, tiefe Loch mit dem Sand und den Bäumen vollständig auffüllen? Dann könnte man mit dem ЗИЛ-157 einfach darüber hinweg fahren. Sechs angetriebene Räder lassen das problemlos zu. Nur leider haben Boden und Gehölze des Hanges die tiefe Grube nicht restlos befüllt. Mehr als zwei Meter fehlen noch bis zum Betonboden der Halle. Wassili stützt enttäuscht die Ellbogen auf seine Knie und legt den Kopf in die Hände. Eine traurige, kalte Welle an depressiven Gefühlen durchströmt ihn. Er fühlt, wie sein Herz langsamer und schwächer schlägt. Jegliche Kraft weicht aus seinen Muskeln, schlaff sinkt er in sich zusammen. Sein Körper fühlt sich alt, ohne Energie und knochenlos an. Er möchte sich nur noch zwischen die beiden unverrückbaren Metallschienen legen und das Ende der Welt erwarten.

In dem Augenblick, als Wassili seinen Oberkörper zur Seite neigt, um sich auf dem Beton auszustrecken und sich vollständig der Depression hinzugeben, hallt das laute Hupen eines Hornes durch den unterirdischen Hangar. Die traurige, trostlose und beklemmende Stille wird von dem schrillen Ton jäh zerrissen, ihre unsichtbaren Reste rieseln auf Wassili hinab, in Fetzen eines nur schwer erträglichen Quäkens gehüllt. Nach einer kurzen, lautfreien Erholungspause wiederholt sich das Hupen. Regelmäßig, rhythmisch füllt der Alarmton die gesamte Halle aus. Wassili drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Konstruktion des unterirdischen Hangars jedes Mal nach außen dehnt und in den Pausen wieder zusammenzieht. Die Folge von nervigen Tönen beschäftigt sein Hirn vollständig, lässt keinen Platz für depressive Gedanken. So hält ihn das Ereignis vom Ausstrecken auf dem Betonboden und dem Hinwegdämmern in einen traurigen, betäubenden Schlaf ab. Das quäkende und quälende Signal wird von den glatten Wänden des unterirdischen Bauwerks mehrfach reflektiert. Es gelingt ihm erst nach über einer Minute und mehr als fünf Wiederholungen, die Quelle ausfindig zu machen. Wie es nicht anders zu erwarten ist, entspringt das Hupkonzert dem Lastkraftwagen. Eine Alarmanlage kann nicht der Verursacher sein, da die altertümliche Technik nicht über solche Feinheiten verfügt. Sein Freund Jewgeni hat inzwischen die nächste Ebene der depressiven Verstimmung erreicht. Nur wenig trennt ihn noch vom Wahnsinn. Er sitzt nach wie vor auf dem Fahrersitz und lässt in zeitlich gleichbleibenden Abständen seinen Kopf auf die Narbe des großen Steuerrades fallen. Bei jedem Aufprall schlägt er mit der Stirn auf den Auslöser des Signalhorns, der sich in der Mitte des Lenkrades befindet. Nachdem er zehn Minuten Daueralarm über sich ergehen lassen hat, bekommt Wassili nicht den Eindruck, dass Jewgeni irgendwann damit aufhören wird. Er versucht seine eigene, seelische Verstimmung abzuschütteln. Irgendwie muss er seinem Freund helfen, ihn aus diesem psychischen Tief befreien. Als er sich aufrichtet und auf den Lastkraftwagen zugeht, steht plötzlich der Oberst der Infanterie wieder vor ihm. Wie es sich für einen Geist gehört, erscheint er von einem Augenblick auf den nächsten. Von 'materialisiert' kann man in diesem Falle nicht sprechen. Da das Abbild des Offiziers so unvermittelt und weniger als eine Handbreit entfernt, vor Wassili erscheint, kann er nicht mehr in gebührenden Abstand vor der Respektsperson stehen bleiben - mehr noch: Er stolpert in den Oberst hinein. Als herumgeisternder, farbiger Schatten bietet dieser natürlich keinen körperlichen Widerstand. Ausschließlich Photonen haben eine Interaktion mit dem Phantom. Wassili steht nun mitten in dem Geist. Es verwirrt ihn, dass er sich mit seinen Augen in dessen Kopf befindet und kein Hirn sieht, keine graue Masse, gar nichts. Dort ist einfach nichts, nur dunkle Leere.

"Upps - ist ja leer", ist seine unwillkürliche Reaktion.

"Au!", spricht es um ihn herum.

Wassili merkt deutlich, dass die Quelle des Schalls sich praktisch in ihm befindet. Der provozierende Ausruf kommt direkt aus seinem Inneren. Er ist physisch eins mit dem Geist. Beide Körper überlagern sich. Das verstärkt die irreale Wahrnehmung und das Gefühl des Verlustes der Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Er folgt diesem Gefühl, trifft auf einen neuen Gedanken und stellt an dessen Ende fest, dass ein Etwas ohne physische Existenz gar nichts fühlen kann. Warum benimmt sich dieses Abbild eines Offiziers dann so, als ob es Schmerzen hätte?

"Wirklich 'Au'?"

"Nein, nicht physisch ... funktioniert gerade nicht ... aber aus Prinzip und einfach nur so ... psychisch."

Wassili mag sich jetzt nicht von einem Geist necken und veralbern lassen. Zu seinem Glück wird zu diesem Zeitpunkt ihre Unterhaltung vom nächsten Hupen unterbrochen. Das gibt ihm einen Grund, das Innere des Geistes zu verlassen, sich von ihm 'abzunabeln'. Er hat das Gefühl, als ob diesem das gar nicht recht ist.

"Schade! Die Verkörperung hat mir gefallen. Ich konnte mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie sich das damals anfühlte."

"Sie haben mich gefühlt?", Wassili ist beunruhigt.

Nicht dass es auch noch so etwas wie eine Kreuzreaktion gibt und ein Teil des Scheinoffiziers in ihm verblieben ist. Dieser Gedanke beunruhigt ihn nicht nur. Das überschreitet eindeutig eine Grenze, hinter der das Gruseln beginnt.

"Hmm ... nein, auch das funktioniert gerade nicht ... wirklich schade."

Wassili atmet hörbar und erleichtert aus. Der Horror einer Geistersymbiose scheint ihm erspart zu bleiben. Er verspürt keine Lust, sich weiterhin mit etwas nicht physisch Existentem zu unterhalten. Das wie auch immer geartete Abbild des Oberst kann ihm nicht helfen, bei gar nichts.

"Dann ist es ja gut. Ich muss mich jetzt um meinen Freund und die Überquerung der Grube mit dem ЗИЛ kümmern. Tschüss!"

"Das wird auch Zeit, Jungchen! Springt einfach hinüber. Ihr nehmt mit dem ЗИЛ Anlauf - vom anderen Ende der Halle. Dann rast ihr an den Rand der Grube und springt mit dem Wagen hinüber."

"Unfug! Solch einen Infanterie-Schwachsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört!", tönt ein lauter Bass hinter ihnen.

Sowohl Wassili, als auch der vergeistigte Oberst, blicken sich erschrocken nach dem Sprecher um. Findet hier mit einem Mal eine Volksversammlung statt? Wo kommen die ganzen Menschen, Geister, was auch immer, ... jetzt mit einem Male her? Deutlich erkennbar und mit in die Hüften gestemmten Fäusten, steht dort der Oberst der Panzertruppen. Wassili rollt mit den Augäpfeln in den Höhlen. Was möchte der denn hier, ihn ebenfalls von dem Verlassen des Bunkers abhalten? Der deutliche Widerspruch reizt den Infanteristen.

"Und wie würdest du den ЗИЛ über die Grube befördern? Hast keine Ahnung vom Truppentransport. Hier geht es nicht um eine Fettpresse zum Schmieren der Ketten!"

"Du Angeber, Stoppelhopser, Kanonenfutter! Ich und keine Ahnung? Pah! Sprengen muss man - die Decken sprengen und die Grube auffüllen. Dann fährt man seelenruhig in die Freiheit."

"Sprengen? Du wirst dich dabei selbst begraben! Ach ja, ich vergaß: In deinem eisernen Sarg bist du ja schon begraben. Springen, sage ich!"

"Sprengen!"

"Springen!"

"Sprengen!"

"Springen!"

Wüste Beschimpfungen heraussprudelnd, laufen die beiden Erscheinungen aufeinander zu und gehen sich an die Gurgel. Natürlich treffen sie genau dort zusammen, wo Wassili in diesem Augenblick steht. Instinktiv springt er zur Seite und macht ihnen Platz, obwohl sie ihn gar nicht berühren können. Instinkte und lebenslang gemachte Erfahrungen bestimmen nun einmal unsere unterbewussten Handlungen. Während sich die beiden Offiziere gegenseitig würgen, schreien sie unablässig 'Sprengen!' und 'Springen!'. Wassili hat weder Augen noch Gedanken dafür, dass beide Oberste immer noch laut rufen können, obwohl sie sich schon geraume Zeit die Luft abdrücken. In das Geschrei der Geister mischt sich weiterhin das rhythmische Hupen des Lastkraftwagens. Jewgeni schlägt nach wie vor unablässig und in einer beängstigenden Gleichmäßigkeit mit seiner Stirn auf den Auslöser des Signalhorns. Die Erscheinungen, der Lärm, die unnatürliche Unruhe, das unterbewusste, depressive Gefühl - einfach die gesamte Situation - führen Wassili in den Zustand einer Reizüberflutung. Er reißt seine Hände nach oben und presst sie sich links und rechts am Kopf gegen beide Ohren.

"Aufhören ... aufhören ... hört alle auf ... verschwindet doch endlich ... ich möchte diesen Ort sofort verlassen ..."

Wassili taumelt von den streitenden Geistern hinweg, in das Dunkel der unterirdischen Halle hinein. Seine Hände dämpfen das akustische Chaos nur wenig. 'Springen!' - 'Sprengen!' - tut - 'Springen!' - 'Sprengen!' - tut - Springen!' - 'Sprengen!' - tut - ... in das Inferno scheint ein fester Rhythmus zu kommen. Wie ein Presslufthammer den stählernen Meißel langsam und stetig in tiefen, festen Beton treibt, bohrt sich diese Abfolge an Geräuschen schmerzhaft in Wassilis Hirn. Er nimmt die Umgebung kaum noch wahr. Da die Hände ihn nicht vor dem Wahnsinn und den Schallwellen schützen, ballt er sie zu Fäusten und schlägt mit diesen wiederholt gegen seine Stirn. Unbewusst verfällt er dabei in den gleichen Rhythmus, der ihm vom akustischen Chaos vorgegeben wird, das die Halle annähernd auszufüllen scheint. Den verbliebenen Freiraum darin belegt er mit klatschenden Schlägen und dem Ausruf seines letzten Wunsches: 'Springen!' - 'Sprengen!' - tut - klatsch - 'Aufhören!' - 'Springen!' - 'Sprengen!' - tut - klatsch - 'Aufhören!' - 'Springen!' - 'Sprengen!' - tut - klatsch - 'Aufhören!' - ... In den Pausen zwischen seinen Einsätzen rudert er wild mit den Armen durch die Luft. Auf der einen Seite versucht er das Gleichgewicht bei seinen ziellosen Bewegungen zu halten, auf der anderen Seite ist dies ein Teil des Wahnsinns, der sich in seinem gemarterten Hirn auszubreiten beginnt. Auf einem wilden Zickzack-Kurs irrt er durch den Bunker. Mehrere Male kommt er dem Abgrund der Grube gefährlich nahe. Verrückte scheinen jedoch über den gleichen, natürlichen Schutzmechanismus wie Traumwandler zu verfügen. Dieser bewahrt Wassili erfolgreich vor einem Sturz in die Tiefe. Im Gegenzug liefert er ihn leider weiter dem Schmerz in seinem Hirn aus.

Eine der zufälligen Richtungsänderungen seiner Wahnwanderung durch den unterirdischen Hangar führt Wassili zum von der Decke hängenden Tarnnetz, das vor vielen Jahren den hinteren Teil und die Grube verdeckte. Sind es ein Funke an Hoffnung oder einfach nur eine positive Wendung des Schicksals, die den Ausdünstungen der Ader des üblen Karmas trotzen, die sich tief unter ihm in der Erde der Mark Brandenburg befindet? Wassili wird das später nicht sagen können und letztendlich ist ihm das auch vollständig egal: Denn am Ende zählt nur das Ergebnis. Mit einer seiner wirren Armbewegungen verfängt er sich in dem Netz, das davon durchgeschüttelt wird. Sofort rieselt der Staub der letzten Jahrzehnte aus dem Gewebe. Wassili steht in einer schwach leuchtenden Wolke davon und verteilt die Partikel darin mit weiteren, wirren Bewegungen. Das wenige Licht der untergehenden Sonne, welches durch den gesprengten Ausgang dringt, lässt die Staubteilchen blass glimmen. Ein außenstehender Betrachter würde diese Erscheinung sehr wahrscheinlich andächtig bestaunen. Nicht so Wassili. Zuckend wickelt er sich immer weiter in den lockeren Stoff des Netzes ein, schüttelt weiteren Staub aus diesem und beginnt zu husten. 'Aufhören!' rufen und husten ist gleichzeitig unmöglich. Dieser simple Umstand rettet Wassili vor dem Wahnsinn - heute. Wie immer sind es in solchen Fällen nur eine Kleinigkeit, ein Zufall, die das Schicksal beeinflussen und bestimmen. Ein Hustenanfall unterbricht den Rhythmus des akustischen Infernos. Das Luftholen nach diesem und der Versuch, weiteres Husten zu unterdrücken, halten Wassili von der Fortsetzung der wahnsinnigen Handlung ab. Das schafft einen Freiraum in seinem Hirn, der nicht von dem beginnenden Irrsinn besetzt ist. Genau in diesem entsteht die Idee für einen Versuch der Befreiung aus den Falten des von der Decke hängenden Tarnnetzes. Wassili setzt diesen Gedanken sofort in die Praxis um, schließlich hat er im Augenblick nichts weiter vor. Befreit torkelt er rückwärts in die Halle hinein und betritt wieder die Gegenwart. Dabei stößt er gegen ein weiteres Relikt aus der Vergangenheit dieses seltsamen Ortes. Ein großer, eiserner Hebel ragt aus einem ebenfalls metallenen Kasten heraus. Genau genommen handelt es sich um eine Kurbel, die in Höhe von Wassilis Kniekehlen endet. Natürlich bleibt er mit den Füßen daran hängen und fällt nach hinten. Der Metallkasten verhindert, dass er das Gleichgewicht wieder findet und er schlägt rücklings hart auf den Boden.

"Aua! Muss das schon wieder sein?", beschwert sich Wassili.

Er sitzt auf dem Boden, massiert sich den Hinterkopf und betrachtet die große Kurbel. Ist das der Schlüssel für ihr Entkommen? In seiner verzweifelten Wut überlegt er nicht weiter, greift nach dem Hebel und beginnt die Kurbel zu drehen. Wie durch ein Wunder bewegen sich die beiden Metallschienen langsam und knirschend. Endlich hat sich ihm das letzte Puzzleteil ihrer Flucht offenbart!

****

Die Geister sind nicht mehr zu sehen. Mit ihnen ist auch das 'Sprengen!'-'Springen!'-Geschrei verschwunden. Nur Jewgenis fortwährendes Hupen hallt immer noch durch den unterirdischen Hangar. Er muss seinem Freund helfen, ihn aus der Depression reißen, seelisch wieder aufrichten. Seitdem Wassili die Kurbel und den Ausweg aus ihrer Situation gefunden hat, können die Ausdünstungen der Ader üblen Karmas ihm nichts mehr anhaben. Er hat die beiden Metallschienen über die Grube gekurbelt. Leider reichen sie nicht ganz bis auf die andere Seite. Zwei etwas schmalere U-Profile müssen über diese Schienen gezogen werden. Sie werden die Brücke über die Grube vervollständigen. Allein kann er dies jedoch nicht bewerkstelligen. Er benötigt die Hilfe seines Freundes. Doch der befindet sich in einer anderen Welt, weit jenseits der Realität.

Das Erwecken Jewgenis ist schwerer als gedacht. Er reagiert auf keinerlei Reize aus seiner Umwelt. Am Ende fällt Wassili nur eine Dusche mit kaltem Wasser ein. In einem sehr alten Film hatte er einmal gesehen, dass damit Geisteskrankheiten geheilt wurden. Ob das wirklich funktioniert und nicht einfach nur eine historische Irrung oder ein Filmfehler war, kann er nicht entscheiden. Dazu fehlt ihm die Zeit und eine bessere Lösung fällt ihm nicht ein, also klammert er sich an den letzten Gedanken, der sich ihm bietet. Da er kein sauberes, frisches Wasser in dem Bunker findet, behilft er sich mit kaltem Wodka. Schnell ist der Inhalt einiger Flaschen in einen Zinkeimer gegossen. Er schüttet etwa fünf Liter der klaren Flüssigkeit seinem Freund in einem der Augenblicke über den Kopf, in denen dieser mit seiner Stirn auf den Auslöser der Hupe schlägt. Ölig läuft der Wodka über dessen Haare und tropft langsam zu Boden. Dort mischt er sich mit dem Staub und den Glassplittern, die sich im Fahrerhaus des Lastkraftwagens gesammelt haben. Für etwa zehn Sekunden verharrt Jewgeni in der nach vorn gebeugten Haltung. Dann schnellt sein Oberkörper in die Höhe. Wassili kann direkt beobachten, wie das Innere von Jewgenis Augäpfeln von einem trüben, milchigen Weiß in einen klaren, durchsichtigen Zustand wechselt.

"Iiii - sage einmal, spinnst du?"

Die anschließende Reaktion Wassilis verwirrt Jewgeni noch mehr. Der umarmt ihn, weint und lacht gleichzeitig.

"Du warst so weit weg - jetzt habe ich dich wieder zu mir zurückgeholt. Was für ein Glück!"

"Wie? Ich war weg? Ich habe nur etwas geschlafen. Und du weckst mich mit einer Wodka-Dusche. Etwas Besseres fällt dir nicht ein?"

"Kannst du dich wirklich nicht an die letzten Minuten erinnern? Das Hupen, die Offiziere, der Lärm und das Chaos? Hast du gar nichts davon mitbekommen?"

"Nein?", antwortet Jewgeni vorsichtig und wischt sich über die Stirn: "Au, warum brennt das so?"

Verwundert betrachtet er seine blutige Hand. Mitten auf der Stirn hat er eine große Platzwunde. Der Alkohol des Wodkas brennt in dieser und desinfiziert sie.

"Denk' nicht weiter darüber nach. Ich verbinde deinen Kopf und dann verlassen wir den Bunker. Den ersten Teil der Schienenbrücke habe ich bereits über die Grube geschlagen."

Die letzten Vorbereitungen ihrer Flucht sind schnell abgeschlossen. Mit der Seilwinde des großen ЗИЛ und einer Umlenkrolle ziehen sie zwei weitere, etwas kleinere U-Profile bis zur anderen Seite der Grube, hinüber zum Ausgang aus dem unterirdischen Hangar. Jewgeni protestiert noch einmal lautstark, fährt dann aber das schwere Fahrzeug vorsichtig über die Brücke aus metallenen Schienen und aus dem Bunker heraus. Anschließend decken sie den Eingang zum Stollen mit dem großen Tarnnetz ab. Ihr Warenlager soll so lange wie möglich unentdeckt bleiben. Das eine oder andere der technischen Hilfsmittel möchten sie später noch aus dem unterirdischen Hangar holen.

Nun müssen sie nur noch den richtigen Weg zu ihrem vorübergehenden Zuhause finden. Die mit Tarnvorrichtungen versehenen Scheinwerfer des Wagens beleuchten den nächtlichen Wald schwach. Um sie herum stehen nur eine Unmenge an hohen Kiefern, kein Orientierungspunkt ist zu erkennen, der ihnen die Richtung weisen könnte...

W25C2P12
Autor
©
http://texorello.org/W25C2P12
25. November 2013 19:05 Uhr
Ort: Waldstück hinter der Kommandantur in Wünsdorf
Personen: Jewgeni, Wassili
Objekte, Materialien: ZIL-157
25. November 2013 19:28 Uhr
Ort: Waldstück hinter der Kommandantur in Wünsdorf
Personen: Jewgeni, Wassili
Objekte, Materialien: Starker Stoff, ZIL-157
Inhaltsverzeichnis
  1. Attilas Abenteuer bis hierher