Am Fluchtpunkt 2

In einer perspektivischen Abbildung schneiden sich die Bilder aller Geraden, die im Original zueinander parallel verlaufen aber nicht zur Bildebene parallel sind, in einem gemeinsamen Fluchtpunkt.

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Während er auf dem steinigen, kalten Boden des Parkplatzes sitzt und sich an einen der metallenen Papierkörbe lehnt, die an dessen Rand aufgestellt sind, verebbt der Hustenreiz in seiner Brust langsam. Die Krämpfe in beiden Lungenflügeln schütteln ihn immer seltener durch. Mit etwas Konzentration auf eine gleichmäßige Atmung findet er die Ruhe, die er benötigt, um all die Erlebnisse des Tages nochmals in Gedanken passieren zu lassen. Seine vormittägliche Aktion zur Markierung von kriminellen Mitbürgern war nicht erfolgreich. Er musste sie wegen des unerwarteten Auftauchens des Dacapo abbrechen. Der war nervig wie immer und wahrscheinlich aus purem Zufall am falschen Ort. Genauso der wahnsinnige Politiker - das kann jedem einmal geschehen. Er traf noch nie einen Menschen, den er für 'normal' hielt und der sich freiwillig in der Nähe der Politik bewegte. 'Abstand halten' ist in diesen Fällen erster Grundsatz für ein ruhiges Leben. Er hat sein Handeln daran ausgerichtet, ist in Märkisch Buchholz ausgestiegen und tief hinein in das Dahmeland geflüchtet. Aus der nächtlichen Distanz betrachtet, war seine Reaktion folgerichtig und gut. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Geschehnissen, brachte das Auenland der Mark Brandenburg eine positive Überraschung. Die Begegnung mit der Tambourette war eine einzigartige, einmalige Wendung seines Schicksals. Er wünscht sich, das ewige Kind noch einmal zu treffen. Leider weiß er mit trauriger Gewissheit, dass dies aus mystischen Gründen unmöglich ist. Während er sich mit dem Rücken an den Papierkorb drückt, sich nach oben schiebt und aufrichtet, erinnert er sich an die beiden - Wie nannten sie sich doch gleich? - transnistrischen Wissenschaftler. Ihnen ist er erst vor wenigen Minuten entkommen. Die kurze Fahrt bis nach Storkow war traumatisierend. Sein Schicksal scheint heute ebenfalls Husten oder einen Schluckauf zu haben. Auf jeden Fall hat er genug seltsame Erlebnisse für diesen Tag gesammelt. Er hofft nur noch auf dessen ruhiges, ereignisloses Ende.

Leicht frierend steht der Maler in der feuchten Nachtluft auf dem Parkplatz. Sein Mantel ist etwas zu dünn für diese Jahreszeit und die niedrigen Temperaturen auf dem Land. Er hatte heute nicht vorgehabt, den wärmenden Dschungel der großen, bunten Stadt zu verlassen. Die Trockenkekse aus der Notration der 'letzten, richtigen Armee', die er gemeinsam mit der Tambourette im Wald gegessen hatte, spenden inzwischen auch keine Energie mehr. Wichtiger als die Lufttemperatur ist jedoch: Was wird er jetzt unternehmen? Wohin soll er sich wenden? Nachdenklich sieht er sich um. Der Supermarkt neben ihm liegt verlassen und schwach beleuchtet in der nebligen, kalten Novembernacht. Eigentlich hatte er erwartet, nahe des Zentrums der Stadt Storkow zu sein. Hier sieht es jedoch wie an einem Stadtrand aus. Auf der anderen Straßenseite ist eine Burg im wenigen Licht der Nacht zu sehen. Ihre Mauern erheben sich dort hinter einer großen, feuchten Wiese, die zu Teilen mit Schilf bewachsen ist. Über Gras und Schilf liegt leichter Nebel, der langsam zu der Burg fließt, deren Mauern einhüllt und an ihnen emporsteigt. Er dämpft das Licht der an den alten Gebäuden angebrachten Beleuchtung und hüllt das Bauwerk in warmweiße Watte. Mit einer Verheißung von Wärme und Ruhe zieht das Bild den Maler an. Ihm drängt sich der Wunsch auf, hinüber zu gehen, sich an die Mauer zu setzen, von dem warmen Nebel einhüllen zu lassen und in einen langen und tiefen Schlaf zu flüchten.

Des Malers Erfahrungen aus vielen, einsamen und kalten Nächten sagen ihm, dass dies falsche Versprechen sind. Er muss sich ein anderes Ziel suchen. Neben und unter ihm entsteht eine Bewegung. Es raschelt in dem Laub, das der Wind am Rande des Parkplatzes zusammengeblasen hat. Welke Blätter schieben sich zur Seite und eine kleine Maus kommt zum Vorschein. Vorsichtig testet das wohlgenährte, graue Tier die Gerüche in der Luft. Als es sich dem Maler zuwendet, scheint es eine Unregelmäßigkeit festzustellen. Aufmerksam schnüffelnd nähert es sich seinen Schuhen. Einer davon ist mit inzwischen getrocknetem Schlamm überkrustet. Das sind die Überreste aus der Wildschweinsuhle am Rande der Dahmewiese, in die er während seiner gemeinsamen Wanderung mit der Tambourette getreten ist. Vor diesem Schuh hält die Maus inne, saugt tief und kräftig die davon ausgehenden Gerüche ein. Ein erschrockenes Quieken ist die erste Reaktion auf dieses unerwartete Aroma in der Luft. Anschließend verschwindet das kleine Tier hastig in dem Laubhaufen, aus dem es kurz zuvor erschien. Der Maler macht sich nicht die Mühe, an seinen Schuhen zu riechen. Er kann sich auch so vorstellen, dass zumindest einer davon den Gestank wilder Schweine angenommen hat. Natürlich kann er nicht in diesem Zustand verbleiben. Verdreckt, unrasiert und unangenehm riechend fällt er in der Öffentlichkeit auf, verliert den Schutz der Anonymität, der ihm so wichtig ist. Er sehnt sich nach seiner geheimen Zuflucht in den Tiefen der großen, bunten Stadt. Dort kann er sich waschen, seine Bekleidung reinigen und von den Strapazen dieses ungewöhnlichen Tages ausruhen. Da ist es, sein Ziel! Somit muss er nur noch den Weg zurückfinden. Auch der wird sich ihm noch eröffnen. Das Zentrum Storkows, der Marktplatz, ist ein guter Anfang. Dort wird die Stadtverwaltung einige Hinweisschilder aufgestellt haben, die ihm den Weg zum Bahnhof weisen. Der Maler strafft seinen Rücken, zieht die Tragegurte der beiden Pumpguns fest und schreitet in die Richtung, die ihm die transnistrischen Wissenschaftler zum Marktplatz gewiesen haben. Kurz bevor sie über die große Kreuzung vor der Burg fuhren, auf welcher der Fahrer die Augen schloss und sagte: 'Und links liegt der Marktplatz...' Der Maler schreitet zügig aus und die kräftige Bewegung erwärmt ihn, auch wenn der Hunger ihn ermahnt, für neue Energie zu sorgen. An der Kreuzung schwenkt er in die Straße, die zum Markt führen soll und wenige Augenblicke später steht er bereits an dessen Rand. Zufrieden mit dem positiven Abschluss der ersten Etappe seiner Heimkehr, lehnt er sich an einen Pfahl. Dessen Schilder tragen für zwei unterschiedliche Richtungen die Aufschrift 'Am Markt'. Nicht nur die Straße mit diesem Namen läuft um den Platz, auch Bäumen und Laternen führen in einer Reihe um die große, rechteckige Freifläche herum. Gemäß der Jahreszeit sind die Kronen der Bäume entlaubt und verschlucken nichts von dem Licht, das die schwachen Glühlampen aussenden. Sie erhellen die Novembernacht zaghaft und der Maler kann die Größe des Marktplatzes und die Bedeutung der Stadt im mittelalterlichen Handel nur erahnen. Bei so viel Raum müssen an diesem Ort damals viele Waren den Besitzer gewechselt haben.

Es ist bereits kurz vor Mitternacht. Der Markt ist leer - dort ist nichts zu sehen, das auf menschliche Aktivitäten hindeutet. Keines der Fenster der Häuser, die dicht gedrängt den Platz einrahmen, ist erleuchtet. Nirgendwo rührt sich hinter ihnen etwas - nichts - Leere - Einsamkeit. Wohnen hier überhaupt Menschen? Bei eingehender Betrachtung des Platzes ist sich der Maler mit einem Mal gar nicht mehr sicher. Die Geschehnisse in der zweiten Tageshälfte waren doch zu merkwürdig. 'Das ist bestimmt nicht meine Zeit - nicht meine Realität! Bin auch ich jetzt gefangen - wie die Tambourette? Wie komme ich von hier aus wieder in meine Zeit zurück?' Wo keine Bewegung in der menschlichen Gemeinschaft ist, wird sich auch kein öffentliches Transportmittel finden lassen. Während er, an den Pfahl des Straßenschildes gelehnt, diese Betrachtungen anstellt, kommt die Kälte unter seinen Mantel zurück. Die feuchte Luft transportiert die letzte, verbliebene, körpereigene Wärme durch den dünnen Stoff nach außen. Die Stadt wirkt kalt, verlassen und aus der Zeit gerückt. Ihn fröstelt und er schüttelt sich leicht - nicht nur wegen der fehlenden Wärme unter seinem Mantel. Auf der anderen Seite des Marktplatzes kann er eine Parkbank sehen. Sie steht direkt unter einer der schwach leuchtenden Laternen und tritt in dem gelben Licht deutlich aus den anderen Schemen hervor. Er beschließt sich dort zu setzen, die flache Blechschachtel mit den historischen Trockenkeksen in den Innentaschen seines Mantels zu suchen und etwas zu essen. Das beruhigt, wärmt von innen und er kann in Ruhe darüber nachdenken, wie er wieder in die große, bunte Stadt gelangt.

Auf der Bank ist für den Maler jedoch keine Ruhe zu finden. Noch bevor er sich auf die Suche nach den Keksen begeben kann, blendet ihn ein greller Blitz. Alle Details des Marktplatzes sind in dem hellen Licht, das sogar die Schatten zu vertreiben scheint, auf einen Schlag deutlich zu erkennen. Nach dem langen, ereignisreichen Tag und der ausdauernden Wanderung durch die dunkle, märkische Nacht, benötigen die Augen des Malers einige Zeit, um das Übermaß an Helligkeit zu kompensieren. Noch bevor ihm dies gelingt, ist der Blitz erloschen. Ein großes, intensiv glimmendes Gebilde ist zurückgeblieben und schwebt nur zwei Meter vom Maler entfernt eine Handbreit über dem Pflaster des Marktes. Verwundert blickt dieser auf ein leuchtendes Ei von gut zwei Metern Höhe, das auf der Spitze steht. Aus dessen Innerem dringt weiches, warmes Licht durch die äußeren, durchscheinenden Schichten. Vom Scheitelpunkt windet sich langsam ein Lichtband in Form einer Spirale um das Objekt und beginnt, nach Erreichen des unteren Punktes, zu rotieren. Viele Sekunden sieht der Maler mit starrem Blick, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, auf die leuchtende Erscheinung, die sich direkt vor ihm immer schneller um sich selbst dreht. Sein Kopf fühlt sich vollständig leer an, kein Gedanke regt sich in ihm. Die Faszination des schwebenden Lichtobjektes hält ihn in einer Starre auf der Parkbank fest. Urplötzlich ändert sich die Situation. Abrupt meldet sich sein Instinkt: Der Maler springt auf, greift mit der rechten Hand über seine linke Schulter, zieht eine der Paintguns aus ihrem Futteral, bringt diese in Anschlag und schießt auf das leuchtende Ei. Fauchend entlädt sich das Gas und drückt die Farbkugel durch den Lauf. Das Objekt verschluckt die orange Farbkugel. Sie dringt ungehindert durch die äußeren Leuchtschichten.

"Arrrch...", stöhnt es aus dessen tiefstem Inneren.

Kurz darauf verblasst die Erscheinung und das Licht zieht sich in weniger als einer Sekunde auf einen Punkt in Kopfhöhe zusammen. Anschließend verschwindet es vollständig. Dort, wo einen Augenblick zuvor das leuchtende Objekt schwebte, steht jetzt ein schwarz gekleideter Mann. Seine leicht gekrümmte Haltung scheint der Ausdruck des Schmerzes zu sein, den die Farbkugel verursachte, als sie seine Brust traf. Über die tief schwarzen Kacheln, die seinen eng anliegenden Anzug bedecken, läuft orange Farbe. Der Maler kann die Augen des Fremden nicht sehen, da sie hinter einer Schutzbrille verborgen sind. Er ahnt jedoch das Entsetzen, das sich in ihnen spiegelt. Der Ankömmling aus dem Leuchtobjekt lässt sich auf die Bank fallen, auf der kurz zuvor noch der Maler saß, sinkt in sich zusammen und blickt auf den Boden. Ein solches Übermaß an Resignation entwaffnet den Maler. Dieser steckt das Farbmarkierergewehr wieder in das Futteral auf seinem Rücken und setzt sich neben den Fremden auf die Bank. Er verspürt das unwillkürliche Bedürfnis, diesem Trost zu spenden. Eventuell können sie einen der Trockenkekse teilen, die aus der Notration der schon lange nicht mehr existenten Nationalen Volksarmee stammen.