Widerstand unter dem Stern
Damit Kampf ist, muss es einen Feind geben, der widersteht, nicht einen, der gänzlich zugrunde geht.
Petrus Abaelardus
"Au!", Jewgenis rechter Fuß hat sich in einer Wurzel verfangen, die quer über den Waldweg ragt. Mit Mühe verhindert er seinen Sturz und bleibt stehen. Resigniert betrachtet er, so gut es im schwachen, bläulichen Licht einer Taschenlampe geht, das Stück Holz und verfolgt dessen Wuchs von der linken zur rechten Seite des schmalen Weges. In einem deprimiert klingenden Tonfall kommentiert er das Missgeschick: "Muss das sein?"
Die Luftwurzel hat ihn beinahe stolpern und der Länge nach hinschlagen lassen. Nur der Handwagen, an den er sich gebunden hat, verhinderte den Fall. Jetzt versucht er mit einer größeren Kraftanstrengung den schweren Wagen über das hölzerne Hindernis zu ziehen. Er ärgert sich schon den ganzen Morgen über einfach alles. Wassili ist nicht ganz unschuldig daran, hat er ihn doch nicht vollständig in die Planung des heutigen Tages eingeweiht und ein Geheimnis aus ihrem Ziel gemacht. Er versprach Jewgeni eine große Überraschung und übertrug ihm anschließend die schweren Arbeiten. Es gibt etwas, das Jewgeni gar nicht mag: überrascht zu werden. Natürlich weiß sein Freund das, macht sich aber immer wieder einen Spaß daraus, ihn mit Überraschungen zu necken und genau das mag Jewgeni noch weniger. Er möchte nicht der Treibstoff für den Spaß von jemand anderem sein, auch nicht für die Belustigungen seines Freundes. Nach diesem Tagesbeginn rechnet Jewgeni nicht mit einer Antwort Wassilis auf seine kurze und direkte Frage. Er ist erstaunt, dass dieser doch etwas sagt.
"Ja."
"Ich durfte nicht einmal meinen Tee am Morgen austrinken", nörgelt Jewgeni weiter, in der Hoffnung, dass Wassili nun endlich einige Fakten bezüglich ihres Zieles preisgibt.
"Nein."
"Kannst du mir vielleicht einmal erklären, was das hier mit unserem Auftrag zu tun hat?"
"Vielleicht."
Jewgeni bleibt abermals stehen, weil ein Rad des einachsigen Handwagens in ein Sandloch neben dem Weg rutschte und dort feststeckt. Der Stillstand geschieht nicht freiwillig und sehr unverhofft. Das breite Band, das er sich um die Schulter gelegt hat und mit dem er den Wagen zieht, reißt ihn aus seiner Vorwärtsbewegung heraus und fixiert ihn an seinem aktuellen Platz. Die Deichsel des kleinen Anhängers schlägt zur Seite. Sie ist fest mit dem Wagen verbunden und nur eines der beiden Räder steckt bremsend im Sand. Der Schlag des Metallrohres trifft Jewgeni in die Seite. Er zuckt zusammen, dreht sich um und tritt wütend tritt gegen den hölzernen Aufbau des Wagens. Das Transportgerät lässt sich davon nicht beeindrucken und bleibt ungerührt stehen. Trotzig stampft Jewgeni mit dem anderen Fuß auf den Boden und wartet auf eine Reaktion Wassilis. Zu seiner Enttäuschung verhält sich dieser genau wie der Handwagen: Er lässt sich nicht beeindrucken, vergleicht ungerührt Weg und Richtung mit den Angaben auf der altertümlichen Landkarte in seinen Händen. Jewgeni gefällt die fehlende Anteilnahme gar nicht und er versucht, seinen Freund zu provozieren.
"So, jetzt hast du es endlich geschafft. Das Loch mit Treibsand wird zuerst den dämlichen Handwagen samt Batterien und dann mich verschlingen. Und dann musst du allein weiter und ohne Batterien kannst du das - was auch immer so geheim ist - nicht mehr ausführen."
Auch dieser Versuch bleibt erfolglos. Wassili sagt nichts. Er beobachtet belustigt, wie Jewgeni sich müht, den Wagen wieder auf den Weg zu ziehen.
"Kannst du mir vielleicht einmal helfen!"
"Nein."
"Waaaaas?!"
"Du ziehst den Wagen und ich trage die Verantwortung, kümmere mich um den Weg zu unserem Ziel. Die Arbeit ist gerecht verteilt."
Jewgeni wirft die Schlaufe des Zugbandes von seiner Schulter, lässt die Deichsel fallen und baut sich vor Wassili auf. Seine ganze Gestalt sprüht vor Entrüstung. Die Arme in die Seiten gestemmt, blickt er Wassili in die Augen. Die Stirnlampe, die er auf dem Kopf trägt, malt seinem Gegenüber dabei einen hellen, kreisrunden Fleck mitten in das Gesicht. Jewgeni kann deutlich erkennen, dass sein Ärger auf keinen Widerhall trifft. Neben Wassilis Augen sind sogar kleine Lachfältchen zu erkennen, die sich verdächtig in die Haut graben. Er müht sich hier mit zwei schweren, großen Batterien für Lastkraftwagen ab, stolpert durch den Wald, schwitzt bei der Anstrengung den Handwagen durch den weichen Sand zu ziehen, verheddert sich im Wurzelwerk der märkischen Kiefern und Wassili spielt den Manager!
"So, jetzt sagst du mir endlich, was wir hier machen! Vorher gehe ich keinen Schritt weiter."
"Nein."
"Nein? O.k., dann gehe ich nicht weiter."
"Ich schon und ohne mich kommst du hier nicht heraus. Ich habe die Karte."
Diese Kette aus Schlussfolgerungen ist entwaffnend einfach, wahr und logisch. Resigniert lässt Jewgeni die Schultern sinken. Er fällt in sich zusammen, neigt sein Kopf leicht nach vorn und fügt sich in sein Schicksal. Wäre er doch heute Morgen einfach nicht aufgestanden und nicht mit in diesen dunklen Wald aufgebrochen. Er hätte auch einfach nur 'Nein' sagen können. Zu spät ist zu spät. Also spannt er sich wieder wie ein Maultier vor den Handwagen und sieht diesen mit einem kräftigen Ruck aus dem Sandloch heraus und weiter in das Dunkel des märkischen Waldes hinein.
****
Ein heller Kreis bewegt sich zitternd über den Waldboden. Die braunen Nadeln und das spärliche, gelbe Gras, die er dort trifft, werden von ihm erleuchtet. Trotzdem wird nichts schöner. Alles ist kalt, feucht und riecht moderig nach Pilzen. Das bläuliche Licht erwärmt die Gegend nicht, es lässt den Boden zurück, wie es ihn antrifft. Auf dem Sandweg, der in der Mitte zwischen zwei grasbewachsenen Schützenlöchern hindurchführt, steht ein kleiner Fuchs. Die Verwerfungen im Waldboden verunstalten diesen seit der letzten, großen Massenschlächterei, die hier vor über sechs Jahrzehnten stattfand. In der Kesselschlacht bei Halbe wurden viele Soldaten beider Seiten und flüchtende Zivilisten sinnlos getötet, obwohl der Ausgang des Krieges längst entschieden war. Durch die Wälle neben den Löchern ist noch kein Hohlweg entstanden, trotzdem verschwindet das kleine Tier darin. Es hat zu beiden Seiten Schutz und kann sich auf die zwei Gestalten konzentrieren, die auf es zukommen. Sein Kopf und die spitzen Ohren auf diesem, sind hoch aufgerichtet. Solange es lebt, hat es um diese Jahreszeit hier Ruhe vor den Menschen gehabt. Jetzt kommen zwei seltsam gekleidete Exemplare dem Fuchs entgegen. Der eine von ihnen hat ein Licht am Kopf befestigt, erzeugt mit diesem einen hellen Fleck auf dem Weg und zieht einen kleinen aber schweren Wagen hinter sich durch den Sand. Er gibt dabei schnaufende Laute von sich und sein Schweiß ist bis zu der Delle im Weg zu riechen. Die andere Gestalt läuft leicht und unbekümmert vor ihm her und erzählt ununterbrochen irgendetwas. Zu seinem Glück beherrscht der kleine Fuchs die russische Sprache nicht. So bleibt ihm der Schreck über die gefährlichen Dinge, die hier in seinem Revier versteckt sein sollen, erspart. Er beobachtet die beiden Menschen, bis ihm ihre Lautstärke und ihr Geruch zu unangenehm werden, senkt seinen Kopf, dreht sich um und läuft ruhig zwischen den Bäumen davon. Die Menschen kommen und gehen auch wieder - nie halten sie sich lange in seinem Revier auf. Für ihn ist es an der Zeit, sich sein Frühstück an einem Mauseloch zu fangen.
****
Die dünnen Räder des kleinen Handwagens sinken tief auf dem Waldweg ein. Ihre Luftbereifung erleichtert Jewgeni seine Arbeit kaum. Sand ist nun einmal kein Asphalt. Weit nach vorn gebeugt, zieht er seine schwere Last. Gleich einem Treidler hat er sich den breiten Zugriemen über die rechte Schulter gelegt und stemmt sich mit aller Kraft in diesen hinein. Mit der rechten Hand versucht er den Wagen zu steuern. Eine hässliche Stirnlampe, die er sich auf den Kopf gesetzt hat, beleuchtet den Weg vor ihm. Jewgeni sieht wie ein Glühwurm aus, der am falschen Ende leuchtet - zumindest fühlt er sich so. Die Lampe ist genauso wenig hilfreich wie die Luftbereifung, zeigt ihr Licht ihm doch nur ein Hindernis nach dem nächsten. Ob er diese bei Licht sieht oder nicht: Überwinden muss er sie alle und das auch noch ganz allein. Er fühlt sich von Wassili zu einem Arbeitssklaven degradiert. Der stolziert vor ihm her und wird mit einem Mal gesprächig. In den Stunden vorher hat er kaum zwei Worte gesagt und auf Fragen nur ausweichend geantwortet. Jetzt plappert er wie ein Wasserfall über seine Zeit als Soldat. Ja, er hat hier gedient und ist 1994 mit den letzten Einheiten der russischen Armee von hier abgezogen. Er gehörte zu denen, die in Wünsdorf das Licht in der Kaserne ausgeschaltet haben. Für Jewgeni ist das keine neue Information, weiß er das doch bereits seit dem Tag, an dem sie in Storkow im Auftrage von Leonid eine Wohnung sprengten. Damals hat Wassili dieses Wünsdorf auf der Karte entdeckt. Seit diesem Tag ist er ganz besessen von dem Ort und der Gegend. Als sie die Stelle erreichen, von der aus der Fuchs sie kurz zuvor beobachtete, benötigt Jewgeni dringend eine Pause. Seine Schulter schmerzt, mit der er sich in den Riemen gelegt hat. Er hält an, richtet sich auf und unterbricht Wassili in seinem Redeschwall mit einer Frage.
"Und warum muss ich diesen Handwagen mit den zwei schweren LKW-Batterien ziehen? Wenn du diese hier illegal entsorgen willst, dann hätte ich sie vorher nicht aufladen müssen."
"Die Batterien benötigen wir noch - warte ab."
"Und warum muss ich eine peinliche Stirnlampe tragen?"
"Weil du mir so gefällst", ist die prompte und ehrliche Antwort.
Jewgeni hat sich inzwischen auf den Wagen gesetzt. Wassilis Antwort entschädigt ihn ein wenig für die schwere Arbeit. Er blickt sich um und leuchtet dabei in den Wald. An einer Stelle glaubt er einen Fuchs zu erkennen, der schnell aus dem Lichtkegel seiner Stirnlampe läuft. Dessen weiße Schwanzspitze verschwindet hinter der Schanze eines ehemaligen Schützengrabens. Er taucht in die Vertiefung, in der vor achtundsechzig Jahren viele Menschen starben und den Boden mit ihrem Blut tränkten.
"Wann sind wir endlich am Ziel? Ist der Weg noch lang? Mich gruselt es hier etwas auf dieser Schwelle zum Reich des Todes..."
Wassili nimmt sein Smartphone aus einer Tasche seiner Jacke, startet eine Kompass-App und hält das Gerät waagerecht. Der virtuelle Zeiger pendelt etwas und zeigt nach wenigen Sekunden in die Richtung, in der der Fuchs verschwand.
"Da ist Norden."
"Nein, da möchte ich aber nicht hin - dort ist es gruselig."
"Wir müssen von hier aus noch fünfundsiebzig Meter nach Südosten gehen", sagt Wassili und deutet mit dem Smartphone in den Wald.
"Hört sich besser an. Im Süden ist es wärmer und die Leute sind dort entspannter."
Wassili strebt entschlossen in den dunklen Wald und lässt Jewgeni allein mit dem Handwagen, seinen Träumen vom warmen Süden und den beiden, schweren Batterien zurück.
"Lass mich hier im Dunkeln nicht allein...", barmt es hinter ihm.
"Du kannst mir ja folgen, wenn du dich ängstigst."
Jewgeni spannt sich wieder vor den Handwagen und zieht in schnaufend vom Weg in den Wald. Dort stößt er ununterbrochen gegen Bäume und flucht laut. Er zwängt sich zwischen zwei eng beieinander stehenden Kiefern hindurch. Der Wagen ist viel breiter als er selbst und dessen hölzerner Korpus schlägt hinter ihm gegen die Bäume. Wieder wird Jewgeni abrupt in seinem Vorwärtsdrang gestoppt. Abermals reißt der breite Zugriemen an seiner rechten Schulter und es gelingt ihm gerade noch, den Schlag der Deichsel in seine Hüfte abzuwehren.
"Auu!", stößt er unbeherrscht und wütend hervor. Nach einem Tritt gegen den Wagen fügt er hörbar gereizt hinzu: "Du, Wassili, darf ich den Wald anzünden? Dann kann ich besser sehen und diese dummen Bäume behindern mich nicht mehr!"
"Nein, das mögen die Restmunition und Blindgänger nicht, die hier überall im Wald liegen."
"Wirklich? Ich dachte, die Schilder neben der Straße sind nur Scherze, um die Pilzsammler fernzuhalten!"
"Hast du schon einmal einen Deutschen scherzen sehen?"
"Nein...", überlegt Jewgeni: "... die sind entweder sehr ernst oder betrunken."
"Na siehst du. Achte auf deine Schritte, es könnten sonst die letzten sein."
Jewgeni ist entsetzt. Das Militär ist wirklich gefährlich und offensichtlich leicht- und wahnsinnig in Kombination. Er möchte sich nur noch an einen Baum setzen und laut heulen - wie die Wölfe in ihrer Heimat. Zu seinem Glück wusste er schon lange vor dem Studium mit Computern umzugehen. Die Musterungskommission war zwar erstaunt, einen sehr jungen Leutnant der Reserve vor sich zu sehen, die Rechner des Verteidigungsministeriums galten jedoch als unfehlbar. So bestätigten sie ihm einen amtlichen Irrtum bezüglich seiner Einberufung und er hatte in seiner Jugend eine Erfahrung weniger, als seine Altersgenossen. Nun holen ihn diese Erlebnisse doch noch ein. Er sieht sich bereits von einer siebzig Jahre alten Miene zerfetzt werden. Einzelne Teile seines Körpers, den er über die Jahre mit so viel Aufwand gepflegt hat, hängen sinnlos in den Ästen der Bäume und werden vom feuchten Novemberwind sanft geschaukelt. Ein Schwarm Rabenkrähen freut sich über den reich gedeckten Frühstückstisch und lässt sich in den Bäumen nieder, die zu seiner letzten Ruhestätte wurden. Jewgeni wird schlecht und fühlt, dass er sich gleich übergeben muss. Ein Ausruf Wassilis schreckt ihn aus seinen Gedanken hoch und unterbricht den morgendlichen Wachtraum.
"Gefunden! Komm schnell..."
Der letzte Teil des Rufes ist sehr leise und klingt dumpf. Jewgeni hat zumindest verstanden, dass sie endlich am Ziel ihrer Suche sind. Er lässt den Handwagen eingeklemmt zwischen den Bäumen stehen und läuft zu seinem Freund. In Erwartung eines Wunders und der Enthüllung vieler, wichtiger Informationen, überwindet er die letzten Meter in Sekunden und stößt dabei an keine einzige der vielen Kiefern. Kurz bevor er ihn erreichen kann, ist Wassili plötzlich verschwunden. Dort, wo noch einen Augenblick zuvor das Licht seiner Taschenlampe zu sehen war, beherrschen Dunkelheit und Stille den Wald. Jewgeni bleibt stehen und blickt sich erschrocken um. Der Schein seiner Stirnlampe zittert zwischen den Bäumen umher. Jedes Mal, wenn er auf einen Stamm trifft, erschrickt er. Zu sehr sehen sie Menschen ähnlich und er vermutet immer wieder, einen Fremden anzuleuchten. In einem Wald gibt es bekanntlich viele Baumstämme und die Angst greift wild nach Jewgeni. Er drückt sich mit dem Rücken fest an einen der Stämme. Bei diesem ist er sich ganz sicher, dass er kein Mensch ist, hat er ihn zuvor doch abgetastet und als Teil einer Kiefer identifiziert. Der Gedanke, ganz allein im Wald zu sein, den Weg hinaus nicht zu kennen und umgeben von vielem Unbekannten zu sein, trifft ihn wie der Schlag einer großen, schweren Faust mitten in die Magengrube. Auf jeden Fall wird ihm schlecht. In seinem Darm beginnen Millionen kleiner Käfer mit einer Völkerwanderung. Sie bewegen sich aufwärts, in Richtung Magen und anschließend schnüren sie ihm die Luft ab. Jewgeni sinkt in sich zusammen und rutscht an dem Stamm hinunter. Dort bleibt er sitzen, starrt mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und denkt an nichts mehr - es ist vorbei, vorbei mit allem.
"Jewgeni! Wo bleibst du denn. Trödele nicht!", röhrt es hohl und dumpf aus der Erde.
Dem Angesprochenen beginnen die letzten Teile seines Sinnessystems zu versagen. Wassili ist im Reich der Toten angekommen. SIE haben ihn geholt und jetzt rufen SIE auch nach ihm - hier im einsamen Wald der Mark Brandenburg. Wären sie doch nur zu Hause geblieben. Im heimatlichen Transnistrien gibt es zwar nichts zu tun, das Reich der Toten ist dort jedoch sehr weit von dem der Lebenden entfernt. Das ist sein letzter Gedanke. Nachdem dieser in seinem Hirn verhallt, hüllt ihn die Dunkelheit ein, sowohl außen als auch in seinem Innersten. Nicht einmal das bläuliche Licht seiner hässlichen Stirnlampe nimmt er mehr wahr.
****
"Sage 'mal, wo bleibst du denn?"
Diese Frage holt Jewgeni wieder unter die Lebenden zurück. Sie klingt ganz normal, nicht mehr dumpf oder hohl und kommt auch nicht aus der Erde, sondern wird nur zwei Schritte hinter ihm ausgesprochen. Mit einem Mal ist auch wieder das Licht von Wassilis Taschenlampe zu sehen. Jewgeni sitzt vor seinem Baum, ganz starr vor Schreck und kann vor Erstaunen nicht sprechen. Einen Augenblick später hat ihn das Licht der Taschenlampe erfasst, Wassili stellt sich vor ihn und schüttelt ungläubig den Kopf.
"Bin - bin - bin ich auferstanden?", flüstert Jewgeni, bis in die Haarspritzen mit Angst angefüllt.
"Nein. Aber etwas mit 'auf' wohl schon: wahrscheinlich auf-den-Kopf-gefallen oder auf-fallend-bekloppt", antwortet Wassili ungerührt.
In seiner Stimme schwingt deutlich etwas Ungeduld mit. Er leuchtet mit seiner Taschenlampe in Jewgenis linkes Auge und zieht dessen Lid nach oben. Das bringt den immer noch auf dem Boden sitzenden vollständig in das Hier und Heute zurück.
"Au! Spinnst du?"
Wassili dreht sich ohne eine Erklärung oder Antwort um und schreitet mit weiten Schritten wieder in den Wald. Dieses Mal verfolgt Jewgeni jeden davon und sieht, wie sein Freund plötzlich in die Tiefe steigt. Kurz bevor er gänzlich unter der spärlichen Grasnarbe verschwunden ist, dreht er sich noch einmal um.
"Komm jetzt endlich - du Simulant!"
Jewgeni springt auf und läuft hastig zu der Stelle, an der sein Freund verschwand. Beinahe fällt er in einen runden Metallschacht, der von oben einem Straßengully sehr ähnlichsieht. Die Frage, warum so etwas mitten im Wald installiert ist, stellt er sich nicht. Auf dem Boden des Schachtes, der etwa fünf Meter in die Tiefe führt, sieht er den Schein von Wassilis Taschenlampe. Ohne weiter zu überlegen, steigt er ebenfalls hinunter: Nur nicht wieder allein im dunklen Wald zurückbleiben!
Die Luft im Schacht ist unerwartet trocken. Mit jeder Sprosse der Stahlleiter, die Jewgeni in die Tiefe steigt, wird es dunkler und wärmer. Seine Tritte auf dem rostigen Metall hallen in der engen Röhre. Wie konnte Wassili sich hier so geräuschlos bewegen? Was ist das überhaupt und warum kennt er diesen Ort? Endlich hat er den Boden erreicht und steht auf gegossenem Beton. Der Raum, den seine Stirnlampe spärlich ausleuchtet, bietet nicht viel Platz. Nicht einmal zwei-mal-zwei Meter ist er groß und scheint auch nur zwei Meter hoch zu sein. Die Stahlröhre, die ihn in die Tiefe führte, endet exakt in der Mitte der Decke dieses würfelförmigen Raumes. An einer Seite befindet sich eine graue, rostige Stahltür. Sie ist einen Spalt weit geöffnet und schwaches Licht dringt von dort in den engen Raum. Dahinter muss Wassili sein! Jewgeni blickt ein letztes Mal nach oben durch die Stahlröhre. Sie offenbart einen kleinen, runden Ausschnitt des Sternenhimmels der vergehenden Novembernacht. Dann wendet er sich der stählernen Tür zu und schiebt sie vorsichtig auf.
Ein erschreckender und gleichzeitig auch überwältigender Anblick bietet sich Jewgeni. In einem halbrunden Stollen, der in Aussehen und Dimension einem Flugzeughangar gleicht, stehen Ausrüstungsgegenstände aus einer vergangenen Epoche, deren Existenz er längst verdrängt hatte. Am gegenüberliegenden Ende der Halle ist ein auffälliger, großer Lastkraftwagen geparkt. In dem Halbdunkel des Raumes sind alle Gegenstände nur als schwarz-weiße Schemen erkennbar. Das abgerundete Führerhaus des Fahrzeuges erinnert an die Filme aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In dieser Zeit hatte die cineastische Dokumentation der Welt kaum Farben und alle Technik war gewaltig, analog und im besten Falle makroelektronisch gesteuert. Von der Tür bis zu dem fahrbaren Ungetüm ist auf der Mittelachse der Halle ein langer Tisch aufgebaut. Er hat eine Länge von mehr als zwanzig Metern. An seinen beiden Seiten stehen Bänke, gleich denen in einem Biergarten, nur sind diese hier aus grob gehauenen Bohlen gefertigt. Die Stirnseite schmückt ein großer Stuhl, der erhöht auf einem Podest aus Transportpaletten steht, ganz wie ein Thron. Hinter ihm sind mehrere Banner aufgestellt, deren Stoff schwer nach unten fällt und dabei große Falten wirft. Das ist eindeutig eine Tafel, die für zeremonielle Zwecke hergerichtet wurde. Welche Riten wurden hier ausgelebt und warum kennt Wassili diesen Ort?
Jewgeni geht langsam in die Halle hinein und wendet sich der Seitenwand rechts von ihm zu. Über die gesamte Wand ziehen sich Regale mit Ausrüstungsgegenständen und Konserven. Er erblickt ein riesiges Warenlager altertümlicher Verpackungen für Lebensmittel. Eingelegte, grüne Tomaten in Gläsern wechseln sich mit Büchsen voll Ölsardinen, Borschtsch, Erbsen-, Graupen- und Kohlsuppe ab. Dann folgt ein mehrere Meter langes Regal mit Kartons voll Wodkaflaschen. Interessiert öffnet er einen davon, nimmt die erste Flasche heraus und studiert das Etikett. Es ist die beste Sorte, die man Ende der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts bekommen konnte. Stolz weist die Beschriftung die Herkunft als 'Сделано в СССР' und das Produktionsjahr 1988 aus.
"Huhh! Guter Stoff!", ist seine automatisch geäußerte Anerkennung.
Mit der Flasche in der Hand wandert er weiter an den Regalen entlang. Es folgen Jacken, Hosen, Stiefel, Helme, Sturmgepäck, Maschinengewehre, Munitionskisten ... In seinem Unterbewusstsein regt sich etwas, ein Alarmsignal glüht leuchtend rot in seinem Hirn auf. Unwillkürlich bleibt er stehen und als ihm der Grund für den inneren Alarm bewusst wird, lässt er vor Schreck die kostbare Flasche mit dem alten Wodka fallen.
Das ist ein Waffenlager! Wo sind sie hier hineingeraten? Ihm fällt kein Land und keine Gesellschaft ein, in denen der Besitz dieses Teiles des Lagers ungefährlich wäre. Die Glasflasche gleitet ihm aus der Hand, fällt zu Boden und zerplatzt klirrend auf dem Beton. Sofort breitet sich der scharfe Geruch des Alkohols in der trockenen Luft der Halle aus. Gierig nimmt diese die flüchtige Feuchtigkeit auf.
"Jewgeni? Bist du das? Mach hier nichts kaputt! Wir können das alles noch gut gebrauchen", meldet sich Wassili aus einem anderen Teil des großen Raumes.
"Waffen? Wassili!"
Der Schreckensruf wird durch ein intensives, lang gezogenes Stöhnen untermalt. Jewgeni steht erstarrt von dem Waffenständer, in dem mindestens dreißig vollautomatische Kalaschnikow-Gewehre hängen. Seine geweiteten Augen können sich nicht von den gefährlichen Mordgeräten lösen.
"Ach, mach' dir nichts ins Hemd. Die sind harmlos."
"Aber - aber, wir hatten doch vereinbart, dass wir so etwas nie anfassen ...", antwortet Jewgeni leise, ängstlich und leicht deprimiert.
Er bleibt weiterhin vor den Waffen und Munitionskisten stehen, ist nach wie vor starr vor Schreck und kann sich nicht rühren. Was meint sein Freund mit 'wir können dies alles noch gut gebrauchen'? Er will das Zeug gebrauchen? Dafür gibt es nur einen einzigen Verwendungszweck und genau mit diesem möchte Jewgeni gar nichts zu tun haben. Wenn das Wassilis Überraschung ist, die er Jewgeni für diesen Morgen versprochen hat, dann ist sie ihm in keinem Falle gelungen.
Einige, wenige Petroleumlampen erleuchten die Szenerie in der großen Halle. Wassili ist mit dem Befüllen und Entzünden weiterer Lampen beschäftigt. Langsam, sehr langsam, wird es in der unterirdischen Halle heller. Erste Farben sind zu erkennen. Beschäftigt mit den Lampen, arbeitet sich Wassili aus Richtung des Lastkraftwagens am anderen Ende der Halle zu Jewgeni vor, der seinen Waffenschock immer noch nicht überwunden hat und nach wie vor entsetzt auf die Maschinenpistolen starrt.
"Willkommen im Zentrum des 'Bolschewistischen Widerstandes gegen Perestroika und den Abzug'."
Dieser Versuch einer Erklärung der Ursache für die Existenz der Halle beruhigt Jewgeni nicht. Ganz im Gegenteil, er fühlt sich noch unpassender an diesem trüben, bedrohlichen Ort.
"Häh?"
"Vergiss einfach alles, was du über die Armee und deren Abzug aus Deutschland weißt. Es war komplett anders, als es in der Öffentlichkeit erzählt wurde."
Endlich löst sich Jewgeni von dem Regal. Ruckartig wendet er sich um und geht einige Schritte auf Wassili zu.
"Und was hat das mit dieser Halle und dem ganzen Zeugs hier zu tun? Ich denke '94 war Schluss und alles ist abtransportiert worden."
Wassili setzt sich grinsend auf die Bank an der langen Tafel, streckt die Füße aus, sieht Jewgeni an und beginnt zu erzählen.
"Du weißt doch, ich habe hier in Wünsdorf bis zum Tag des Abzuges gedient. Wenige Jahre zuvor, im August 91 hatte die Armee in Moskau geputscht. Du erinnerst dich? Auch hier hat es abtrünnige Offiziere gegeben, die den Putsch unterstützt haben. Nach dem fehlgeschlagenen August-Putsch haben sie sich versteckt. Dafür haben sie diesen Stollen gebaut - natürlich nicht selbst... Als ich hier ankam, existierte er wohl schon ein Jahr. In diesem unterirdischen Versteck hat sich die Opposition gegen den Zerfall der Sowjetunion und gegen einen Abzug aus dem besetzten Deutschland heimlich getroffen. Mich haben sie auch mehr oder weniger 'besetzt'. Ich wurde einfach hierher abkommandiert - zum Befüllen der Wodka-Gläser bei den Treffen. Da war immer mächtig was los, kann ich dir sagen. Mit jedem Tag, mit dem der Abzugstermin näher rückte, wurden die Reden der Putschisten gewagter und die Zechgelage ausschweifender. Am Ende wollten sie ganz Europa erobern und dann mit einer Armee von Söldnern aus den besetzten Ländern die Macht in Russland zurückgewinnen und die Sowjetunion als 'Sowjeteuropa' wieder errichten. Für den Tag X, das heißt die Operation 'Rote Flut', richteten sie dann hier auch ihr Materiallager ein. Der Putschisten-König hat jeden Tag eine Inspektion der Vorräte durchgeführt..."
"Mit dem wenigen Zeugs wollten die Europa erobern?", fragt Jewgeni zweifelnd dazwischen. Er kann sich nicht vorstellen, dass jemandes Kopf so unlogisch funktioniert.
"Haben sie so gesagt. Es sollte hier ein Fanal gesetzt werden. Mehr weiß ich nicht, ich durfte nur die Gläser einschenken. Ach so, ja: Die großen, roten Sterne habe ich auf die Türen des Lastkraftwagens malen dürfen. Sie sollten das Emblem des Sowjeteuropas werden."
Wassili steht auf und geht auf das Regal mit den Stahlhelmen zu. Er klopft gegen einen, wohl um zu prüfen, ob er wirklich hohl ist oder ob noch ein Wirrkopf darunter steckt. Da nur ein hohles 'plock' ertönt, geht er beruhigt zum Regal mit dem Wodka weiter.
"Ja, und dann kam der Tag des Abzugs und damit auch der Zeitpunkt für die Operation 'Rote Flut'. Ich hatte wirklich Angst, die Verrückten würden das ernst meinen, was sie die ganze Zeit gesagt hatten. Mich hatten sie hier in diese Bunkerhalle befohlen und hier wartete ich - viele Stunden ganz allein - und es kam niemand! Ich war der einzige Anwesende!"
"Die haben das hier alles zusammengetragen und vorbereitet und haben dann einfach gekniffen?"
"Zumindest fand im September '94 kein Widerstand statt. Ich würde nicht sagen, dass die Verschwörer 'gekniffen' haben, die meinten das einfach alle gar nicht ernst. Für die war das nur ein Freizeitspaß. Es war alles nur hohles Geschwätz und wodkaseliges Gelaber gewesen. Die Putschisten-Offiziere kauften sich gebrauchte Mercedes-Limousinen und japanische Stereoanlagen und fuhren zurück in die Heimat zu ihren Familien. Als ich merkte, dass der Unfug ausbleiben würde, habe ich mich beeilt, in die Kaserne zu kommen. Habe es gerade noch auf den letzten Truppentransporter geschafft, beinahe hätte ich hier als Mumie geendet."
Wassili nimmt eine Flasche Wodka aus dem Karton, den Jewgeni zuvor geöffnet hatte.
"Warum hat das hier niemand entdeckt?", fragt Jewgeni, der das immer noch nicht glauben kann.
"Ist abgelegen, hat keine Verbindung zur sonstigen Infrastruktur und von den Beteiligten wollte sich niemand an dieses Kapitel erinnern", erklärt Wassili und grinst: "und nun gehört das alles uns."
"Wirklich? Das will niemand zurückhaben?"
"Meinst du, einer der Putschisten kommt nach Deutschland zurück und erklärt, dass hier sein Eigentum an illegalen Waffen liegt, mit dem er gegen den Vertrag über den Abzug verstoßen und in ganz Europa eine Diktatur nach dem Vorbild von Väterchen Stalin errichten wollte?"
"Stimmt, wäre absurd und mächtig blöd."
"Siehst du, so gehört das alles uns. Ist wie das Treibgut, das nach einem Schiffbruch am Strand angespült wird...", erklärt Wassili und hält zur Bekräftigung die Flasche und zwei glänzende Messingbecher in die Höhe: "Darauf trinken wir jetzt, den besten Wodka aus Sowjetzeiten, den du dir vorstellen kannst."
"Den hatte ich auch schon entdeckt."
Auf Jewgeni schielend erklärt Wassili: "Gut, nicht? Und der vertreibt auch deine Auferstehungsfantasien."
"Wodka? Jetzt, am Morgen? Meinst du das ernst?"
"Natürlich! Ein Wodka am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen."
Wassili hält die Flasche vor eine der Petroleumlampen aus blankem Messing.
"Außerdem sieh doch: Das Zeug ist durchsichtig - immer noch nach so vielen Jahren. Das bekommt dein Körper gar nicht mit."
Lächelnd zieht er den Verschluss aus der alten Flasche und gießt die klare Flüssigkeit in die Becher: "Ist vollkommen harmlos, siehst du?"
"Na dann: auf unseren neuen Auftrag!"
"Hа здоровье!"
Die ersten сто грамм Wodka machen beide nachdenklich und die zweiten anschließend gesprächig. Jewgeni holt aus einem der Regale ein Glas mit salzig eingelegten, grünen Tomaten. Tänzelnd läuft er zwischen herumliegenden Ausrüstungsgegenständen zurück, die den Boden der Halle bedecken und stellt das große Glas auf den Tisch.
"Meinst du, die sind noch genießbar?"
"Bestimmt nicht. Grüne Tomaten sind schrecklich, in Salzlake sind sie total ekelig und nach mehr als fünfundzwanzig Jahren werden sie tödlich sein ...", er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, lacht dann und ergänzt: "... lass uns das Glas öffnen."
Sie machen es sich in der Mitte der langen Tafel bequem und stoßen ein weiteres Mal an. Wassili bringt einen Trinkspruch auf den bolschewistischen Widerstand aus, den er schon nicht mehr fehlerlos und in einem Stück formulieren kann.
Jewgeni beißt in eine der grünen Tomaten, zuckt zusammen, reißt die Augen weit auf und vergisst das Kauen. Mit offenem Mund sitzt er steif am Tisch. Die trübe, salzige Flüssigkeit aus dem Inneren der Tomate fließt ihm über die Hand und tropft auf die hölzerne, staubige Tischplatte. Wassili, der ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches sitzt, beobachtet dieses Verhalten erstaunt und belustigt.
"Jewenii - habsch doch gsagt - Tomatte is schon eklig."
Sein Gegenüber antwortet und bewegt sich nicht und starrt weiterhin durch ihn hindurch.
"Issn loss? Schon vergiftt?", forscht Wassili nach einer Antwort auf Jewgenis seltsames Verhalten.
"Dort ... da!"
Diese Antwort ist nicht hilfreich, insbesondere nicht, da Jewgeni nicht die Richtung zu erkennen gibt, in der 'dort' und 'da' liegen. Wassili muss nicht lange warten, um die Ursache von Jewgenis Verhalten zu erkennen. Plötzlich setzt sich ein Feldwebel der Infanterie neben ihn auf die hölzerne Bank. Diese bewegt sich dabei nicht, als ob der neue Gast gar kein Gewicht hat. Wassili fühlt sich sofort in die Zeit seines Wehrdienstes zurückversetzt. Der Feldwebel hat ebenfalls einen Messingbecher in der Hand, der wohl mit Wodka gefüllt ist. Er zwirbelt seinen Schnauzbart, hält Wassili den Becher vor die Nase und bringt einen Trinkspruch aus.
"Trinken wir auf die großartige Sowjetunion, die Heimat des Weltkommunismus, den Hort der Zukunft!"
Wassili ist doppelt irritiert: Die Sowjetunion gibt es schon über zwanzig Jahre nicht mehr und als er aus einem Reflex heraus, mit seinem Becher gegen den ihm entgegengehaltenen stoßen möchte, greift der durch die Hand des Feldwebels hindurch. Erschrocken antwortet er auf den Trinkspruch vorsichtig fragend und leert sein Glas in einem Zug, wie es sich gehört.
"Hа здоро ... ?"
Trotz des vielen Alkohols, der sein Blut bereits ordentlich verdünnt und seine Synapsen in ihrer Arbeit behindert, kommt ihm das seltsam und gespenstisch vor. Er kann den Feldwebel neben sich sehen und hören. Nur fühlen kann er ihn nicht und außerdem kommt er ihm bekannt vor. War dieser im Jahr 1994 hier nicht für die Versorgung zuständig? Hat er von ihm nicht immer die Kisten mit den Getränken für die Bunker-Feiern bekommen? Wo kommt der jetzt her? In Wassilis Kopf rumort es. Der Wodka lässt schon längst keinen Gedanken mehr geradlinig verlaufen und die Schlussfolgerungsketten verwirren, verzweigen und verknoten sich mehr und mehr. So begrüßt er ein neues Geschehen, das alle anderen Gedanken ausblendet und die letzten, funktionsfähigen Teile seines Hirns in Beschlag nimmt. Ihm gegenüber, auf der Sitzbank von Jewgeni, tauchen urplötzlich zwei Stabsoffiziere auf. Den Schulterklappen nach zu urteilen, ist der eine Oberst der Infanterie und der andere Oberst der Panzertruppen. Sie setzen sich links und rechts neben Jewgeni. Saß dieser vorher nur etwas steif am Tisch, ist er jetzt vollständig erstarrt. Er atmet sehr flach, hechelt, bewegt sich nicht, blickt auf einen Punkt hinter Wassili und versucht trotzdem die beiden Offiziere an seiner Seite zu beobachten. Gleich einem Chamäleon bewegt er dazu die Augen in unterschiedliche Richtungen nach außen, um sein Blickfeld zu vergrößern und die neuen Gäste an der Tafel erkennen zu können. Seine Anstrengungen enden in einem gewaltigen Schielen. Das ängstigt Wassili mehr, als die drei Gäste, die sich an ihren Tisch gesetzt haben.
"Jeffgennie - die Augnn!"
Sein Gegenüber bleibt sprach- und bewegungslos, schiebt die Augen noch weiter auseinander und beobachtet ausschließlich die beiden Offiziere. Der Wodka hat die Verarbeitungskapazität auch seines Denkapparates drastisch vermindert. Gleichzeitiges Beobachten und Sprechen ist augenblicklich jenseits seiner Fähigkeiten. Die zwei Oberste scheinen niemanden in der Halle wahrzunehmen. Wassili weiß, dass das nicht stimmt - sie ignorieren nur die Zivilisten und gemeinen Soldaten, da diese sehr weit unter ihnen in der militärischen Hierarchie stehen. Mit dem Volk geben sie sich nicht ab. Dafür sind die Truppenoffiziere zuständig. Beide Stabsoffiziere diskutieren die korrekte Ausrichtung des roten Sterns an den Ausrüstungsgegenständen der Putschisten. Sie sprechen einfach durch Jewgeni hindurch, als ob er gar nicht zwischen ihnen sitzen würde.
"Da müssen zwei Zacken nach oben zeigen."
"Warum zwei? Du hast doch einen Zacken zu viel! Auf jedem Bild ist zu sehen, dass immer nur einer in die Höhe zeigt: Es kann nur einen geben!", der Oberst der Infanterie setzt ein wissendes Lächeln auf: "Ich habe gelesen, dass dies so wegen des Drudenfußes ist. Wir schützen damit unsere Operation 'Rote Flut' vor bösen Geistern!"
"Wir sind Revolutionäre, keine Druiden! Wir machen eine Revolution - wie die Punkrocker", entgegnet der Mann der Panzertruppen.
"Ja? Und?", der Infanterist beugt sich vor, sieht um den schielenden Jewgeni herum und den anderen Oberst mit einem verächtlichen Ausdruck im Gesicht von der Seite an: "Und was hat das mit dem roten Sowjetstern zu tun?"
Der Panzer-Oberst schlägt erbost mit der zu einer Faust geballten, rechten Hand auf den Tisch - ohne Widerhall. Trotzdem zuckt Jewgeni, rechts von ihm versteift sitzend, zusammen und wendet ihm reflexhaft den Kopf zu.
Der Offizier nimmt die Schirmmütze mit dem großen 'Teller' vom Kopf und wirft sie dem anderen Streitenden an die Brust. Die Kopfbedeckung gleitet direkt durch Jewgeni hindurch. Diese Aktion begleitet der erregte Offizier mit einem lauten Ausruf, der durch den großen Bunker hallt.
"Revolution - Rocker - Faust - Gruß - zwei Finger!", er tippt sich mit dem Zeigefinger der linken Hand an die Stirn: "Sage einmal, bist du so dumm, dass du das nicht verstehst, oder tust du nur so?"
Natürlich lässt sich das der Infanterist nicht zweimal sagen und geht zum Angriff über. Er springt auf, greift durch Jewgeni hindurch und dem Panzeroffizier an den Hals. Jewgeni sieht, wie sich zwei Hände und Arme aus seiner Brust herausschieben und den Mann vor ihm würgen und ihn schütteln. Das sind definitiv zu viele Erlebnisse und neue Erfahrungen für Jewgeni. Er sinkt langsam zur Seite, legt sich mit seinem gesamten Oberkörper auf den Tisch und beginnt laut zu schnarchen. Die beiden Offiziere stört das nicht. Sie würgen sich weiter gegenseitig und beginnen sich gegen die Schienbeine zu treten.
"Drudenfuß!"
"Rockergruß!"
"Druden..." - "...gruß"
Der Feldwebel sitzt immer noch neben Wassili und zwirbelt ununterbrochen und nervös seinen Bart. Das Gerede und der handfeste Streit der Offiziere gehen ihm offensichtlich auf die Nerven. Schließlich ergreift er die Initiative, gießt sich Wodka aus einer Flasche ein, die er aus einer Innentasche seines Mantels zieht und bringt einen Trinkspruch aus. Da er ihn laut und mit einem dröhnenden Bass hervorbringt, fühlen sich die Oberste gestört und unterbrechen ihre tätliche Diskussion.
"Und wenn wir vom Ural bis an das IJsselmeer herrschen, schließen wir alle großen Städte Sowjeteuropas an die Wodka-Pipeline an!"
Abermals stößt er mit seinem Becher durch Wassilis Hand hindurch und trinkt seinen Geisterwodka in einem Zug aus. Wassili möchte nicht mehr sprechen. Der Alkohol macht dieses Unterfangen im Augenblick zu kompliziert und sein Hirn leidet bereits mächtig unter einer Reizüberflutung. Sprachlos stürzt auch er seine сто грамм hinunter. Noch bevor die Flüssigkeit seinen Magen erreicht, fällt sein Kopf mit einem dumpfen Krachen auf den langen Tisch. Die Vibrationen des Aufpralls wandern durch die Tischplatte, erreichen die Flasche und lassen auch diese umfallen. Die letzten Tropfen des Wodkas rinnen aus ihrem Hals hervor, bilden eine Lache auf dem Tisch und das trockene Holz saugt sie gierig auf - die erste, alkoholische Flüssigkeit nach fast zwanzig abstinenten Jahren.
****
'Eine Feier am Morgen vertreibt alle Sorgen.' Zumindest haben sich Wassili und Jewgeni das eingeredet.
Der Anlass ist gut und der überlieferte Spruch eine Begründung und Beruhigung zugleich. Nach den Anstrengungen des frühen Aufbruchs und der Suche des großen Bunkers, halten sie nicht besonders lange durch und der unerwartete, virtuelle Besuch aus der Vergangenheit gibt ihnen den Rest. Die neuen Gäste lösten sich nach und nach in der trockenen Luft der unterirdischen Halle wieder auf und Jewgeni und Wassili fallen in einen tiefen, traumlosen Schlaf, gleich einer Ohnmacht. Der Wodka tötet alle Gedanken in ihren Hirnen. Sie liegen mit ihren Köpfen auf dem grob gearbeiteten Tisch. Jewgeni schnarcht durch den offenen Mund. Sein Freund schläft ihm gegenüber mit offenen Augen. Ab und zu rollen diese in ihren Höhlen hin und her. Interessant ist, dass sie dabei in gegenläufigen Richtungen rotieren. Da Jewgeni das nicht sieht, kann er Wassili später auch nicht bitten, dies im wachen Zustand zu wiederholt.
Woran werden sie sich nach dem Erwachen erinnern? Wird Wassili die Herkunft des großen, blauen Fleckes auf seiner Stirn erklären können? Eines steht jedoch bereits fest: Ihren Plan und den Auftrag vergessen sie nicht.