Die nächste Feier

Drei Dinge sind nicht zu ermüden: ein Knabe auf der Gasse, ein Mägdlein am Tanz, ein Priester im Opfer.

Johann Geiler von Kaysersberg

Der Silvesterabend ist in vollem Gange: rauschende Feste, Bankette, Musik, Tanz bis in den Neujahrsmorgen, Feuerwerk, ... Das gesamte Land ist in Bewegung, alle Menschen sind auf den Beinen und amüsieren sich. Auch auf einem abgelegenen Spreewaldhof wird gefeiert. Die untere Etage des Haupthauses ist vollständig erleuchtet, jedoch nur hinter den Fenstern des Esszimmers ist Bewegung zu erkennen. Zwei Menschen tanzen. Die Häuser des Hofes stehen viele Meter von der nächsten Straße entfernt und der Spreekanal, der direkt unter den erleuchteten Fenstern vorbeiführt, ist am Silvesterabend unbelebt. Das neue Jahr bricht erst in etwas mehr als einer Stunde an und die Feiernden haben noch nicht die Häuser verlassen. So kann niemand die unbeholfenen Versuche des Paares erkennen, in den synchronen, schwebenden Bewegungsablauf zu kommen, der die Grundlage des Tanzens eines Walzers ist. Die für die Gegend, das Alter der Tanzenden und eine Silvesterfeier untypische Musik dringt aus einem der geöffneten Fenster. Die ungewöhnlichen Töne wehen mit dem leichten Wind über den Kanal und zerstreuen sich auf der Wiese hinter dem anderen Ufer. Dort sind einige Wildschweine dabei, den Boden zwischen den Erlen zu durchpflügen, die den Kanal säumen. Ab und zu unterbrechen sie ihre anstrengende, kraftraubende Arbeit. Eines der schweren Tiere hebt den Kopf und lauscht den unbekannten Lauten hinterher. Es weiß zu seinem Glück noch nicht, welche Töne in wenigen Minuten zu erwarten sind, wenn alle Menschen der Umgegend gleichzeitig ihre Häuser verlassen und sich über den Beginn des neuen Jahres freuen werden. Den Wildschweinen ist dieses Verhalten fremd. Für sie ist ein Tag wie der andere. Zeit ist für sie eine endlose Abfolge von Hell und Dunkel und immer steht ausschließlich das Auffinden von ausreichend Nahrung im Mittelpunkt. Das Jahr, zu dem ein Tag gerechnet wird, ist für Wildschweine uninteressant und dass einer dieser Wechsel nach 365 vorhergehenden etwas Besonderes haben soll, verstehen sie nicht. Ein Wildschweinphilosoph äußerte einmal, dass das mehr ein 'nicht verstehen wollen' ist. Leider konnte er diese Meinung nicht vertiefen, da er wenige Tage, nachdem er diese These publiziert hat, von dem lokalen Dorfrestaurant zu Gulasch transformiert wurde.

Anja und Matz drehen sich zu der Musik, die nach ihrer beider Meinung schon seit Stunden spielt und nie enden will, immer wieder im Kreis. Ab und zu stehen ihnen ihre Beine im Weg, einmal sind es die eigenen, ein anderes Mal die des Tanzpartners. Attila steht am Rand, begutachtet die stolpernden Bewegungen des Tanzpaares und gibt Anweisungen zur Verbesserung ihres Stils. Er ist unzufrieden, da seine beiden Schüler nicht so schnell lernen, wie er es gern möchte. Als Matz zum wiederholten Male aus dem Takt und mit seinem rechten Fuß zwischen die Beine eines Stuhles gerät, stemmt Attila die Hände in die Hüften, spreizt die Ellbogen ab, wirft den Kopf in den Nacken und blickt voll Entrüstung an die Decke.

"Pahh, was soll DAS denn sein? Ihr nennt das doch nicht etwa 'Tanz'! Mit dieser Leistung werfen die euch schon nach wenigen Minuten aus dem Ballsaal. Wenn ihr natürlich auffallen wollt - damit gelingt das garantiert und immer!"

Anja unterbricht abrupt ihre Bewegung, lässt Matz los, ihn einsam mitten im Raum stehen und geht zum Tisch. Demonstrativ und stöhnend setzt sie sich auf den Stuhl, in dem Matz sich noch vor wenigen Sekunden verhakt hatte.

"Attila! Das ist jetzt aber gar nicht pädagogisch wertvoll!"

"Na und! Es ist notwendig. Punkt. Wenn ihr auf einem Ball unerkannt bleiben wollt, dann müsst ihr das beherrschen."

Anja stützt erschöpft den Kopf in eine Hand und sieht Attila nachdenklich an, ohne etwas zu sagen. Die Kommunikationspause währt nur Sekunden, für Anja trotzdem schon recht lange.

"Sag' einmal Attila, woher kannst du eigentlich so gut tanzen?"

"Als Spitzenpolitiker wird man zu Bällen, Empfängen und anderen Anlässen mit repräsentativen Aufgaben eingeladen", doziert er betont förmlich.

"Dort hast du das Tanzen gelernt?", fragt Anja ungläubig und fügt leise hinzu: "Ich dachte immer, Politiker arbeiten den ganzen Tag nur für ihre Wähler..."

"Das denkst du doch nicht ernsthaft, oder?"

Während er seine Gegenfrage stellt, lächelt Attila bereits wieder. Natürlich kann niemand innerhalb von wenigen Minuten das Tanzen erlernen. Wie bei jeder anderen Fähigkeit, kann man auch diese nur mit viel Übung erwerben und perfektionieren. Manch einem gelingt es nie. Wenn beide jedoch Anjas Plan umsetzen möchten, dann müssen sie perfekt Walzer tanzen können. Matz hatte vor einigen Stunden, zu Beginn ihrer Silvesterfeier, von einem seiner letzten Einsätze erzählt. Der Kunden war nach seiner Befreiung von Schad- und Spionagetechnologie so glücklich, dass er ihm seine Karten zum Wiener Opernball anbot, die er als Sponsor bekommen hat. Die einzige Bedingung dabei war, Matz und seine Partnerin müssen sich für ihn mit Partnerin ausgeben. Natürlich wollte Anja sofort zu dem Ball: Einmal im Leben ein solches Kleid tragen! Matz versuchte ihr diese Idee auszureden. Erfolg hatte er damit nicht. Der befreite Kunde ist immer sehr darauf bedacht, nicht in der Öffentlichkeit aufzufallen und möglichst unerkannt zu bleiben. Sie müssten also ein perfektes Double darstellen - einen ganzen Abend lang und sie müssten ebenfalls perfekt Walzer tanzen, um nur nicht aufzufallen! Attila bietet sich sofort als Lehrer an, da er selbst ein ganz passabler Walzertänzer ist und natürlich, weil er einen großen Spaß dabei vermutet. Leider sind die Tanzübungen bisher gar nicht lustig, weder für ihn noch für seine beiden Schüler.

"Nee, eigentlich nicht", antwortet Anja nach kurzer Pause.

"Und wenn du wüsstest, was auf politischen Empfängen in den Hinterzimmern so alles geschieht...", platz Attila voreilig heraus.

"Oh ja, erzähle bitte ... bitte, bitte!", bettelt Anja sofort.

Sie hofft auf spannende Erzählungen und Enthüllungen, die jede Boulevardzeitung in den Schatten stellen. Schließlich war Attila für viele Monate aktiver Teil des innersten Zirkels der Spitzenpolitik des Landes. Die Berichte von den abwegigen Wahlveranstaltungen seiner ehemaligen 'Wahren Partei des Deutschen Volkes', die er am zweiten Weihnachtsfeiertag zum Besten gab, waren sehr unterhaltsam und nun kann er dies mit weiteren, spannenden Enthüllungen noch übertreffen. Zur Unterstützung ihrer Bitte und seiner Ermutigung gießt sie Sekt in drei Gläser.

"Lieber nicht! Ich möchte bei euch nicht auch noch die letzten Reste des Glaubens an ehrliche und moralisch integre Politiker zerstören. Und ich kenne einige Journalisten, die für diese Geschichten über Leichen gehen würden", wehrt Attila ab.

Matz lehnt an der Wand und erholt sich von der Tanzstunde und den widersprüchlichen Anweisungen des Lehrmeisters, die selten zu einem besseren Verständnis für die notwendigen Bewegungsabläufe beigetragen haben. Er fragt sich, ob Attila sie aus Spaß in die Irre geführt hat, oder ob er einfach sehr chaotisch bei der Wahl seiner Übungen vorgegangen ist. Beides traut er ihm zu und wahrscheinlich beschreibt eine Mischung davon, sozusagen ein chaotischer Spaß, die Situation am besten. Er freut sich, dass Anja der Abend gefällt. In den letzten Jahren hatte er den Silvesterabend immer allein auf dem Hof verbracht und Artefakte präpariert. Der Tag des Jahreswechsels hat für ihn keine besondere Bedeutung. Von seinen Freunden lebt niemand in der Nähe, somit sind abendliche Feiern auf dem Hof extrem selten. Da er fast jeden Monat eine der vielen Konferenzen, Summits und Kongresse besucht, trifft er seiner Freunde und Bekannten regelmäßig, natürlich auch zum Feiern auf dem üblichen 'get together' oder 'evening event' an den Abenden. Bei den Vorbereitungen für die Silvesterfeier ist ihm bewusst geworden, dass er keine Ahnung mehr davon hat, wie man selbst eine Feier ausrichtet. Alles scheint er nicht verlernt zu haben.

"Och Attila, sei kein Frosch - erzähle bitte...", Anja lässt nicht locker.

"Lieber nicht, diese Art von Wissen ist ungesund", antwortet Attila ernst.

"Schade", Anja blickt Attila enttäuscht an und schiebt ihm ein Sektglas zu: "Hier hast du trotzdem einen Aufmunterer, vielleicht hilft er dir dabei, dich umzuentscheiden."

Sie steht auf und bringt Matz, der immer noch an der Wand lehnt, ebenfalls ein gefülltes Sektglas.

"Dann lasst uns wenigstens anstoßen und anschließend gehen wir sprengen, ja? Prost!"

"Sprengen?", Matz sieht sie fragend an.

"Äh, ach so. Ich meine natürlich 'knallen'. Du hast doch Raketen und solch Zeug, oder?"

Daran, wie Anja die Frage stellt und an der Modulation ihrer Stimme, merkt Matz deutlich, dass sie ein 'nein' erwartet. Sie rechnet nicht damit, dass es hier Böller, Silvesterraketen, bengalische Feuer oder ähnliche Spielzeuge für den Höhepunkt dieses Abends gibt. Auch Attila ist sich bezüglich des Vorhandenseins silvesterlicher Sprengmittel auf dem Matz-elemec-Hof überhaupt nicht sicher.

"Ja, hast du welche, Matz?"

Gut, jetzt weiß er, dass er für diese spezielle Feier doch eine Vorbereitung vergessen hat. Natürlich gibt es im Haushalt eines bekennenden Pazifisten keine Sprengstoffe und Silvesterraketen hat er nicht gekauft, hat er noch nie. Dafür gab es bisher keine Notwendigkeit und einen hinreichenden Grund schon gar nicht. Nun, niemand ist perfekt. Das ist für Matz natürlich kein Anlass, deprimiert zu sein und aufzugeben. Er muss nachdenken, sich schnell etwas einfallen lassen und eventuell improvisieren. Zuerst kämpft sich der Gedanke an die Warnung vor 'Polenböllern' in sein Bewusstsein. Im Radio wird seit Tagen ununterbrochen vor diesen gewarnt. Die magische 'penetration rate', die die Werbeindustrie vor Jahren ermittelt hat, ist damit bei ihm bereits deutlich überschritten worden. Was an Synapsen-Verknüpfungen hängen geblieben ist, ist die unterbewusste Assoziation zwischen 'Polen' und 'Gefahr'. Genau das stört ihn seit Tagen: Diese Medienkampagne hat als Resultat eine ähnliche Wirkung auf das Unterbewusstsein, wie die Propaganda der Nationalsozialisten in den Dreißigerjahren. Somit bleibt ihm nichts weiter übrig, als weiterhin gegen sein Unterbewusstsein zu kämpfen. Er freut sich über jeden Auftrag, der ihn über die flüssige Grenze in das östliche Nachbarland führt. Genau das ist die Lösung seines kleinen Problems mit dieser Silvesterfeier! Im November hatte er einen Auftrag in Gorzów Wielkopolski, dem früheren Landsberg an der Warthe, angenommen. Dort waren in einem Haus stöhnende Spionagekreuze zu entfernen, die nun seine Sammlung technologischer Artefakte bereichern. Diese Kreuze sind so konstruiert, dass sich ihre elektronischen Innereien erst bei Dunkelheit einschalten. Sobald es im Raum wieder hell wird, sei es durch das Tageslicht oder eine Lampe, erlischt das Leben in der Elektronik. Ist diese aktiviert, stößt sie in unregelmäßigen Abständen ein gruseliges, markerschütterndes Stöhnen aus. Für nicht mehr als zwei bis drei Sekunden hallt es durch den Raum und weckt jeden Anwesenden, beziehungsweise beendet alle Gespräche. Spätestens nach der dritten Wiederholung ist das Zimmer menschenleer. Wegen der kurzen Dauer dieser Stör- und Foltergeräusche kann die Quelle nicht durch Hören geortet werden. Natürlich waren vor Matz wieder einmal verschiedene Geistliche und andere Geisterjäger Zugange und wie immer haben sie bei der Suche nach den Dämonen versagt. Wo nichts ist, kann auch nichts gefunden werden. Seit Tagen lebten die Bewohner des Hauses in den kreuzlosen Bädern. Ein Bekannter aus dem Netzwerk des 'cyber hysteria underground' vermittelte den Kontakt zu Matz. Dieser kam, suchte und fand die Störquellen, natürlich mit den technischen Hilfsmitteln von der Ladefläche des Drohnenfängers. Eine schnelle Analyse, gleich vor Ort durchgeführt, brachte nur wenige Erkenntnisse. Die als Devotionalien getarnte Spionagetechnik ist in der Lage, Gespräche aufzunehmen. Diese können mittels eines Senders, der über eine Reichweite von mehreren Kilometern verfügt, an den Herrn und Meister dieses Unfugs übertragen werden. Die Batterien sind für eine Lebensdauer von etwa zehn Jahren ausgelegt und die gesamte, glänzende Vorderseite der Kreuze besteht aus Solarzellen - insgesamt eine Garantie für endlose Folter, sozusagen die Hölle auf Erden. Doch wer quält nachts seine Mitbürger mit einem schrecklichen Stöhnen und versucht anschließend Gespräche abzuhören, wenn alle Anwesenden garantiert den Raum verlassen haben? Der gesamte Zweck der Installation erschien Matz und seinem Kunden reichlich sinnlos.

Der Hausherr konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihm so etwas antat. Noch weniger konnte er sich das 'Warum' erklären. Die Kreuze hatte er an verschiedenen Tagen im offiziellen Devotionalien-Geschäft des Bistums Zielona Góra-Gorzów erworben und in mehreren Räumen seines Hauses an den Wänden angebracht. Eventuell waren diese technologischen Folter- und Spionageartefakte gar nicht für ihn bestimmt gewesen. Eine Wirkung auf ihn hatten sie jedoch: Vor der Aktion war er streng gläubig - nun hat er abgeschworen und ist bekennender Agnostiker. Es mag sein, dass es Götter gibt, so richtig kann er an diese jetzt nicht mehr glauben. Aus Dankbarkeit über die Rettung des Schlafes seiner Familie und die Befreiung von dem sinnlosen, gruseligen und nervtötenden Stöhnen, schenkte er Matz eine Kiste mit Silvesterraketen aus polnischer Produktion. Genau diese retten nun ihrerseits die Feier.

"Hmm, ja ... doch! Von meinem letzten Einsatz in Polen habe ich extra für heute etwas mitgebracht", improvisiert Matz nach der längeren Pause, während der er den Gedanken in die Tiefen seines Hirns folgte.

Anja und Attila hatten schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet. Nun sind sie um so überraschter. Attila springt auf, als ob er der Frosch in dem berühmten Experiment von Luigi Galvani ist.

"Aha! Heimliche und illegale Polenböller!"

Attila ist die Freude deutlich anzusehen, die diese Nachricht bei ihm auslöst. Verspricht sie doch neuen, ungewöhnlichen Spaß. Seine Augen strahlen und er läuft unruhig in Richtung der Tür, um die Sprengmittel sofort zu holen.

"Nein, nicht direkt - wahrscheinlich ist es noch viel gewaltiger. Es sind Raketen."

Natürlich ist das eine bisher nicht eindeutig belegte Variation der Wahrheit. Matz hat den Karton nie geöffnet. Er hatte nicht unhöflich wirken und das Geschenk ablehnen wollen. So nahm er die Raketen mit nach Hause. Ungeöffnet, wie er die Pappkiste aus dem Einsatzfahrzeug nahm, hat er sie auch in ein Regal des Geräteraumes gelegt. Attila konnte sie bei den Renovierungsarbeiten nicht entdecken, da er nur Werkzeuge und Materialien von den unteren Regalböden benötigte. Die Kiste ruht nach wie vor in einer dunklen Ecke, knapp unter der Decke des Raumes.

"Na dann, nichts wie raus und die Dinger fliegen lassen!"

Anja dauert die Angelegenheit jetzt schon viel zu lange. Sie fasst Matz an der Hand und zieht ihn hinter sich her in den Flur. Attila hat bereits das Haus verlassen und sucht die Kiste im Werkzeugraum.

****

Die drei Feiernden stehen im Freiraum zwischen den Gebäuden des Spreewaldhofes. Auf dem Boden, direkt unter ihnen, liegt die geöffnete Kiste. Sie betrachten den Inhalt mit einigem Abstand und Vorsicht - die Medienkampagne gegen Polenböller zeigt ihre Wirkung. Jeder von ihnen hat eine eigene, ganz andere Meinung bezüglich des Gefährdungsgrades, der von den Papprollen ausgeht, die in dem Karton liegen. Die meisten Bedenken äußert Matz. Schließlich ist er Pazifist und kämpft ununterbrochen gegen den Einsatz von Technik zum Zweck der Gewaltausübung. Silvesterraketen sind für ihn auch nur technische Mittel, um seinen Mitmenschen akustische Gewalt anzutun. Anjas Einwand, dass die große, alte Sirene auf seinem Haus problemlos in die gleiche Kategorie von Werkzeugen fällt, möchte er nicht gelten lassen. Argumente fallen ihm keine ein, nur noch eine letzte, vorsichtige Frage.

"Wollt ihr das wirklich wagen?"

Natürlich will Attila! Schnell hat er die erste Rakete auf eine leere Sektflasche gesteckt und sucht nach Streichhölzern, einem Feuerzeug, irgendetwas Zündendem.

"Hmm, wo sind die Dinger denn hin?", spricht er ungeduldig zu sich: "Matz muss ich nicht fragen, mit offenem Feuer möchte er nichts zu tun haben und Anja wird als Brandbekämpfer erst recht keine Zündmittel zur Hand haben."

Matz und Anja sehen sich an, blicken dann wieder auf Attila, der vor ihnen hockt und alle Taschen seiner Kleidung durchsucht. Dann beginnen sie laut zu lachen.

"Attila, wozu solltest du Streichhölzer oder ein Feuerzeug bei dir tragen?"

"Stimmt."

"Wie hast du eigentlich die Landebahn für den timesurfer erleuchtet? Die Teelichte musst du doch irgendwie entzündet haben..."

"Stimmt wieder! Die Streichhölzer liegen bei den Geräten!", zeitgleich zur Verkündung dieser Erkenntnis schlägt er sich mit der flachen Hand klatschend vor die Stirn.

****

Mit einem lauten Fauchen schießt die Rakete in die Höhe. Sie zieht einen leuchtenden Schweif sprühender Funken hinter sich her. Aus einer größeren Entfernung könnte sie als senkrechter Komet gelten. Das Fauchen wird schnell von einem durchdringenden Pfeifen unterstützt, das endlich in ein Heulen übergeht. Die Rakete steigt unbeirrt weiter in die Höhe. Plötzlich zerplatzt sie in einen silbernen Funkenball, der sich schnell in der Luft über dem Hof ausbreitet. Etwas später rollt ein dumpfer, lauter Knall zwischen den Gebäuden hin und her. Die Lautstärke und auch die Höhe übertreffen die Raketen um einiges, die vereinzelt von den Nachbarhöfen aus gestartet werden.

"Das ist 'mal ein Feuerwerk!"

Attilas Begeisterung ist grenzenlos. Schnell steckt er eine zweite Rakete auf den Hals der Sektflasche und lässt die kurze Zündschnur am Ende der Papprolle aufglühen. Wieder schießt der Flugkörper in die Höhe, begleitet von lauten Geräuschen. Den dumpfen Knall der Rakete, der von der Explosion auf dem Scheitelpunkt ihrer Flugkurve ausgelöst wird, begleitet dieses Mal ein deutlich hörbares Klirren. Kurz darauf rieseln Plastikteile auf den Boden, eine glänzende Metallscheibe, groß wie der Unterteller einer Kaffeetasse, fällt vom Himmel und rollt scheppernd über den Torweg. Alle drei sehen sich verdutzt an. Das metallene Teil bleibt einige Meter entfernt vor ihnen liegen, mitten auf dem Torweg. Attila geht auf es zu, um es einzusammeln. Was ist ihm nun schon wieder geschehen? Hat er etwas abgeschossen? Was fliegt am Silvesterabend unbeleuchtet über den Häusern des Spreewaldes? Auf dem Weg tritt er auf ein größeres, schwarzes Stück Plastik. Er sammelt auch dieses ein und bringt die Beute zurück zu den beiden anderen. Im Licht der Hoflaterne begutachten sie die Fundstücke. Ganz offensichtlich sind es Teile einer Drohne, darunter wohl ein Stück einer Kamera. In dem größeren Plastikteil steckt noch eine Speicherkarte.

"Was sonst - eine Drohne!"

Matz ist nicht sonderlich erstaunt. Seit einigen Jahren wird der freie Luftraum immer stärker von fliegenden, technischen Artefakten bevölkert. Die meisten dieser Fluggeräte sind inzwischen Drohnen, die als Spielzeug verkauft werden. Er hat in der näheren Umgebung einige Messstationen verteilt und führt seit Jahren Statistiken über die elektromechanische Verseuchung des Himmels.

"Matz, warum hat das Abwehrsystem des Hauses das nicht gemeldet?"

"Schalte ich zu Silvester immer ab, um wegen der Raketen nicht ununterbrochen Fehlalarme auszulösen."

"Was meint ihr? Ein neugieriger Nachbar oder Attilas Verfolger aus Transnistrien?"

"Vielleicht hat die Speicherkarte überlebt und wir finden Filme, die uns das erklären. Kommt, lasst uns das im Haus untersuchen."

"Die Drohnenabwehr schaltest du lieber wieder ein. Besser ein Fehlalarm als eine weitere, unangenehme Überraschung."