Magic Machine Busters
Das menschliche Leben ist ein Kampf von Anfang bis Ende. Wir alle werden unter Umständen von Kummer und Schmerzen in dieses elende Leben geboren.
August Strindberg
"Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll", Attila sieht müde aus.
Die Euphorie, die er in den letzten Tagen mehrfach und in Unmengen versprühte, scheint vollständig aufgebraucht zu sein. Der Verlauf des ersten Tages des neuen Jahres ist auch nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Nach der mitternächtlichen Glühweinaktion auf dem Spreekanal und mitten im Dorf Lehde, ist er kaum zur Ruhe gekommen. Zuerst musste der Kahn wieder an Land gebracht werden und dann hat er diesen gemeinsam mit Matz zum zweiten Mal winterfest eingelagert. Natürlich musste er die beiden Aufklärungstorpedos für Binnengewässer inspizieren, die in der Nacht ihr Gefährt gezogen hatten. Auch bei Tageslicht konnte er nicht durch die Gitter in das Innere der schweren Aluminiumröhren blicken. Es gab also viel zu tun und Attila kam erst am späten Nachmittag zur Ruhe. Fast zwei Tage ohne Schlaf und mit ausgiebigem Feiern begannen ihre Wirkung zu zeigen. Am Abend setzen nun die Ernüchterung und Depression ein. Ein Adrenalinentzug verstärkt dies noch, fehlt doch seit dem Morgen jegliche Aufregung. Die freien Tage und die Feierlichkeiten sind vorüber. Es ist nicht so, dass Attila ab morgen einer geregelten Tätigkeit nachgehen muss. Er wird Matz helfen und gemeinsam mit ihm die verrücktesten, technologischen Absonderlichkeiten jagen - wenn es Aufträge gibt. Vielleicht hat Matz das auch schon wieder vergessen, vielleicht auch nicht. Da er von den vielen Aufträgen nichts weiß, die sich innerhalb der vergangenen Tage in Matz's Posteingang angesammelt haben, geht Attila von ab sofort beginnender Langeweile aus. Auch die Lösung seines monetären und moralischen Schuldenproblems wird erst in der fernen Zukunft, nach vielen Jahren, möglich sein. Vor ihm liegt also eine unendliche Zeit mit Langeweilefolter - eine endlose, spaßfreie Hölle. Einige Minuten zuvor ist Anja auf dem Hof angekommen. Jetzt sitzen alle drei wieder an dem großen Küchentisch und Attila stöhnt seine Depression heraus. Er ist auf seinem Stuhl in sich zusammengesunken und blickt traurig auf sein volles Glas mit Wasser, dessen Füllstand sich seit vielen Minuten nicht geändert hat. Anja sieht erschrocken zu ihm und stellt ihr Glas wieder auf den Tisch, das sie gerade zum Mund führen wollte.
"Attila! Sag' nicht so etwas!"
Attila hebt den Kopf und blickt traurig durch sie hindurch.
"Das Leben ist aus - aller Spaß ist zu Ende. Eigentlich kann ich zum Kanal gehen und mich hineinwerfen", nach diesem Depressionsausbruch fährt er mit dem Hypnotisieren des gefüllten Wasserglases fort.
Matz und Anja sehen ihn beide verständnislos an. Was meint er damit? Ist schon wieder eine neue Katastrophe eingetreten? Sie haben keinen Lärm und keinen Alarm gehört, eine Explosion oder ein Feuer haben sie auch nicht gesehen. Damit ist nichts von den Dingen geschehen, die üblicherweise eine Attila-Katastrophe anzeigen. Soweit sie wissen, hat sich die Gesamtsituation seit Mitternacht nicht geändert.
"Was meinst du damit? Erzähle uns einfach, welch neues Problem dich aus der Bahn geworfen hat", versucht Anja mehr Informationen von Attila zu bekommen.
"Na was passiert denn jetzt? Ab morgen geht jeder von euch wieder seiner täglichen Beschäftigung nach und ich warte hier die nächsten Jahre auf meinen Tod. Da kann mich gleich der Nix holen."
Es entsteht eine Pause, in der Matz und Anja versuchen, Attilas Gedankengänge zu verstehen und die Ursache seiner Depression zu ergründen. Langsam, sehr langsam versteht Matz, was sein Gast meint. Ihm ist nur nicht klar, wie dieser darauf kommt.
"Ach so, da liegt dein Problem. Ich dachte schon, es ist wieder etwas explodiert."
"Schön wär's, dann wäre wenigstens etwas los", spricht Attila leise, wie zu sich selbst und starrt dabei weiter mit leeren Augen auf das Trinkglas.
"Morgen Vormittag fangen wir an - wie versprochen! Wir haben bereits jetzt Aufträge für die nächsten Monate, eigentlich das gesamte erste Quartal", prüfend sieht er Attila an und fügt aufmunternd hinzu: "Pünktlich um zehn Uhr beginnt die Lagebesprechung. Wir stufen die Aufträge nach Dringlichkeit ein und legen die Reihenfolge fest, in der wir uns um sie kümmern werden. Du bist morgen besser ausgeschlafen."
Schlagartig ist Attila wieder wach. Mit einem Ruck setzt er sich aufrecht auf seinen Stuhl, greift nach dem vollen Glas mit Wasser und trinkt es in einem Zug aus.
"Sag! Womit beginnen wir?"
Anja hat den letzten Teil des Gespräches verfolgt, ohne etwas zu sagen. Sie versteht erst nach Attilas Reaktion, was ihn so sehr deprimierte und auch was die beiden Männer gerade verabreden. Um nichts auf der Welt möchte sie dieses Abenteuer verpassen!
"Lasst uns das gemeinsam fortführen. Da will ich auch mitmachen!", meldet sie sich fordernd und betont das Wort 'gemeinsam' ganz besonders.
"Das ist gefährlich...", wehrt Matz sofort ab.
Anja stemmt demonstrativ die Arme in die Seiten und unterbricht ihn: "Willst du damit sagen, dass das nichts für Frauen ist?"
Sie setzt ein strenges Gesicht auf und versucht ihn ernst aus zusammengekniffenen Augen anzublicken. Die Brauen hat sie über der Nasenwurzel zusammen und nach unten gezogen. Anstatt in dieser Lage zu verharren, zucken sie verräterisch. Schließlich gibt sie auf und beginnt zu lachen.
"Machst du dir etwa Sorgen um mich?"
"Ja, natürlich!"
"Musst du aber nicht - ich bin genauso erwachsen wie du. Du erinnerst dich, wir haben in der Schule nebeneinander gesessen - gleiche Klasse, gleiches Alter und so?"
"Ach! Das ist aber interessant...", platzt Attila neugierig dazwischen.
"Du hältst dich da raus!"
Anja und Matz antworten synchron, als ob sie es geübt und verabredet hätten. Sie lassen Attila gar keine Zeit, seiner Neugier weiter Ausdruck zu verleihen. Zu dessen großer Verwunderung sehen sich beide an und beginnen wiederum zeitgleich laut und schallend zu lachen. Sie benötigen einige Minuten, bis sie zur Ruhe kommen. Attila sitzt ihnen irritiert gegenüber und blickt abwechselnd nach links und rechts auf die beiden Lachenden.
"Genau wie früher, wenn Dennis von der Bank hinter uns sich einmischen wollte."
"Ja, der hatte nichts zu lachen."
"Na gut, ich kann dich so und so nicht aufhalten. Morgen um zehn sortieren wir gemeinsam die Aufträge. Trotzdem, die Technik ist sehr oft nicht ungefährlich..."
"Ach was: Technik ist gar nicht gefährlich - es sind die Menschen, die sie einsetzen. Sie entscheiden über Nutzen oder Schaden. Und außerdem wird das ein großes Abenteuer!"
"Ich liebe Abenteuer!", meldet sich Attila in das Gespräch zurück. Er ist sich jetzt sicher, dass beide nicht über ihn gelacht haben.
"Ich möchte diese Gefahren lieber beseitigen und solche Abenteuer vermeiden...", spricht Matz nahezu unhörbar.
"Na dann ist ja alles klar!", freut sich Anja: "Wir benötigen noch einen Namen für unsere Unternehmung. Was haltet ihr von 'Magic Machine Busters'?"
Attila springt wie elektrisiert auf. Er sieht immer noch müde aus, ist unrasiert und das Haar hängt ihm wirr über die Stirn und vor die geröteten Augen. Die Aussicht auf Abenteuer und aufregende Erlebnisse treibt jedoch noch einen letzten Adrenalinstoß durch seine Adern.
"Wow! Klingt gut. In die Partei trete ich sofort ein."
Matz schlägt beide Hände vor das Gesicht und sagt nichts. Was soll er auch sagen. Es ist besser gelaufen, als er es sich wünschen konnte. Jetzt hat er nicht nur einen Mitstreiter bei der Bewältigung seiner täglichen Arbeit, sondern gleich zwei. Die Auftragsbox ist schon längst kein 'toter Briefkasten' mehr. Über die Feiertage haben sich in ihr mehr als dreißig ernst gemeinte Anfragen angesammelt. An Aufträgen und Geld wird es also in den nächsten Wochen nicht mangeln. Das Wichtigste ist jedoch: Anja bleibt in seiner Nähe und sie sehen sich täglich.
"Ihr habt in diesem Augenblick beschlossen, auf die Liste der 'unbekannten Gesuchten' gesetzt zu werden. Alle Machtjunkies dieser Welt werden ab sofort auch euch und euer Wissen verfolgen. Lasst uns das mit dem Selbstgebrannten vom Nachbarhof feiern!"
Matz steht auf und holt die unetikettierte Flasche aus dem Gefrierfach des Kühlschranks. Sie hat einen dicken, weißen Panzer aus Eis, der in der warmen Küche beginnt, dampfend zu tauen. Ölig läuft die klare Flüssigkeit in die Gläser, die Attila auf den Tisch stellt. Als diese mit leisem Klicken aneinanderstoßen, muss Attila einen Spruch ausbringen. Für Politiker, auch ehemalige, ist das zwanghaft.
"Einer für alle - alle für die Menschheit!"
Anja verschluckt sich kichernd und schüttelt dabei einen Teil des Selbstgebrannten aus ihrem Glas.
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Die Müdigkeit hat Attila wieder eingeholt. Das wenige Adrenalin hat ihm nur einen kurzen Aufschub gewährt. Er gähnt, geht zur Tür und dreht sich kurz davor noch einmal in den Raum um.
"Ihr könnt jetzt machen, was ihr wollt - ich gehe schlafen."
Wenige Sekunden später fällt die Tür ins Schloss und Attila schlurft müde über den Flur. Matz hat nur auf diese Gelegenheit gewartet. Er ergreift die Initiative und revanchiert sich für den Abschiedskuss, den Anja ihm am heutigen Morgen gab.
"Ich bleibe hier, damit ich die Lagebesprechung um zehn nicht verpasse", flüstert Anja ihm ins Ohr.