Attila wundert

Der Zauber steckt immer im Detail.

Theodor Fontane

... zwei Wochen zuvor.

****

Das Navigationsgerät gibt ein hässliches, quäkendes Geräusch von sich. Es übertönt nur schwach das tiefe und laute Brummen des alten Motors. Dieser Unton ist von den Entwicklern der Software absichtlich gewählt worden, damit er auch in lauten Umgebungen gehört wird. Das Geräusch bohrt sich schnell und unerbittlich durch Matz's Hirn und fordert ihn auf, seinen Blick auf das Display zu richten und sich auf die Aufnahme einer Nachricht einzustellen. Unwillkürlich kommt er dieser Aufforderung nach. Es liegt ein gewisser Zwang in dem schrecklichen Ton, dem sich niemand entziehen kann. Die Nachricht des kleinen Gerätes überrascht ihn nicht. Matz hat mit der Ankunft am Zielort gerechnet und das Navigationsgerät bestätigt ihn. Auf seinem Display schwenkt es eine kleine, schwarz-weiß gefleckte Fahne. Er wendet den Blick zu seiner Armbanduhr und stellt zufrieden fest, dass er drei Minuten vor der vereinbarten Zeit bei seinem Kunden eingetroffen ist. Die Zufriedenheit währt jedoch nur einen kurzen Augenblick, denn gleichzeitig irritiert ihn der Blick zur Uhr: Warum hat er jetzt nicht die Zeit vom Display des elektronischen Pfadfinders abgelesen? Dort wird die Zeit, direkt unter dem noch immer winkenden Fähnchen, in großen, deutlichen Ziffern angezeigt. Es gab keinen Grund für diese sinnlose Routinehandlung. Beständig ist er versucht, alle unnötigen Handlungen aus seinem täglichen Leben zu verbannen und ein Maximum an Effektivität zu organisieren. Bevor er sich jetzt über die Ineffektivität von Routinen ärgern kann, setzt er einen Denkinterrupt und parkt den Drohnenfänger am Straßenrand.

Der Motor des alten Transporters kommt blubbernd und hustend zum Stillstand und die heißen Zylinder verursachen eine letzte, knallende Fehlzündung. Anschließend kehrt Ruhe ein, im Inneren des Wagens. Nur die Anzeigen einiger Messgeräte im hinteren Teil blinken. Eines davon ist kurz vor Erreichen der Parkposition in Hektik verfallen. Rhythmisch zuckt ein Lichtband von links nach rechts über die gesamte Vorderseite des kleinen Metallkastens. Jedes Mal, wenn das Licht gegen die rechte Außenseite schlägt, ertönt ein leises Summen. Matz hört es, wendet sich um und beobachtet zufrieden die Anzeige des Gerätes. Er fühlt einen positiven Stimmungsschwung, der ihn durchströmt. Auf der Suche nach den Ursachen des esoterischen Spukproblems seines Kunden offenbart sich ihm ein erster Anhaltspunkt.

In dem Augenblick, in dem Matz die Fahrertür öffnet, tritt ein Mann aus dem Haus neben dem Halteplatz. Das geschieht praktisch synchron, beide Türen öffnen sich gleichzeitig. Matz vermutet, dass der Mann bereits hinter der schweren, dunklen Eichentür gewartet und ihn durch das kleine Fenster, das in das Holz eingelassen ist, beobachtet hat. Er scheint der Kunde zu sein, mit dem Matz den Hausbesuch vereinbart hat. Hektisch kommt er auf den Wagen zu.

"... Herr elemec ...?", es ist mehr das vorsichtige, akustische Abtasten der Situation als eine Begrüßung.

Die Augenbrauen des Mannes bilden ein Dach über der Nasenwurzel und sein Mund bleibt offen, in Erwartung einer Antwort und der Äußerung einer wirklichen Begrüßung. Matz geht auf ihn zu und reicht ihm die Hand, die der Fragende zögerlich ergreift.

"Guten Tag, ich bin Matias Lehmkes", bestätigt Matz und erklärend fügt er hinzu: "Ich denke, wir haben eine Verabredung. Ach ja, mein Pseudonym ist 'elemec'."

Sein Kunde ist nicht entwirrter als zuvor und betrachtet zusätzlich irritiert die fleckige Lackierung des Drohnenfängers. Vorsichtig streicht er mit der Hand darüber und fühlt bedächtig den Stößen nach, in denen die Farbkleckse aneinander stoßen. Als Matz die Hecktür öffnet und der Mann die Reihen mit Messgeräten erblickt, die in den Seiten des Laderaumes gestapelt sind, zuckt dieser erschrocken zurück.

"Sie sind wohl auch so ein Magie-Pfuscher?", fragt er vorsichtig im typischen, sächsischen Dialekt des Dresdner Raumes.

"Ach, wissen sie, als Atheist und Naturwissenschaftler glaube ich nicht an so etwas. Ich weiß, was ich gemessen habe. Dazu ist die Technik da."

Der Mann zieht die Augenbrauen hoch und sagt spitz: "Der letzte Magier hat hier bereits die Raumwellen vermessen. Das müssen sie nicht mehr tun. Den Ausdruck seines Messgerätes können sie haben."

"Ist er noch hier?", fragt Matz interessiert.

"Wer, der Spuk? Und ob - mir summen immer noch die Ohren."

"Nein, ich meine den Ma-Gier", Matz betont dabei das 'Gier' im hinteren Teil des Wortes und ergänzt: "Ich würde mir den Idioten gern ansehen. Soviel Dummheit bekommt man selten zu sehen."

"Na sie sind mir einer. Wie reden sie denn über unbekannte Kollegen?"

In der Stimme des Mannes schwingt deutlich Entrüstung mit und er stemmt die Hände in die Hüften.

"Das ist kein Kollege, sondern ein Scharlatan", antwortet Matz erfreut.

Er hat das Schallmessgerät und den umgebauten Fledermausdetektor auf der mittleren Ablage des rechten Seitenregals gefunden und legt diese zu den übrigen Geräten, die sich bereits in einer Umhängetasche befinden.

"So, jetzt können wir die 'Geister' aufspüren."

"Die kleinen Kästchen sollen das Wunder vollbringen?"

"Nein, kein Wunder - einfach Schulphysik, nichts weiter. Ich zeige es ihnen. Hier, das Gerät, dass hier befestigt ist, misst elektromagnetische Wellen in einem sehr unüblichen Frequenzband - das ist alles Mögliche, jedoch in keinem Falle legal", erklärt Matz und zeigt auf das zuckende Lichtband an dem Messgerät, das zusätzlich rhythmisch summt. "... irgend etwas in ihrem Haus sendet illegale Funksignale. Können wir beginnen?", setzt er hinzu.

"Pünktlich waren sie ja - auf die Minute, wie es sich gehört. Das gefällt mir schon einmal. Vielleicht können sie ja wirklich etwas", dabei zieht der Mann die Achseln kurz nach oben, wendet sich um und geht auf die Eingangstür des Hauses zu: "Kommen sie, wir können gleich im Flur anfangen. Dort haben mich die Geister heute schon angeheult und gequält."

Krachend fällt die schwere Tür hinter ihnen in das Schloss. Ein um fast zwei Sekunden verzögertes, schmatzendes 'Klickkk' deutet das automatische Einrasten des Schlosses an. Im Flur ist es dunkel und kalt, wie in einer Gruft. Der Eigentümer möchte die Geister offensichtlich nicht auch noch erwärmen und erleuchten. Vielleicht hofft er ja, dass sie sich vor Kälte zitternd im Dunkeln die Beine brechen und verenden oder einfach nur die ungastliche Herberge verlassen. Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt, Geister führen jedoch ein ganz eigenes Leben - ausschließlich in den Köpfen der Gläubigen.

"Ja, Licht wäre schon ganz gut."

"Ach so ja. Entschuldigung ..."

Nach dem Knallen des alten Lichtschalters aus den dreißiger Jahren, der hörbar erfolgreich den Stromkreis schließt, wird der lange, schmale Raum mit Licht überflutet. Der Mann versucht sich zu entschuldigen.

"... seit dem das angefangen hat, versuche ich die befallenen Räume einfach nur noch schnell zu durchqueren. Da nehme ich mir nicht mehr die Zeit, um das Licht einzuschalten" und etwas leidig-bittend: "Entschuldigen sie bitte den Staub - ich mag hier auch nicht mehr zu reinigen."

Matz betrachtet entsetzt den Flur, der bereits erste Zeichen einer Verwahrlosung zeigt. In dem Staub, der sich in den Ecken sammelt, liegen Reste von Verpackungspapier. Sogar zwei leere Joghurtbecher gehören inzwischen zum Mobiliar des Hauseingangsbereiches. An der rechten Wand, zwischen zwei Türen, steht ein Schuhregal. Alle Böden und Plätze sind belegt. Die Oberflächen der Schuhe sehen verdächtig stumpf aus. Beim näheren Betrachten ist die dicke Staubschicht zu erkennen, die sie inzwischen bedeckt. Auch der leidgeprüfte Bewohner bemerkt dies, schlägt sich mit beiden Händen auf die Brust und blickt entsetzt.

"Oh mein Gott! Ich wusste gar nicht, wie lange ich diesen Raum schon nicht mehr gesäubert habe. Ich hole schnell eine Bes..."

Weiter kommt er nicht mehr. Ein leises Summen ertönt, geht langsam in ein nervendes Pfeifen und anschließend in ein jaulendes Quietschen über. Das Heulen ändert Ton und Lautstärke unablässig. Es gräbt sich direkt durch die Gehörgänge in die Gehirne der Anwesenden. Beide schlagen unwillkürlich die Hände vor die Ohren, um den akustischen Unrat nicht mehr eindringen zu lassen. 'Zum Glück habe ich die Messgeräte in eine Umhängetasche gelegt, ich hätte sie jetzt fallen gelassen', denkt Matz. Die Schallquelle scheint sich ununterbrochen durch den Raum zu bewegen - nur ist nichts zu sehen. Selbst wenn Matz auf Grundlage von Gefühl und Erfahrungen die Position des Tonerzeugers eindeutig zu bestimmen glaubt, ist dort nichts zu erkennen. Einmal fühlt er sogar, wie die Quelle durch ihn selbst hindurch wandert. Seine Lunge vibriert leicht dabei, er glaubt eine wärmende Berührung zu fühlen und versucht instinktiv dem unsichtbaren Heulgeist auszuweichen.

"Sehen sie, sehen sie, sie spüren den Geist auch und können nichts machen", stößt der Bewohner weinerlich, deprimiert aus.

Matz fängt sich wieder und beginnt seine Tasche auszupacken.

"Unfug!", sagt er fest, während er die Geräte übereinander auf den Boden stellt. "Aus ihrem Haus sendet etwas auf verbotenen Frequenzen. Ich gehe davon aus, dass sie selbst nichts Illegales veranstalten. Als Schlussfolgerung bleibt nur, sie haben einen Gast."

Der Mann glaubt sich bestätigt: "Na das sage ich doch! Das Haus ist von Geistern befallen!"

"Nein, ich meine nur ein Stück Technik - nichts weiter."

Während dieser Erklärung schaltet er ein Messgerät nach dem anderen ein. Die meisten der Geräte signalisieren visuell keine besondere Aktivität. Nur das dritte von unten scheint in heller Aufregung zu sein. Eine blaue Leuchtdiode pulsiert nervös und der Zeiger einer runden Anzeige wechselt beständig zwischen zwei Positionen am rechten Rand der Skale hin und her.

"Uppps, was ist denn das?", staunt Matz.

"Ist es schlimm? Spricht der Geist mit ihnen?"

"Ach was! Ich bin nur erstaunt, dass der Fledermausdetektor sich meldet."

"Das sollen Flugmäuse sein?", die Frage klingt ungläubig, der Nachsatz kommt jedoch gepresst und verängstigt heraus: "Bestimmt sind das Vampirfledermäuse aus Transsilvanien."

Das letzte Wort ist nur noch schwach gehaucht. Matz beginnt abrupt zu lachen holt ein Notizbuch aus der Jackentasche und schreibt die Werte, die das Messgerät anzeigt, in das kleine Heft.

"Hmm, gibt es hier in der Nähe einen alten Friedhof?"

Mit einem Ruck weiten sich die Augen des Mannes. Er zieht die Lider so weit auseinander, dass Matz fürchtet, sie könnten die Augäpfel nicht mehr halten und würden diese aus ihren Höhlen fallen lassen. Die aufgerissenen Augen starren ihn an und ihr Besitzer gleitet langsam an der Wand zu Boden. Dort bleibt er bewegungslos sitzen, scheint nicht einmal mehr zu atmen, blickt hohl auf den Technikjäger und auf der Stirn bilden sich über seinen Augen große, runde Schweißtropfen. In ihnen spiegelt sich kalt das grelle Deckenlicht des Raumes. Nun ist auch Matz erschrocken. Mit einer so heftigen Reaktion auf seinen seichten Scherz hat er nicht gerechnet. Die innere Verunsicherung des Mannes muss bereits gewaltig sein.

"Entschuldigen sie, das war nur ein Scherz! Beruhigen sie sich doch", bittet er. "Hier im Raum gibt es natürlich keine Fledermäuse. Das Messgerät misst nicht hörbaren Ultraschall. Diesen verwenden im Freien zum Beispiel Fledermäuse, um sich zu orientieren. Das ist so eine Art natürliches Echolot. Deshalb nenne ich das Gerät scherzhaft so. Ich wollte sie wirklich nicht erschrecken."

Zischend lässt der Mann die Luft aus seiner Lunge entweichen. Dieses befreiende Geräusch ist deutlich zu vernehmen, selbst das Heulen und Jaulen der Geister kann es nicht übertönen.

"Irgendwo in diesem Raum gibt es mehrere, starke Ultraschallquellen. Ich habe mir die Frequenzen notiert. Jetzt hole ich ein anderes Gerät aus dem Drohnenfänger und mit diesem peile ich die Quellen an", beruhigt Matz weiter.

Fledermäuse, Drohnen, Detektoren, Peilgeräte, ... das ist zu viel für den langzeitgequälten Hausbewohner. Er sitzt immer noch zusammengesunken an der Wand, rollt leicht wirr mit den Augäpfeln und versucht seine zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen. Da die Pupillen in seinen Augen noch sichtbar sind, ist Matz überzeugt, dass er den Mann für einige Sekunden allein lassen kann. Vorsichtshalber lässt er die Eingangstür des Hauses offen, während er das Peilgerät holt. Zurück im Flur des Hauses geht dann alles recht schnell. Er stellt die Frequenz ein, peilt die Richtung der Ultraschallquelle an und bewegt sich langsam darauf zu. Natürlich führt ihn sein Weg in eine der schmutzigen Ecken. Er hat das nicht anders erwartet. Auf den ersten Blick ist dort nichts zu erkennen, das den starken Ultraschall aussenden könnte: Staub, Packpapier und ein leerer Joghurtbecher. Er bückt sich, schiebt das klebrige Stück Plastik vorsichtig zur Seite und erkennt direkt dahinter einen großen, rechteckigen Käfer. Er sitzt bewegungslos auf der Wand. Ein Käfer sendet diese Töne aus? Matz nähert sich dem Tier ungläubig und interessiert bis auf wenige Zentimeter.

"Ach so - das ist es. Wäre ja auch seltsam, hätte ich etwas anderes gefunden!", ruft er zufrieden aus.

Das holt den Eigentümer in die Wirklichkeit zurück. Mit einem kräftigen Ruck strafft er seinen Rücken und richtet sich auf. Innerhalb von wenigen Sekunden hockt er hinter Matz in der Ecke und betrachtet die Wand.

"Ein Käfer? Dieses kleine Ungeziefer soll die Ursache sein? Glaube ich nicht..."

"Nicht so schnell, ich zeige es ihnen. Und eines allein reicht dafür nicht aus. Es sind einige, die wir alle noch finden müssen."

Matz holt ein kleines Taschenmesser hervor und klappt es auf. Vorsichtig löst er mit der Klinge das technische Insekt von der Wand. Auf der Unterseite ist ein transparenter Klebepunkt zu erkennen. Es war fest auf die Tapete geklebt gewesen. Die sechs kleinen Beinchen aus blanken Draht ragen in regelmäßigen Abständen aus dem Körper des künstlichen Tieres, der aus einer Leiterplatte gefertigt ist. Auf deren Ober- und Unterseite sind viele winzige Bauteile zu erkennen.

"Na so was ... wer klebt mir denn solche Dinger in's Haus?"

"Da möchte sie jemand überwachen, vielleicht auch nur ärgern. Ich vermute jedoch, die Tortur mit den Heultönen geht auf einen Konstruktionsfehler zurück."

Matz legt den Elektronikkäfer in ein Metallkästchen, verschließt es und richtet sich auf. Sein Gesicht spiegelt den Ausdruck der Zufriedenheit wider, den er immer verspürt, wenn er eine schwierige Arbeit erfolgreich beendet hat. Er lebt für dieses Gefühl, diesen Augenblick.

"So, jetzt kann das Vieh nicht mehr nach außen kommunizieren."

Er kann mehr als zufrieden sein. Nicht einmal dreißig Minuten hat er für die Lösung des Problems benötigt. Jetzt müssen nur noch die restlichen Wanzen eingesammelt werden und dann kann er wieder nach Hause fahren. Sein Kunde dagegen kommt noch nicht über die Tatsache hinweg, dass er durch einen Konstruktionsfehler gequält wurde.

"Ist also ein Billigpfusch, der uns hier in den Wahnsinn treibt? Bestimmt aus China!"

"Pfusch und China kann sein - billig ist das trotzdem nicht. Ihr 'Freund' hat einige hundert Euro und mehrere Wochen Arbeit investiert."

Eine Pause entsteht, in der Matz spüren kann, wie es in seinem Gegenüber arbeitet. Offensichtlich ahnt dieser, dass die gesamte Angelegenheit kein harmloser Scherz ist und etwas Bedeutendes dahinter steckt. Wahrscheinlich irritiert es ihn, dass er in diesem Augenblick keine Ahnung vom Ziel der Aktion und dem Verursacher hat. Matz spürt, dass er seinen Kunden aus der Grübelei reißen muss, damit dieser keinen Unfug anstellt. Eine physische Beschäftigung ist immer gut und lenkt ab.

"So, dann entwanzen wir 'mal ihr Haus."

Während beide von Raum zu Raum wandern und die nervende Technik einsammeln, erklärt Matz seinem Kunden, wie die kleinen, technischen Wunderwerke funktionieren. Die elektronisch-mechanischen Käfer haben das Haus befallen. Dafür sind sie von außen hinein gekrabbelt oder durch einen Gast mitgebracht worden. Innerhalb des Hauses haben sie sich verteilt und in dunklen Ecken versteckt. Die kleinen Drahtbeine werden durch Muskeln aus Nitinol-Draht bewegt. Dieses Nitinol ist eine Nickel-Titan-Legierung und der bekannteste Vertreter der Formgedächtnislegierungen. Durch Wärme kann dieser Draht immer wieder in seine Ausgangsform gebracht werden und fließt Strom durch ihn, erwärmt er sich. Die Bewegung der Technikkäfer ist extrem langsam. Im befallenen Haus hatten sie Zeit - viel Zeit. Es kann durchaus mehrere Wochen gedauert haben, bis sie sich verteilt hatten. Nach Erreichen seiner Wunsch- oder Zielposition klebt sich das technische Ungeziefer an die Wände. Kleine Röhrchen mit Flüssigklebstoff werden erhitzt und zum Platzen gebracht. Innerhalb weniger Sekunden ist eine Wanze auf diese Weise fixiert und musste keine Energie mehr für Bewegung und Positionssicherung aufbringen. Anschließend beginnen die Eindringlinge miteinander zu kommunizieren. Sie stimmen sich untereinander mit Hilfe von Ultraschalltönen ab. Das ist für Menschen nicht zu hören und erzeugte zusätzlich keinen Elektrosmog, der eventuell andere Geräte im Haus stören kann. So entfällt eine wesentliche Möglichkeit der Enttarnung. Die Interferenzen der Ultraschalltöne können jedoch hörbar sein. Treffen die Wellen des unhörbaren Schalls im Raum aufeinander, entstehen sogenannte Schwebungsfrequenzen und genau diese Töne können wiederum im für Menschen hörbaren Bereich liegen. Sie scheinen 'aus dem Nichts' zu kommen. Es entsteht so etwas wie ein akustisches Hologramm. Genau dieser Effekt, der bereits in der Schulphysik erklärt wird, hat die Hausbewohner nachhaltig und eindrücklich erschreckt und fast in den Wahnsinn getrieben. Ob die Konstrukteure der Spionagetechnik dabei einen Fehler begangen haben, lässt sich nicht sagen. Der heulende Gesang kann auch ein gewünschter Nebeneffekt sein. Am Ende ist es nur der Erbauer selbst, der die Antwort kennt.

"So, fertig. Sie sind jetzt wieder geistlos - ähh - ich meine: frei von Geistern."

"Das war ja einfach. Eigentlich hätte ich das auch allein gekonnt."

"Mit etwas, von dem sie nichts wissen, rechnen sie nicht. Und nach etwas, mit dem sie nicht rechnen, suchen sie auch nicht. So konnten sie gar nichts finden", versucht Matz die Situation zu erklären und seinen Kunden zu trösten.

"Damit haben sie wohl Recht", gibt dieser zu.

"In dem Fall, dass ich den Absender des Ungeziefers identifizieren kann, möchten sie da Namen und Adresse bekommen?", fragt Matz vorsichtig.

Er ist von den Hausbewohnern nur beauftragt worden, die Quelle der quälenden Töne zu entfernen. Eine Analyse der Spionagetechnik wird er natürlich ausführen, schon um diese Produkte zu klassifizieren und zu katalogisieren. Ordnung muss schließlich sein und eventuell kann er mit Hilfe dieser Daten zukünftig noch schneller arbeiten.

"Ja, natürlich! Den kaufe ich mir!", ist die prompte Antwort.

Er sieht seinen Kunden aufmerksam und nachdenklich an.

"Im Fall der Fälle sollten sie sich das dann noch einmal gut überlegen. Das Ungeziefer kann auch von einem der vielen Dienste ausgesandt worden sein. Egal ob staatlich, privat oder kriminell - das macht bezüglich des Ärgers keinen Unterschied."

"Ich dachte, das hätten wir neunundachtzig hinter uns gelassen."

"Da hat das gerade erst begonnen", Matz begleitet seine Antwort durch ein deprimiert und schief wirkendes Lächeln.

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Zwei Wochen später liegen die Artefakte in geschlossenen Metallkisten, können nicht mehr mit der Außenwelt kommunizieren und warten darauf, dass sie von Matz seziert werden. 'Tot' ist das elektronische Ungeziefer nicht. Die kleinen Technikkäfer krabbeln in der Kiste hin und her und suchten unermüdlich nach dem nicht vorhandenen Ausgang. Attila kann es nicht glauben und legt immer wieder ein Ohr an den metallenen Behälter. Er ist erstaunt, wie lange diese Geräte mit Energie versorgt werden. Matz stellt die Kiste bei seiner Ankunft auf den Küchentisch. Der dünne Stahl setzte hart auf den schweren Eichbohlen der Platte des alten Tisches auf. Ein hohles, dumpfes Klacken ertönt, ein Geräusch, das nicht ganz zu der Camouflage-Lackierung der Kiste passen will. Anschließend ist das leise Kratzen und Rascheln aus dem Inneren zu hören. Matz berichtete Attila stolz von seinem schnellen Erfolg und die Erzählung wird aus dem Inneren des Behälters von dem leisen, konstanten und gespenstischen Kratzen der Nitinol-Beinchen begleitet. Der 'elemec' wird die Technikkäfer bis ins letzte Detail ergründen, beschreiben und in seinem Katalog - der 'Technischen Bestiade' - veröffentlichen. Wenn er etwas Glück hat, kann er den Hersteller identifizieren. Vielleicht gelingt es seinem Netzwerk im 'cyber-hysteria-underground' sogar, den Verursacher zu finden, der das Ungeziefer in Umlauf gebracht und den ahnungslosen Bewohnern eines Hauses in einem Dresdner Vorort auf den Hals gehetzt hat.

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Nach der Aufregung der letzten Tage ist Ruhe auf dem Spreewaldhof eingezogen. Alle Aufträge dieses Jahres sind abgearbeitet und der nächste wartet erst Mitte Januar auf Matz. Heute beginnt das Weihnachtsfest und die Erholungsphase. Die polternden und rollenden Geräusche im Haus bewegen sich wieder langsam auf Matz zu. Seine Hoffnung auf Tee und ein Stück Kuchen steigt. Offensichtlich steht die Ankunft Attilas im Raum kurz bevor.

W26C2P4
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10. Dezember 2013 10:57 Uhr
Ort: Spukhaus Dresden Wilschdorf
Personen: Matz 'elemec'
Objekte, Materialien: Drohnenfänger
24. Dezember 2013 15:46 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Matz 'elemec', Attila
Inhaltsverzeichnis