Achtung! Gemüse in Warnfarbe
All das Grünzeug - egal mit welcher Farbe es sich tarnt - wehrt sich aktiv gegen seine Abschlachtung im Scheinauftrag der gesunden Menschheitsernährung. Die Gemüseapokalypse wird kommen und sie wird schrecklich und erbarmungslos sein.
Jonathan Wurzeldreh - Gemüsemessias
"Schade, nun ist es hin!"
Matz steht am Fenster und blickt auf den Torweg, der zur Außengrenze des Hofes führt. Über eine freie Fläche neben diesem Weg verläuft eine breite Fahrspur, die gestern noch nicht dort war. Auf der weiß bereiften Erde sind die Abdrücke von Autoreifen deutlich zu erkennen. Sie haben sich tief in den weichen Boden gegraben und stehen als schwarze Rillen in einem herben, unangenehmen Kontrast zu den weißen Eiskristallen. In einem weiten Halbkreis ist der Drohnenfänger über die Fläche gerollt. Seine Wendespur hat sie in einem großen, nicht tolerierbarem Maße zerwühlt.
"WO ist WAS hin?"
Attila sieht irritiert von seiner Beschäftigung auf. Er treibt eine kleine Erdbohrerdrohne in einen Blumentopf mit Basilikum. Das Gerät steuert er mithilfe eines Smartphones - natürlich nicht sein eigenes, vom Telefonieren möchte er augenblicklich nichts wissen. Die schnelle Bewegung des winzigen Bohrers, auf seinem Weg durch den engen Topf, nimmt seine gesamte Aufmerksamkeit gefangen. Die laut und mit einem deprimierten Unterton geäußerte Feststellung von Matz stört und unterbricht ihn bei seiner Beschäftigung mit dem Kräutertopf. Bereits in dem Augenblick, als er aufsieht, um Matz Ausspruch hinterherzuhören, schabt die Erdbohrerdrohne mit einem quietschenden Schnarren an der Innenwand des Tontopfes.
"Na mein Mohrrübenbeet ist hin! Es ist komplett zerstört", antwortet Matz traurig.
"Mist!"
"Ja, das meine ich auch."
"Nee, ich meine die Bohrdrohne, die ist an den Topf gestoßen."
Attila legt das Smartphone etwas enttäuscht zur Seite und lässt die winzige Drohne wieder autonom arbeiten. Das kann sie scheinbar am besten. Von sich aus stößt sie nie an den Rand des Blumentopfes, fräst keine Wurzeln der Küchenkräuter ab und lockert einfach nur kontinuierlich die Blumenerde im Topf auf. Das kleine Gerät beherrscht das selbst besser, als er das als Mensch je könnte. Das ist schon etwas deprimierend. Attila kommt sich überflüssig vor. So lenkt er sich ab und überlegt kurz, was Matz ihn fragte. Er lässt die Gesprächsteile der letzten Minuten in seinem Kopf noch einmal Revue passieren. Nein, Matz fragte nicht, er stellte nur fest, dass das Mohrrübenbeet zerstört ist.
"Matz! Du hast doch nicht etwa im Herbst Möhren ausgesät? Im Frost und ohne Licht wächst da nichts."
"Nein, aber das Beet ist schon vorbereitet - gewesen."
"Vorbereitet?"
"Umgegraben - umgegraben habe ich es. Der Boden war aufgelockert und schön luftig. Er konnte so schön die klare Luft atmen - so schön. Und nun ist er streifenkomprimiert!"
Matz sieht immer noch traurig auf die Wendespuren neben dem Torweg. Im schwachen Licht der Hofbeleuchtung zeichnen sie sich deutlich auf der weißen Freifläche ab. Die Eiskristalle des Reifs, die den Boden gleichmäßig eindecken, reflektieren das wenige Licht - natürlich nur dort, wo die Reifen des Transporters nicht den lockeren Boden verfestigt und eingedrückt haben. Das Gesamtbild macht keinen ordentlichen Eindruck mehr. Es sieht eher nach Chaos und unkontrolliertem Handeln aus. Genau das ist es, was Matz am meisten stört. Wenn alles seine Ordnung hat, sich genau an seinem vorbestimmten Platz befindet und kein Detail das Gesamtbild stört, dann ist die Welt schön und ansehenswert. Nun ist ausgerechnet auf dem Platz zwischen den Gebäuden des Hofes diese Ordnung gestört. Das ist eine Situation, aus der er sich nur retten kann, indem er sich in neue Arbeit flüchtet. Zu seinem Glück ist er in einigen Stunden mit einem neuen Kunden verabredet. Wenn der Reif getaut ist, dann sieht die Situation bestimmt schon besser aus.
"Möhren? Sagtest du Möhren? Igitt - die sind doch giftig!", meldet sich Attila von seinem Stuhl am Küchentisch, nachdem er verstanden hat, was Matz ihm erzählen möchte.
"Wie kommst du denn darauf?"
"Na, die haben doch schon von Natur aus eine orange Warnfarbe."
"Hast du 'Shoot'em up' gesehen?", fragt Matz, ohne direkt auf Attilas Erklärung einzugehen.
"Ein Film? Spielen in dem Mohrrüben eine Rolle?"
"Ja und ja und was für eine! Der Held überlebt nur dank der Kraft der Karotten. Dieser Film ist die beste Dokumentation für die Bedeutung dieses Gemüses. Außerdem zeigt er, dass die Karotten sehr vielseitig einsetzbar sind und extrem gefährlich sein können - als Waffe. So ein spitzes Gemüse kann tödlicher als ein Messer sein. Ist ein ordentlicher Splatter-Film, so richtiger Kult."
"Ja, das sage ich doch: Die sind gefährlich! Gefährlich und sinnlos, wie die 'Science Busters' gezeigt haben. Möhren sind so gehalt- und sinnvoll wie orange bemalte Holzscheite."
Matz sieht Attila erstaunt an. Natürlich kennt er die 'Science Busters'. Er hat bereits einige Shows mit ihnen gesehen. Einfach großartig, wie sie Mythen, Aberglaube und Hokuspokus wissenschaftlich entzaubern. Lebensmittel und das Thema Kochen sind oft Teil der Vorführung. Über Mohrrüben hat er sie jedoch noch nie sprechen gehört.
"Dann lassen wir heute Abend stellvertretend die 'Science Busters' und 'Shoot'em Up' über die Nützlichkeit dieses Gemüses diskutieren und du verpflichtest dich, das Beet wieder in Ordnung zu bringen."
Da dieser Vorschlag verspricht, den Tag mit einem interessanten Abend ausklingen zu lassen, lässt Attila sich nicht lange bitten. Schließlich hat er die Verwüstung angestellt, also muss er dies auch wieder in Ordnung bringen. Bis man das Beet wieder umgraben kann, werden außerdem noch viele Tage vergehen.
"Na gut, im Frühjahr buddle ich das Beet noch einmal um und säe die roten Dinger. Ernten musst du sie aber selbst und essen werde ich keine. Willst DU dieses gefährliche Gemüse denn wirklich essen?"
"Nee, natürlich nicht!", antwortet Matz zu Attilas Erstaunen.
Warum dann dieser Aufwand? Attila versteht nicht, was sein Gastgeber mit einer großen Menge an Gemüse, das er gar nicht isst, anfangen möchte. Zum Verkaufen auf einem Markt ist es dann doch zu wenig. Die Katze ist das einzige Tier im Haus und die frisst definitiv keine Karotten. Tierhaltung kann also auch nicht der Grund sein. Ein Gemüsebeet vor dem Haus bietet nicht den gleichen Anblick wie ein Blumenbeet. Matz hat also gar keine Verwendung für das rote Gemüse. Blumen oder auch Rasen würden viel besser auf die Freifläche zwischen den Gebäuden passen.
"Ja aber, wozu soll denn das alles dann gut sein? Ich säe doch lieber Blumen."
"Die Mohrrüben sind für den Möhrenwein - der schmeckt ganz passabel. Und weil das so wichtig ist und ich ihn mag, bringst du das Beet im Frühjahr wieder in Ordnung."
Das ist wiederum ein Argument, welches Attila einleuchtet. Wein trinkt auch er gern und ab und zu ist auch ein Fruchtwein dabei. Gemüsewein kennt er noch nicht.
"Hast du noch 'ne Flasche davon? Würde ich gern einmal probieren."
"Na dann gibt's heute Abend zu 'Shoot'em up' ein passendes Getränk und die Herrn Oberhumer und Gruber von den 'Science Busters' wird es auch nicht stören."