Attila sammelt

Leere Wagen klappern am meisten.

Sprichwort

Wieder einmal wird es dunkel im Spreewald. Die Sonne hat sich längst hinter hellgrauen Wolken versteckt, die wie ein feiner Schleier das Blau des Himmels überziehen. In wenigen Minuten wird sie gemeinsam mit diesen die Horizontlinie überqueren. Dort, wo dieser Grenzübertritt bevorsteht, ist der Wolkenbaldachin tief rot gefärbt. Schon den gesamten Tag über ist es viel zu warm. Fast zehn Grad über Null sind für Ende Dezember etwas ungewöhnlich. Die warme Luft und einige, wenige Sonnenstunden haben viel Wasser aus den Wiesen gesogen. Natürlich sind sie immer noch gut durchnässt, teilweise richtig matschig. Trocken werden sie erst wieder im späten Frühjahr. Bis dahin sind sie nur bei starkem Frost begehbar. Jetzt, da sich zum Abend hin die Luft wieder abkühlt, legen sich Dunstschleier auf die Kanäle und Wiesen. Der mystische Spätnachmittag beginnt. Erfahrene Spreewälder wissen: Wenn der Nachmittag im Dunst versinkt, zieht der Abend sich den Nebel über. Seit Jahrhunderten sind die Einwohner hier christianisiert. Auch wenn der Wechsel von Religion, Macht und Besitz in slawischen Siedlungsgebieten nicht immer friedlich vonstatten ging, liegt das tief unter den Geschehnissen der Vergangenheit begraben. Das viele Wasser, das inzwischen durch die Spree geflossen ist, hat längst die Auseinandersetzungen und Probleme der Vergangenheit hinweg gespült. Allein einige Mythen aus der vorchristlichen Zeit halten sich hartnäckig. Weder Mönche, Pfarrer noch Parteisekretäre konnten die Sagen und in ihnen wohnende Wesen, von den Wiesen und aus den Bruchwäldern vertreiben. Wahrscheinlich wegen dieser unheimlichen Gestalten sind alle Christenmenschen am Heiligen Abend im eigenen Hause. Spätestens nach der Messe wird es ruhig im Spreewald und seit vielen Jahren lassen die meisten Einwohner den Pfarrer bei der Messe allein. Deren Inhalt hat sich in Jahrhunderten nicht verändert und die Menschen haben den Bezug zu den Religionen verloren - nicht so zu den Mythen. Sogar bei den Atheisten halten sich diese.

Auch auf Matz-'elemec's Hof sind am Nachmittag die Bewohner anwesend. Zwei Menschen leben hier nebeneinander und bereiten sich auf die Feiertage zum Jahreswechsel vor. Sie haben sehr unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen den Ablauf betreffend. Einer von den beiden sitzt in einem Sessel, den er leicht zum Weihnachtsbaum gedreht hat, um diesen besser betrachten zu können. Der Baum ist ein Prachtstück. Auf einem vollständig legalen Weg wäre ein solches Exemplar gar nicht zu bekommen gewesen. Eine kurze Abschätzung zeigt, dass er Idealmaße besitzt. Höhe und Breite stehen exakt im Verhältnis des goldenen Schnittes zueinander. Von welcher Seite man ihn auch betrachtet, er hat keine Lücke im Wuchs. Einzeln stehend, konnte er in seinem kurzen Leben alle Äste gleichmäßig in die mit nahrhaften Abgasen durchsetzte Luft strecken. Ein grober, schwerer Ständer hält ihn sicher aufrecht. Die zusätzlich angeschweißten Streben geben dem Standfuß ein archaisches Aussehen, das perfekt mit seiner Dekoration harmonisiert. Der Baum ist eher abenteuerlich, futuristisch geschmückt, wobei der Behang kaum als Schmuck bezeichnet werden kann. Graue Spiralkabel winden sich durch die Äste wie die Sprossen einer Schlingpflanze und halten ein Netz aus Schaltdraht zusammen. In dessen Maschen haben sich einige Platinen verfangen, die Unmengen an Prozessoren und anderweitigen Controllern tragen. So gut wie jeder Kreuzungspunkt der Schaltdrähte ist mit einem Cluster aus verschiedenfarbigen Leuchtdioden versehen und an einigen Stellen sind Propeller unterschiedlicher Größe zu erkennen. Hinter Büscheln grüner Kiefernadeln scheinen Drohnen versteckt zu sein. Metallisch blitzende Plattformen sind auf die unteren, stärkeren Äste gebunden. Sie tragen seltsame Gebilde aus Schläuchen, kurzen Stücken Kupferrohres und einzelnen Elektronikteilen. Im schwachen Licht des sich verabschiedenden Tages gleicht der Festtagsbaum einem jener Cyberpunkgebilde, die man sonst nur in Fantasyfilmen bewundern kann.

Der im Sessel sitzende Bewohner des Hauses betrachtet den Baum nachdenklich. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, technologisches Gebaumsel dieser Art in einen Weihnachtsbaum zu hängen. Nun, neue Zeiten bringen neue Ideen. Auf jeden Fall hat er, bevor er sich in die Tiefe zwischen den hohen, mit einem groben Stoff bespannten Armlehnen des Sessels fallen ließ, Fotos von dem technischen Kunstwerk geschossen. Vielleicht lässt es sich ja als Ausstellungsstück für die nächste 'Spectrale' melden. Diese Kunstausstellung des Landkreises zeigt immer interessante Installationen und kinetische Festtagskunst passt perfekt in deren Repertoire. Matz muss unabhängig von der erzielten Wirkung anerkennen, dass Attila sich wirklich Mühe gegeben hat. Bevor er ihn tropfnass aus dem Spreekanal unweit seines Hofes gezogen und mitgenommen hat, waren Attila die Innereien von Elektronik und Technik vollkommen fremd gewesen. In nur zwei Monaten hat er sich so viel Wissen angeeignet, dass er nun bereits Steuerboards mit Prozessoren verlöten und programmieren kann. Das beeindruckt Matz gewaltig und er glaubt inzwischen fest daran, dass Attila eine gute und dauerhafte Hilfe in seiner täglichen Arbeit wird. Wie im richtigen Leben benötigt jeder Superheld einen Gehilfen. Nur mitteilen muss er das seinem Gast noch.

Attilas Gedanken sind an diesem Nachmittag mit anderen Ideen beschäftigt. Er möchte seine technologisch-revolutionäre Weihnacht feiern. Nach den schrecklichen Monaten der fortgesetzten Flucht ist er der Meinung, dass er sich viel Spaß und ausgedehntes Feiern verdient hat. Die Aktionen für den Auftakt der Feierwoche hat er gut vorbereitet. Nun rüstet er für den final-initialen Akt. Aufgeregt läuft er durch die verwinkelten Gänge des alten Bauernhauses und sammelt Geräte zusammen. Ein Rollwagen bildet seine Basisstation, die zukünftige Kommandoeinheit. Attila schiebt ihn ratternd über die Dielung. Die kleinen Räder verhaken sich immer wieder in den Unebenheiten der Stöße zwischen den alten, groben Hölzern. Auf dem Rollwagen wackeln bereits mehrere technische Artefakte. Bei jedem Stoß, den die Unebenheiten verursachen, rutschen sie ein kleines Stück weiter an die Ränder der metallenen Ablagen des Wagens. An ihm sind mehrere Kameras befestigt. Lange Kabel verbinden sie mit einem Aufzeichnungsgerät, welches über die mittlere Ablage in der gleichen Art und Weise wandert, wie zwei Funkfernsteuerungen für Modellflugzeuge, ein altertümliches Oszilloskop, ein Laptop, eine Drohne und zwei Wurfanker. Diese beiden schweren Metallhaken hängen an den Seitenrohren des Wagengestells. Haarige Hanfseile sind an sie geknüpft. Sie enden in dicken Rollen auf der unteren Ablage des Rollwagens. An jedem der Wurfanker befinden sich mindestens zehn Meter Seil. Dessen herausgelöste und abstehende Fasern sprechen deutlich von einem hohen Alter und vielen praktischen Nutzungen. Drohnen sind inzwischen zu einem normalen und alltäglichen Begleit-Gadget für Attila geworden. In den Tagen der letzten Woche war er nirgendwo mehr ohne einen dieser fliegenden Begleiter zu sehen. Zuerst freute sich Matz über Attilas offensichtliche Heilung von der Drohnenphobie. Heute ist er sich bezüglich dessen nicht mehr sicher, scheint sich die Angststörung doch in ihr Gegenteil, eine wahre Drohnenfixierung, gewandelt zu haben. Ist das nur Ausdruck einer Überreaktion, einer ganz normalen, temporären Schwingung in das Gegenteil, die auf eine Befreiung von der Phobie folgt? Oder flüchtet sich Attila in diese betonte Übertreibung, um der Angst zu entkommen? Matz ist sich unsicher und wird seinen Gast wohl oder übel noch einige Tage intensiv beobachten müssen. Er mutmaßt, dass er bis zu einer eindeutigeren Diagnose mit seinem Vorschlag an Attila warten muss. Vielleicht ergibt sich ja doch eine Gelegenheit für ein Gespräch über die Zukunft. Die Feiertage haben noch nicht begonnen und die langweilend ruhige Zeit steht ihnen noch bevor.

In der Zwischenzeit verlegt sich Matz auf das Verfolgen des Ratterns und Polterns im Haus. Er stellt sich vor, ein akustisches Radargerät zu sein. In seinem Hirn versucht er, den jeweiligen Raum abzubilden, den Attila in seiner hektischen Geschäftigkeit durchquert. Matz gewinnt immer mehr den Eindruck, dass die Bewegung durch das Haus keinem Plan oder Muster folgt. Zweimal vermeint er in der akustischen Wegmarkierung Ortssprünge zu erkennen. Das Poltern hört an einem Ende des Hauses unvermittelt auf und setzt viele Meter davon entfernt nach weniger als einer Sekunde wieder ein. Es ist, als ob Attila einige Räume laut- und zeitlos durchquert hat. 'Zeitreisen, Raumsprünge? - unmöglich!', denkt Matz und lauscht um so intensiver auf das kleinste Geräusch, das aus den Tiefen des großen, alten Hauses zu ihm dringt. Den ersten Anflug der Versuchung, dem Rätsel nachzugehen, unterdrückt er mit dem Gedanken: 'Heute ist ein Feiertag, auch für mich. Es gibt heute keine technologischen Rätsel zu lösen, keine Cyber-Magie aufzuklären, keine freidrehende Maschine zu fangen.' Er bleibt ruhig in seinem Sessel sitzen, versteckt sich zwischen den hohen Armlehnen und genießt den Blick auf Attilas Festkunstwerk. Irgendwann wird sein Mitbewohner schon in diesem Zimmer eintreffen, dann werden sie gemeinsam einen guten Tee trinken und den Dresdner Stollen anschneiden. Genau in diesem Augenblick verstummte das Poltern des Rollwagens in der linken, oberen Dachkammer.

W26C2P2
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24. Dezember 2013 15:23 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Matz 'elemec', Attila
24. Dezember 2013 15:35 Uhr
Ort: Matz-elemec-Hof
Personen: Matz 'elemec', Attila
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