Das Erwachen des Politikers

Ein Telefonat am Morgen verbirgt nichts, ist jedoch auch nicht harmlos.
Es bereitet vor und verspricht: die Katastrophen des Abends.
Deshalb sollte niemand am Morgen telefonieren.

Jaroslaw Tarossek - aus 'Mathematik für Höhlenforscher'

Die kleinen, metallenen Tasten des öffentlichen Fernsprechers lassen sich nur schwer drücken. Widerwillig und mit einem deutlich hörbaren Knacken, muss Attila sie in den blanken Blechkasten des Telefons drücken. Er überlegt, ob dies an der seltenen Benutzung des Gerätes in Zeiten allgegenwärtiger Handys oder an einem inneren Widerstand des Telefons gegen Rufnummern von Politikern liegt. Noch bevor er sich für die eine oder andere Variante bei der Ursachensuche entscheiden kann, meldet sich ein Freizeichen. Zu spät: Nun nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Als nach zehn Ruftönen immer noch niemand am anderen Ende die Verbindung und das Gespräch aufnimmt, beginnt sich in Attila ein Gefühl der Ruhe auszubreiten. Wenn dieser Anruf nicht zustande kommt, dann wird er die Idee vom Vorabend nicht weiter verfolgen. Diesen Verlauf bevorzugt sein Gewissen deutlich. Vielleicht sollte er sich zur Abwechslung einmal nach diesem richten? Nachdem der dreizehnte Rufton verklungen ist, nimmt Attila den Hörer vom Ohr. Kurz bevor er ihn in das öffentliche Telefon einhängt, hört er leise aber deutlich ein Knacken und anschließend ein würgendes Husten. In einem instinktiven Reflex reißt er den Hörer wieder an das rechte Ohr.

"Hallo, Koma-Ben?"

"Ahhh - nicht so laut - wer ist denn da? Wer brüllt mir ins Ohr, schon zwei Tage nach Silvester?"

"Attila ist hier - Attila Schlottermüller! Du kennst mich doch."

"Au - ja, leider - und jetzt dröhnst du in meinem Kopf."

"Im Oktober hast du dich noch gefreut. Du hast mich damals angerufen, wegen einem Auftrag. Gibt's den noch?"

"Ahhh - au - das ist aber schon etwas her, wie soll ich mich daran erinnern? Und Erinnerungen bereiten mir heute Schmerzen. Und sprich nicht so laut."

"Ist es so besser, wenn ich flüstere?"

"Geht so ... hilf' mir 'mal auf die Sprünge. Was wollte ich von dir und wo hast du denn überhaupt gesteckt?"

"Ich war zwischendurch - sagen wir 'mal - technisch nicht ganz in Ordnung."

"Bin ich grad' auch nicht - beeil' dich, mir ist übel ... muss mich hinlegen."

"Na, es ging um Hilfe mit einer Wahlkommission. Im Norden von Brandenburg, hast du gesagt, gibt es unlösbare Probleme und du würdest mir eine Chance geben und viel 'Geld' gibt es auch."

Wider seinen Willen betont Attila das Wort 'Geld' deutlich. Es beschäftigt ihn zu sehr. Er hat Glück. Bernd ist durch innere und äußere Umstände so abgelenkt, dass er im Augenblick keinen Nerv für Zwischentöne in Telefonaten hat.

"Ach ja, das Ranzlow-Problem! Ja das ist renitent - gibt es leider immer noch. Komm doch einfach vorbei, dann besprechen wir das. Ahhh - aber nicht mehr heute ...", ein Klappern und Schaben ist zu hören und ein letzter Satz folgt: "... Igitt, Viech, wie siehst du wieder aus? Geh' mir ..."

Das Telefonat endet abrupt. Attila hält den Hörer in Augenhöhe vor seinen Kopf und blickt ihn verdutzt an. Er fixiert die Hörmuschel und wartet auf irgendein Signal. Als schließlich das Besetztzeichen ertönt, hängt er den Hörer enttäuscht in den Blechkasten des öffentlichen Fernsprechers ein. Eigentlich ist alles gesagt. Bernd Komanski hat ihn zu sich eingeladen. Nur heute soll er nicht kommen. Da sie keinen Tag verabredet haben, wird Attila sich einen passenden wählen. Damit gilt es nur noch ein einziges, kleines Problem zu überwinden: Koma-Ben wohnt am Rande von Storkow!