Entlang der Dahme

Die freie Nacht ist aufgegangen,
Unsichtbar wird ein Mensch dem andern,
So kann ich mit den Thränen prangen
Und hin zu Liebchens Fenster wandern.
Der Wächter rufet seine Stunden,
Der Kranke jammert seine Schmerzen,
Die Liebe klaget ihre Wunden,
Und bei der Leiche schimmern Kerzen.

Achim von Arnim

Die Rücklichter des alten Transporters verblassen im Dunkel des angebrochenen Abends. Das rote Glimmen wird schwächer und schwächer, nur die bunten Lichtreflexe der Rundumleuchten verzieren noch eine längere Zeit die Wände der umliegenden Häuser. Sie tasten sich über deren Wände und dringen kurzzeitig in die Zimmer hinter den dunklen Fenstern ein. Auch das nervige, unnatürliche Schnarren verstummt langsam in der Ferne. Mit der Ruhe und Dunkelheit kommt die Anonymität zurück, die der Maler so liebt. Er genießt sie und gewinnt mit ihr ein Stück seiner Selbstsicherheit wieder. Dieser gefährliche, chaotische und unberechenbare Polizist war ihm heute sehr nahe gekommen - viel zu nahe. Das muss er zukünftig unbedingt verhindern. Die Behörden suchen nach ihm, da er sich in ihre Arbeit einmischt, sie vorführt und bereits viel zu vielen Mächtigen auf die Füße getreten ist oder sie bloßgestellt hat. Ihre Wut ist inzwischen grenzenlos und nachtragend sind sie in biblischen Ausmaßen, garantiert bis in die vierte Generation. Verwunderlich ist das nicht, halten die meisten der Gewählten sich doch für auserwählt und gottgleich, auch wenn sie nur mangels besserer Alternativen auf ihren Posten gelangt sind.

Langsam wird dem Maler die Dunkelheit bewusst, in die er sich auf eigenen Wunsch entlassen hat. Dieser wahnsinnige Fahrer, dem er sich anvertraute und der ihn bis in diesen kleinen Ort mitnahm, schien von der Flucht, dem Ort, dem nächsten Ort und überhaupt allem besessen zu sein. Das ungewöhnliche Auto störte ihn nicht und der Mensch darin an sich auch nicht - wer oder was galten heute noch als 'normal'? Der Maler fühlte sich durch dessen auffälliges Verhalten existenziell bedroht. Nun liegt diese Gefahr zu seinem Glück in der Vergangenheit. Die Dunkelheit beginnt ihn aufzusaugen. Im Ort gibt es nur wenige Straßenleuchten, die insgesamt nahezu wirkungslos sind. Er verschwindet in dem schwachen Licht, löst sich auf und tritt wieder in die schützende Anonymität der nächtlichen Wahrnehmungsfreiheit.

Langsam folgt der Maler der Straße in Richtung seines 'Fluchtpunktes', der Stadt Storkow. Die ersten Meter seines Weges sind gut beschildert. An einem alten Schulgebäude wählt er die Abzweigung nach links. Er glaubt, sich weiter nach Norden bewegen zu müssen, vermutet dort das Ziel seiner Flucht. Natürlich hat er keine Karte der Gegend, in der sich gerade befindet und auch keine Taschenlampe bei sich. Es bleibt ihm also nichts weiter übrig, als die Richtung zu erraten, in die er sich bewegen muss und auf das Vorhandensein von erleuchteten Hinweisschildern zu hoffen, die ihm den rechten Weg weisen können.

Aus der Situation, die seine Flucht auslöste, ergab sich keine Gelegenheit für irgend eine Vorbereitung. Sein Zusammentreffen mit dem Dacapo, der ihn seit Jahren penetrant verfolgt, war plötzlich und unerwartet. Fast hätte dieser ihn bei der Markierung eines Verbrechers gesehen, was das Ende seiner Anonymität bedeutet hätte. Der Maler brach die Aktion gerade noch rechtzeitig ab, tauchte in der schaulustigen Menge anwesender Mitmenschen unter und begann seine Flucht. Diese trieb ihn aus der großen, bunten Stadt heraus. Aufgrund einer unerfindlichen Laune des Schicksals gelang es dem Dacapo, ihm über mehrere Stunden zu folgen. Selbst in den Weiten der Mark Brandenburg, noch hinter dem Autobahnring, der die zivilisierte Gegend von der Wildnis trennt, jagte ihn der mächtige, dauergereizte Geheimpolizist. Vor einiger Zeit hatte ein anderer Anonymer dem Maler erzählt, dass Storkow (Mark) ein guter Treffpunkt für alle Flüchtenden ist, unabhängig von Grund und Ziel ihres Unterfangens. Diese märkische Kleinstadt soll ein wahres Eldorado der Anonymität sein, dort fragt niemand nach Herkunft, Namen, Ziel oder Aufenthaltsgrund. Jeder Mensch ist da, weil es im Augenblick so ist und zieht er weiter, dann ist auch das so und es ist in jedem Falle gut so. Da dieses Storkow ganz in der Nähe sein muss, hat er es als seinen Fluchtpunkt auserkoren, auf dem alle Linien seines aktuellen Handelns und Denkens zusammenführen. Dort angekommen, wird er weitersehen, nun muss er diesen Ort zuerst einmal finden. Das ist in der Dunkelheit des Novemberabends gar nicht so einfach. Die Straße, auf der sich der Maler bewegt, wird langsam zu einem Weg. Anfangs stehen noch Wohnhäuser dicht gedrängt zu ihrer linken und rechten Seite, doch allmählich wird es lichter zwischen ihnen und schließlich werden Höfe auf großen Grundstücken von Ferienhäusern und Bungalowsiedlungen abgelöst. Dann enden die Schlaglöcher des befestigten Weges und dieser geht in einen Sandstreifen zwischen hohen Kiefern über. Ist das noch der Weg nach Storkow? Der Maler bleibt stehen und sieht sich um. Er steht mitten im Wald - im nächtlich dunklen Wald. Der Welt um ihn herum ist jegliche Farbe abhandengekommen. Alles existiert nur noch in verschiedenen Abstufungen von Schwarz. Einzig und allein die Sterne blinken über ihm. Ihr Licht wird hier, mitten im Herzen des Dahmelandes, durch keine Straßenbeleuchtung überstrahlt. Er setzt sich auf einen großen Findling, der dunkel und einsam am Rande des Weges ruht, legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die ungewöhnlich vielen Lichtpunkte am Himmel und das leuchtende Band der Milchstraße zwischen ihnen. Es ist ein einzigartiges Bild für einen Stadtbewohner. Nie zuvor hat er den Nachthimmel, der sich über dem Land wölbt, in dieser Intensität wahrgenommen. Seine Bewunderung für den Sternendom ist jedoch nur von kurzer Dauer, Laternen würde er trotzdem bevorzugen, da er vermutet, vom rechten Weg abgekommen zu sein. Er blickt entlang der Schneise zwischen den Bäumen, auf der er vor einigen Augenblicken noch gelaufen ist und erkennt, dass es wenige Meter weiter zwischen den Bäumen etwas heller wird. Dort scheint im schwachen, fahlen Licht des Halbmondes eine Lichtung zu liegen. Mehr Licht verspricht bessere Orientierungsmöglichkeiten. Also erhebt sich der Maler von dem kalten, skandinavischen Stein und geht auf das weniger dunkel erscheinende Ende des Weges zu. Er läuft zwischen zwei Mauern aus hoch gewachsenen Kiefern. Unter diesen ist gar nichts mehr zu erkennen - im Wald herrscht absolute Dunkelheit. Nach wenigen Schritten tritt er aus dem Wald. Auf der linken Seite des Weges liegt eine Wiese und im spärlichen Mondlicht sieht er an deren Ende das Wasserband eines Flusses glitzern. Über diesem tanzen dünne Nebelschwaden. Sie werden von dem schwachen Wind an einigen Stellen zerrissen und auf die schmalen Wiesen an beiden Ufern geweht. Der Maler steht leicht erhöht und sieht fasziniert über die Landschaft, die sich vor ihm in silbernen und grauen Tönen ausbreitet.

Er fühlt sich an die Märchenwelt erinnert, die ihm seine Mutter in den Jahren der eigenen Kindheit an jedem Abend neu erschuf. Träumend sieht er den feinen, weißen Nebelbändern hinterher, die langsam über die Wiesen schweben, sich immer wieder in den einzeln stehenden Büschen verfangen und wartet instinktiv auf das Erscheinen der Elfen. Hätte er gewusst, dass diese einmalige Landschaft des Dahmelandes nur wenige Kilometer vor den Toren der großen, bunten und hektischen Stadt liegt, wäre er schon vorher hierher gekommen. Von dem anderen Ende der Wiese dringt ein leises Klingeln zu ihm hinüber. Dort, wo der Weg wieder vom dunklen Kiefernwald verschlungen wird, glaubt er ein flackerndes, gelbliches Licht zu erkennen. Einige Augenblicke später ist es deutlich zu sehen. Kein grelles, bläuliches Licht einer modernen Taschenlampe, sondern eine Kerze wird langsam in seine Richtung getragen. Auch das Klingeln ist klar zu vernehmen. Es wird von einem leisen Singen und Summen begleitet. 'Dort kommen wirklich Elfen!', denkt er erschrocken. 'Und sie werden mich holen und in ihr Reich unter den Wassern des Flusses mitnehmen...', erinnert er sich an die Märchen seiner Mutter und seltsam, in diesem Augenblick hat die Vorstellung nichts Schreckliches für ihn. Schließlich ist er auf der Flucht vor Politik, Behörden und dem organisierten Verbrechen. Alles, was glaubt Macht zu besitzen, ist hinter ihm her. Dort, in den ruhigen Tiefen des Flusses, wird ihn mit Sicherheit niemand finden. Langsam erholt er sich von dem Schreck und die Starre der Bewegungsunfähigkeit verlässt ihn wieder. Der Gesang, der das Klingeln und die flackernde Kerze begleitet, wird immer deutlicher. Der Maler kann erste Worte erkennen und bald darauf hört er klar die helle Stimme eines Mädchens singen.

 

Alles still! Es tanzt den Reigen

Mondenstrahl im Wald und Flur,

Und darüber thront das Schweigen

Und der Winterhimmel nur.

 

Alles still! Vergeblich lauschet

Man der Krähe heisrem Schrei,

Keiner Fichte Wipfel rauschet

Und kein Bächlein summt vorbei.

 

Scheinbar kommt ihm ein Kind singend entgegen. Die Kleinen stellten für ihn bisher nie eine Gefährdung dar. Vor ihnen kann er sich zwar nicht verbergen, nicht mit der Umgebung verschmelzen und in die Anonymität entgleiten, sie sind jedoch auch in ihrer ungeformten Arglosigkeit ungefährlich. Schon manches Mal hat er ein Kind vor Verbrechern oder anmaßenden Behördenmitarbeitern beschützt. Wenn um diese Zeit, mitten in der dunklen Einsamkeit, ein kleines Mädchen unterwegs ist, dann benötigt es ganz bestimmt seine Hilfe. Noch ist er nicht aus dem Wald getreten. Nach wie vor steht er an der Stelle, von der aus er zum ersten Mal auf die Wiese und der Fluss blickte. Langsam tritt er einen Schritt zur Seite, tiefer in die nächtlichen Schatten. An den Stamm einer Kiefer gelehnt, erwartet er das Mädchen, das ihm singend auf dem Weg näher kommt. Selbst als es nur noch wenige Schritte von ihm entfernt ist, kann er es nicht erkennen. Er sieht nur das schwache, flackernde Licht der kleinen Kerze, die es in Brusthöhe vor sich trägt, hört den leisen Gesang und das helle Klingeln eines Glöckchens. Da er neben dem Weg steht, wird das Kind ihn nicht wahrnehmen. Wenn das Mädchen keine Hilfe benötigt, wird er es passieren lassen und sich nicht zu erkennen geben. Entgegen seiner Erwartung bleibt das Kind neben ihm stehen und spricht ihn an.

"Ich wünsche dir einen ruhigen Abend, Wanderer."

Der Maler erschrickt, zuckt zusammen und rutscht dabei von dem Stamm des Baumes ab, an den er sich lehnt. Das Gleichgewicht suchend, stolpert er auf die Straße und kommt direkt vor dem Mädchen zu stehen.

"Oh, habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht...", beruhigt es ihn leise.

"Ach nein, wo denkst du hin. Ich dachte nur, du kannst mich gar nicht sehen!"

"Konnte ich auch nicht."

Der Maler betrachtet das Mädchen erstaunt im schwachen Licht des Teelichtes, das es vor sich trägt. Das Wenige, was er von ihm erkennen kann, wirkt abenteuerlich. Es ist in eine bunte Ringelstrumpfhose und eine samtene Jacke gekleidet, die aus vielen Flicken zusammengesetzt ist, deren Farben er nicht erkennen kann. Auf jeden Fall ist sie bunt wie ein Gaukler angezogen. An die Jacke ist eine große Kapuze genäht, die in einem langen Zipfel endete. Dessen Spitze kann er in der Dunkelheit nicht sehen, aber hören. Bei jeder Bewegung des Mädchens erklingt ein helles Klingeln von einer Schelle, die an die Spitze der Kapuze genäht ist. Sein langes, blondes Haar hat das Mädchen zu einem großen Zopf gebunden und diesen auf dem Kopf in einen Kranz gelegt. Nun, wer ist schon normal? Er ist es nicht und dieses Kind ist es auch nicht. Trotzdem ist ihm unheimlich bei dem Gedanken, wie es ihn finden konnte. Vielleicht ist es doch eine Elfe?

"Wie - du konntest mich nicht sehen und hast mich trotzdem gefunden?", fragt der Maler verunsichert und forschend.

"Das war ganz einfach. Ich wusste, dass du dort sein wirst, an jenem Baum."

"Verstehe ich nicht."

"Du musst nicht alles verstehen, ich wusste es. Da ich dich nicht erschrecken wollte, habe ich mich frühzeitig mit einem Licht und einem Lied zu erkennen gegeben."

"Ja das Lied...", überlegt der Maler: "... irgendwie kommt es mir bekannt vor. Wer hat das gedichtet?"

"Ach, das habe ich von einem anderen Mann, mit dem ich zu einer anderen Zeit, etwas weiter unten am Dahme-Fluss gewandert bin. Theodor hat mir seine Gedichte vorgesprochen und aus einem Schreibheft vorgelesen. Wenn ich doch auch nur schreiben könnte...", spricht sie verträumt in die kalte Nachtluft und blickt dem Dampf ihres warmen Atems hinterher, der sich langsam in der Luft auflöst.

"Theodor? Das ist ein sehr alter, heut' ungebräuchlicher Name. Ich kenne aus der Schule nur einen Theodor Fontane."

"Ja! So nannte er sich! Du hast ihn auch getroffen?", freut sich das Mädchen.

"Äh - nein! Der lebte vor 150 Jahren. Den können weder ich noch du getroffen haben."

"Ach ja, mein Problem mit der Zeit. Beinahe hätte ich es vergessen. Natürlich traf ich ihn..."

Das Mädchen spricht dies sehr traurige und leise aus, setzt sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes und stellt das brennende Teelicht neben sich. Sie blickt verträumt auf die Wiese. Der Male sieht das Spiegelbild der Kerzenflamme in ihren großen, dunklen Augen. Leise beginnt das Mädchen zu summen und fängt wieder an zu singen.

 

Ich arme Tambourette,

Man führte mich aus der Zeiten Gewölbe,

Wäre ich beim Tambour geblieben,

Dürfte ich nicht gefangen liegen.

 

Oh Himmelsdom, du hohes Haus,

Du siehst so furchtbar aus,

Ich schaue dich nicht mehr an,

Weil ich weiß ich gehöre nicht hieran.

 

Wenn die Zeit vorbeimarschiert,

Bei mir nicht einquartiert,

Wenn ich mich frage, wer ich gewesen bin:

Tambourette von der Schwedengarde.

 

Lasst mich gehen,

Ihr Berge und Hügelein,

Lasst die Tambourette gehen,

Ich bin euch doch nur wie nutzloser Stein.

 

Ich schreie mit heller Stimme,

Von Euch die Freiheit ich bekomme!

 

Nachdem das Lied endet, geschieht einige Minuten gar nichts. Beide sitzen nebeneinander auf dem Baumstamm, zwischen ihnen brennt lichtschwach die kleine Kerze und sie sehen verträumt über die vom fahlen Mondschein erhellte Wiese und auf den silbern glänzenden Fluss.

"Diese Tambourette, das bist du?", fragt der Maler vorsichtig.

"Ja", haucht das Mädchen traurig.

"Eigentlich wollte ich dich fragen, ob ich dich nach Hause begleiten soll, zu deiner Familie. Ich fürchte, das ist mir nicht möglich."

"Nein", ist die abermals gehauchte, traurige Antwort.

Wieder geschieht für einige Minuten nichts. Sie betrachten das sanfte Spiel des Windes mit den Nebelschwaden.

"Aber ich kann DIR helfen, dir deinen Weg weisen", spricht die Tambourette fest in die Stille und beendet damit das Schweigen.

"Du kennst den Weg nach Storkow?"

"Aber ja. Seit unendlicher Zeit wandere ich durch das Dahmeland. Storkow liegt an seinem östlichen Rand. Ich kenne alle Wege dorthin - über Stein und über Gras."

"Das freut mich, du bist meine Rettung!"

"Dann lass uns gemeinsam zu der alten Mühle gehen, die etwas weiter unten am Fluss gelegen ist. Dort zeige ich dir, wohin du dich wenden musst."

"Und du, wohin gehst du?"

"Dorthin, wohin die Zeit mich trägt und der Fluss mich lässt."

Die Tambourette ergreift eine Hand des Malers, zieht ihn von dem Stamm empor und beide gehen weiter auf dem Weg entlang der Dahmewiese. An deren Ende nimmt sie der schweigende Wald auf und sie verschwinden in dessen dunkler, kalter Anonymität.