Beamte im Selbstversuch

Es gibt vielerlei Lärme.
Aber es gibt nur eine Stille.

Kurt Tucholsky

Die Geräusche von schweren Reinigungsmaschinen dröhnen durch das Haus. Einige Bewohner sehen immer wieder auf die Straße und suchen die Quelle dieser akustischen Signale, die einen ordnungsgemäß vom herbstlichen Laub beräumten Kiez andeuten. Die Straße ist leer und ruhig, wie sich das für einen ganz normalen, beginnenden Nachmittag gehört und auf ihr türmen sich weiterhin Berge brauner Blätter. Das Stöhnen der Straßenfahrzeuge ebbt nicht ab, als ob diese direkt vor dem Wohnblock im Kreis fahren, sehen kann sie jedoch niemand. Ein besorgter Bewohner fürchtet für den Asphalt - eventuell wird dieser komplett eingesaugt. Jeder weiß, dass Straßenbauarbeiten in Berlin eine gefühlte Unendlichkeit andauern. In der großen, bunten Stadt wird mehr geredet als gehandelt. Schließlich ist hier der Sitz der Landesregierung und deren Verhalten passen sich alle Einwohner immer weiter an. Trotzdem: ein matschiger, schlammiger, nicht befestigter Weg vor der Haustür - gar nicht auszudenken! Der besorgte Bürger macht sich also auf die Suche nach der Geräuschquelle. Schnell stellt er fest, dass diese im Haus und nicht davor zu finden ist. Mehrere der schweren, orangenen Fahrzeuge der Stadtreinigung scheinen sich in einer Wohnung im zweiten Stock zu befinden.

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Dreimal kommt ein Streifenwagen. Das erste und auch das zweite Mal lassen sich die beiden Polizisten durch die professionell gestalteten Schilder an der Wohnungstür irritieren und verlassen das Haus wieder. Die Dekoration "Achtung! Wissenschaftler bei lebensgefährlichem Selbstversuch." auf einem dreieckigen, gelben Schild, zusätzlich ein rot blinkendes Notlicht über der Tür und der Hinweis: "Vorsicht radioaktive Strahlung! Prüfen Sie Ihr Dosimeter vor dem Betreten!" könnte als Scherz aufgefasst werden.

Die Geräusche hinter der geschlossenen Tür bestätigen für die Ordnungshüter jedoch die Korrektheit der Angaben auf den Warnschildern. Die beiden Beamten stehen ratlos vor der Wohnungstür und versuchen die Situation zu verstehen.

"Da Atom-Strahlung - ich nicht!" der Jüngere sieht verunsichert aus. Er hält den Kopf etwas geneigt und liest aufmerksam die Schilder. Zusätzlich drückt er seinen Respekt vor Wissenschaft und Physik aus, indem er in zwei Metern Abstand vor der Tür stehen bleibt.

"Du meinst radioaktive Strahlung? Hast du ein Messgerät dabei?"

"So ein D-o-s-i-m-e-t-e-r? Zentimeter kenne ich. Das aber…"

"Nee, ich glaube, das hilft hier nicht. Müsste wohl ein Geigerzähler sein."

"Du willst Geiger zählen? Ich glaube nicht, dass so ’ne klassische Band in die Wohnung passt und diesen Lärm macht."

"Dein Physik-Unterricht ist wohl ständig ausgefallen!"

Beide sehen sich vorsichtig um. Da das Treppenhauslicht seit einigen Minuten erloschen ist und sie offensichtlich nicht beobachtet werden, treten sie den Rückzug an. Sie denken an Verstärkung, eine Hundertschaft, das Sondereinsatzkommando oder ähnliche Hilfe. Bei der Lautstärke im Treppenhaus ist die Bitte um Verstärkung ja auch nicht über das Handfunkgerät zu vermitteln. Es ist logisch, dass der Anruf vor dem Haus ausgeführt werden muss. Das Handfunkgerät meldet sich von ganz allein und ein neuer Einsatz kommt dazwischen. Beide verdrängen einfach das Vorhandensein der gefährlichen Wohnung mit den unerklärlichen Geräuschen. Sie werden an einem anderen Ort benötigt.

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Da die Nachbarn von Dennis immer noch keine Ruhe finden, rufen sie erneut bei der Polizei an und es wird die Streife mit den gleichen Beamten ausgesandt. Drei Stunden später stehen die zwei Polizisten zum wiederholten Male vor der mysteriösen Tür. Jetzt mit der Erinnerung: Hier waren wir heute schon einmal. Der jüngere von beiden ist neu in der Stadt. Er ist ohne das Navigationsgerät vollständig hilflos. Nicht einmal zur Wache würde er ohne dieses zurückfinden. So kommt seine Erinnerung erst wieder zurück, als er die Tür mit den Schildern sieht, durch die immer noch der simulierte Lärm der Reinigungsmaschinen dringt. Sein Kollege hat gar nicht gedacht - der Fahrer gibt den Einsatzort in das Navigationsgerät ein und fährt. So setzt seine Erinnerung erst vor dem Haus ein - zumindest einige Minuten vor denen seines Kollegen. Beide halten wieder vorsichtig Abstand zur Tür. Der Tag ist weiter fortgeschritten, die Sonne ist untergegangen und das Treppenhaus wird nur noch spärlich von wenigen Neonröhren erhellt. Das rote Notlicht über der Wohnungstür blinkt jetzt noch bedrohlicher als am Vormittag. Kaltes Neonlicht, der irritierende Lärm hinter der Tür und das stetige, rote Blinken erinnert beide Polizisten an den Horrorfilm, der erst am gestrigen Abend im staatlichen Fernsehen gezeigt wurde (wegen dem Bildungsauftrag schon ab kurz nach 20 Uhr). Natürlich würden sie nie zugeben, sich wegen eines Blinklichtes und etwas Lärm zu ängstigen. Trotzdem ziehen sie sich zum wiederholten Male langsam zurück. Vor der Eingangstür zum Haus fühlen sie sich wohler.

"Hallo Zentrale, wir benötigen hier Verstärkung: Lärm, Atom-Strahlung, ...", haucht es in das Handfunkgerät.

"Das heißt radioaktive Strahlung."

"Egal, Hauptsache Verstärkung."

Das Funkgerät zischelt nur leise vor sich hin. Vor der Wohnungstür wäre es nicht zu hören gewesen. Nachdem eine ganze Minute lang keine Antwort von der Zentrale kommt, nochmals eine vorsichtige Anfrage: "Hallo Zentrale, Verstärkung?"

"Äääh, was habt ihr denn für Probleme in einem ganz normalen Wohnhaus?", meldet sich das Funkgerät quäkend und zischend zurück.

"Na solche Strahlung und Lärm - ohrenbetäubend - und Notlicht - total gefährlich - wann ist das Sondereinsatzkommando endlich hier?"

"Geht es vielleicht ein wenig exakter? Was für eine Verstärkung benötigt ihr denn nun?"

"Na eine sehr starke Verstärkung! - Hiiilfeee!"

Aus dem Funkgerät ist zuerst ein unterdrücktes Glucksen und dann ein ungehemmtes Lachen zu hören.

"Ihr nehmt uns und die Lage nicht ernst! Wann kommt denn nun unsere Verstärkung?"

"Ok. ok. Wir haben gerade Besuch vom BKA. Kriminalkommissar Heinz Fass ist hier und hat nichts weiter zu tun. Er wird euch unterstützen, hat er gerade gesagt. Bitte nach Abschluss des Einsatzes Rückmeldung nicht vergessen."

Die Verbindung wird von der Zentrale unterbrochen.

"Waaaaaaaaasssss?", der ältere Beamte wird augenblicklich bleich und muss sich setzen.

Der andere Polizist sieht ihn ratlos an und setzt sich dann neben ihn auf die Treppe vor die Eingangstür des Hauses.

"Was ist denn? 'Geht doch alles seinen Gang."

"Oh Gott! Warum muss MIR der Dacapo HEUTE passieren!"

"Ich verstehe immer noch nicht. Unsere Verstärkung kommt - das ist doch toll."

"Toll? Ja das ist es wohl. Du wirst es erleben und eventuell und mit viel Glück auch überleben..."

W27C3P1
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http://texorello.org/W27C3P1
20. November 2012 13:12 Uhr
Ort: Berlin, Ahornallee
Personen: timesurfer, Berliner Polizist jung, Berliner Polizist älter
20. November 2012 17:40 Uhr
Ort: Berlin, Ahornallee
Personen: timesurfer, Berliner Polizist jung, Berliner Polizist älter
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