Drifting in

Vor Ankunft am Grund
ist der Rückweg unberechenbar.

Jaroslaw Tarassek - Mathematik für Höhlenforscher

Die Annäherung an den Ort gestaltete sich nahezu unspektakulär. Die bereits herbstgelichteten, alten und mächtigen Bäume der märkischen Allee überspannten die Straße, die als nördliche Einfallslinie in die Stadt Storkow fungierte. Ihr Schatten verdunkelte nur noch leicht den Verkehrstunnel, den sie noch vor einigen Tagen gebildet hatten. Nach den vielen Feldern und kleinen Dörfern, die sie auf der Fahrt bis hier passiert hatten, kam eine größere Ansammlung an Häusern in Sicht. Die herbstliche Nachmittagssonne erleuchtete deren Dächer rotgolden. Am Eingang Storkows fühlte sich der Dacapo durch einen Kreisverkehr gestört. Dieser gestatte keine direkte Einsicht in den Ort und behinderte eine ungehinderte Hochgeschwindigkeitseinfahrt. Exakt am Ortsschild schaltete der Dacapo das Blaulicht ein. Wo sollte das noch hinführen, wenn er jedes Mal wegen dieser rechteckigen, gelben Tafeln die Geschwindigkeit verringern müsste. Er war im Auftrag der Staatsgewalt unterwegs, er war die personifizierte Staatsgewalt! Ihn hielt nichts und niemand auf - Ortsschilder schon gar nicht. Die lustigen, blauen Lichtreflexe auf dem Schild erfreuten ihn. Sie lenkten den Dacapo für einen Augenblick ab. Noch bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf den weiteren Verlauf der Straße richten konnte, wurde diese durch ein überdimensionales Fahrrad aus blankem Stahl gefesselt. Es war am linken Rand der Straße in einem Garten aufgebaut. Im letzten Moment bemerkte er den Kreisverkehr, in den er bereits eingefahren war. Ihm blieb nichts weiter übrig, als das Erkner-Manöver zu wiederholen. Der Oldtimer reagierte brav. Er kippte nach rechts und Miezi hing wieder im dreieckigen Seitenfenster. Die Reifen im Inneren des Kreises hatten keinen Bodenkontakt mehr und die Reifen der äußeren Räder machten sich durch ein lautes, quietschendes Radieren bemerkbar. Und schon war der Kreisverkehr halb umrundet und das Lenkrad musste in die Gegenrichtung eingeschlagen werden. Der Wagen schlug auch auf die Straße und eine Aufschrift 'Irrlandia' huschte vorbei. 'Häh, ick bin in Irland? So irre weit hatt ick mir ja noch nie verfranzt!' Einen weiteren Augenblick war der Dacapo abgelenkt, bis er sich an die Aufschrift des Ortsschildes erinnerte: Es hatte die Ortsgrenze von Storkow (Mark) ausgewiesen.

Der Kreisverkehr, eine Ampel, noch eine Ampel - der Dacapo war erbost: "Sieh dir dat an Miezi! Wer hat denn hier die janzen Schikanen aufjebaut? Muss ick mich morjen bei der 'Rennleitung' beschweren. Die Straßenführung is einsatzjefährdend! Zum Glück schreibe ick imma Testberichte." Die zweite Lichtsignalanlage auf seinem Weg in die Stadt - die Ampel neben der Burg Storkow - strahlte in leuchtendem, behinderndem Rot. Natürlich bog der Dacapo ohne zu zögern nach rechts ab. Das zuckende Blaulicht, das den vielen Leuchten entströmte, die an verschiedenen Stellen des Oldtimers angebracht waren, betonten seiner Wichtig- und Gewaltigkeit und es überstrahlte in Intervallen das rote Licht der Ampel. Wenige Sekunden später hatte er bereits den Marktplatz erreicht und riss das Lenkrad mit einem heftigen Ruck abermals nach rechts. Der schwere Oldtimer mit Baujahr 1970 versuchte dem Impuls und der vorgeschlagenen Richtung zu folgen. Wieder kippte er in die Seitenlage und zwei Räder hingen in der Luft. Erschrocken ließ der Dacapo das Lenkrad frei, da er fühlte, dass der Wagen komplett umschlagen würden, wenn er die eingeschlagene Richtung weiter forcierte. Es drehte sofort befreit in die Mittellage. Die beiden, angehobenen Räder fielen auf die Straße zurück. Der Gurt hielt den Fahrer auf dem Sitz. Miezi hatte auf der Rückbank wieder einmal kein Glück. Der kleine Hund wurde gegen die Decke geschleudert - sein Körper beharrte für Sekundenbruchteile auf der vorhergehenden Position. Gleiches tat der Wagen selbst. Er driftete quer zur Fahrtrichtung auf die Parkflächen inmitten des leeren Marktplatzes zu. Dem Dacapo gelang es nur mit größter Mühe, der flachen Umzäunung auszuweichen. Laut quietschend, schaukelnd und hüpfend überquerte der überblaue Einsatzwagen den Platz und schoss auf der anderen Seite des Marktes wieder auf die Straße. Er hinterließ schwarze, stinkende Wölkchen verbrannten Gummis und breite, dunkle Streifen auf dem Marktplatz. Noch bevor der Dacapo 'Wow, mächtig gewaltig!' denken konnte, war Miezi im Wageninneren gegen die Frontscheibe geschleudert worden. Von dort sprang der kleine Pekinese dem Fahrer direkt ins Gesicht und krallte sich in seinen Haaren fest. Oh, Miezi war wütend! Diese verantwortungslose Fahrweise ging ihm heute so richtig auf die Nerven und außerdem: Katzenfutter schmeckte nicht und machte aggressiv. Deshalb bissen Katzen auch viel lieber in Mäuse und Vögel, anstatt in ihr Dosenfutter. Der Dacapo ruderte wild mit dem Lenkrad. Durch das Schlenkern krallte sich Miezi instinktiv noch fester in das Haar des Fahrers und begann wütend zu knurren. Der Pekinese verdeckte dem Dacapo die Sicht. Er versuchte verzweifelt, die Situation zu retten. Das Fahrzeug fuhr viel zu schnell für hastige Reaktionen. Die Krallen von Miezi hinderten ihn am Denken. Er war nun schon einige Sekunden ohne Sicht gerollt. Als das linke Vorderrad über eine Bordsteinkante holperte, fiel ihm die 'Innensirene' ein. Er hatte sie speziell für Fahrten mit nervigen Gästen installieren lassen. Die schrillen Töne sollten einen Interrupt setzen - die aktuellen Handlungen unterbrechen. Nun war Miezi ein solcher, nerviger Fall. Er erreichte mit der linken Hand den Schalter in der Konsole und setzte einen Interrupt. Im Wageninneren ertönte aus den Lautsprechern ein infernalisches Geheul. Miezi stoppte erschrocken das Knurren, riss die Augen weit auf, ließ die Haare des Dacapo frei und fiel in dessen Schoß, gleich einem reifen Apfel. Diese Gelegenheit nutzte der Dacapo und lenkte den Wagen in Richtung der Altstadtkirche davon.