Neben der Spur
Geschwindigkeit wird nie so sehr bewundert als von Saumseligen.
William Shakespeare
Der Motor des 1970-er Oldtimers brüllte laut und tief. Der V8-Block hatte gut zu tun und wütete unter der Motorhaube. 'Wieder so'ne langweilige Autobahnfahrt', dachte Heinz. An den Fall, den er untersuchen sollte, mochte er schon gar nicht denken: Eine 'terroristische transni-Bombe' sollte in Storkow, mitten in der Mark Brandenburg, explodiert sein. So ein Unfug! Da gab es keine Terroristen, sondern nur Kühe. Was auch immer die Menschen der Kleinstadt irritiert hatte, er würde es zur Strecke bringen. Terror-Monster waren seine Spezialität. Schließlich kam er aus der großen Stadt, da ließ er sich nicht von Provinzterroristen hinters Licht führen. Und außerdem hatte er eine Waffe bei sich. Das war die einzige Erholung, die er sich während der Arbeit gönnte: der Gebrauch der Dienstwaffe. So wie die Autobahn ihn deprimierte, würde er die Pistole ausgiebig nutzen - sehr ausgiebig.
Pfeifend zog eine große, silbrige Audi-Limousine links an ihm vorbei. Eine Reihe von Lichtreflexen, die die bereits tief stehende Sonne auf der Außenhaut des glänzenden Wagens erzeugte, huschten durch den Innenraum des überblauen Einsatzwagens. Jeder einzelne traf - aus Bosheit oder auch nur Zufall - in die Augen des Fahrers und blendete ihn. Instinktiv trat der Dacapo auf das Gaspedal und musste erschüttert feststellen, dass es bereits das Bodenblech berührte. Mehr als 150 km/h und gewaltiges, kraftvolles Dröhnen war nun einmal nicht erreichbar. Der Oldtimer 'machte mächtig was her' - nur nicht auf der Autobahn. Deshalb waren Autobahnen und die Fahrten darauf, bei ihm verhasst. Grimmig zog er die Augenbrauen zusammen und in Gedanken zählte er noch einmal die Magazine, die er mitgenommen hatte. Wenn ihn jetzt niemand mehr überholte, dann würden die fünf vielleicht ausreichen, um ihm sein seelisches Gleichgewicht wieder zu geben. Es war Sonntagnachmittag im Herbst. Wer fuhr jetzt noch aus der großen Stadt hinaus aufs Land? Bald würde es dunkel werden und Kuhbeobachtung war dann nicht mehr möglich. Die Autobahn war entsprechend leer. Das nutzten einige Liebhaber schneller Wagen. Ein Porsche heulte an ihm vorbei. Obwohl er auf der rechten Spur fuhr und der Sportwagen den äußeren, dritten Fahrstreifen benutzte, war das Heulen laut und durchdringend. Zuerst zuckte der Dacapo erschrocken zusammen, dann stieg Wut in ihm auf. Seine Augen blickten zusammengekniffen durch die große, dunkle Hornbrille: Er fixierte die Rücklichter des schnell kleiner werdenden Fahrzeugs. Instinktiv griff er mit der rechten Hand über seine linke Schulter und versuchte seine Dienstwaffe, den brüllenden Wüstenadler, aus dem Rückenholster zu reißen. Der Aufprall seiner Fingerspitzen auf der Lehne seines Sitzes, erinnerte ihn an seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort und der Schmerz in den Fingern ließ ihn aufheulen. Sonst war er immer der Erste - insbesondere mit seiner Pistole! Zu seinem Glück war die Vorspur des Wagens korrekt eingestellt. So störte es auf dem geraden Streckenabschnitt der Autobahn nicht, dass er beide Hände vom Lenkrad genommen hatte. Das Massieren der Fingerspitzen ließ den Schmerz in diesen langsam verklingen und der Oldtimer röhrte auch ohne sein Eingreifen weiter geradeaus. 'Ich brauch 'ne Bordkanone' sinniert er. Da war doch so eine Dokumentation im Fernsehen gewesen. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten haben sie ein EMP-Dings gebaut. Mit diesem sollten Polizisten die Elektronik in Fahrzeugen einfach ausknipsen können. Er war Polizist, also stand ihm das zu und sein Oldtimer war außerdem auch noch immun dagegen. Damit bildeten er und sein Einsatzfahrzeug die ideale Symbiose für den Test moderner Verbrecherjagdwerkzeuge. Er musste sich in den kommenden Tagen nur umhören. Irgendwer in der großen Stadt konnte das unter Garantie werkeln. In Berlin gab es einfach alles und jede Lösung. Dass sich so eine Kanone in seinen Einsatzwagen integrieren lassen würde, war sicher. Ein neuer Plan zur Perfektion der Verbrechensbekämpfung war geboren. Seine Stimmung begann sich wieder leicht zu heben. In seiner Fantasie stoppte er ein Fahrzeug nach dem anderen auf der Autobahn - und alle waren sie mit Verbrechern zum Bersten gefüllt. Sein Vorrat an Handschellen, den er immer im Kofferraum des Wagens hatte, reichte schon nicht mehr aus. Als sein Blick zufällig auf das altertümliche Kassettenradio fiel, erinnerte er sich an die Musikkassette mit einem Album von AC/DC, die schon seit mehreren Jahren in diesem steckte. Das war die richtige Musik für eine erfolgreiche Verbrecherjagd! Ein entschlossener Klick auf die Abspieltaste förderte keinen Ton aus den Lautsprechern. Nachdem er alle Knöpfe nacheinander betätigt hatte, kämpfte sich aus einem entlegenen Winkel seines Hirns ein Gedanke in sein Bewusstsein: 'Ach ja, man muss am Lautstärkeregler drehen.' Mit einem leichten Knacken schaltet sich das Gerät ein. Dann dreht er mit Schwung die Lautstärke bis zum Anschlag auf. Krächzend versuchte das historische Gerät mit der Stimme von Bon Scott das Dröhnen des V8-Blocks auf dem 'Highway to Hell' zu übertönen.
Es blieb beim kläglichen Versuch und der Dacapo wurde bei 'Nobody’s gonna slow me down' daran erinnert, dass das gerade jetzt auf ihn nicht zutraf. Wütend hieb er auf die Auswurftaste des Spielers. Die Kassette bekam so viel Schwung, dass sie herausschoss und bis auf die hintere Sitzbank flog. Dort traf sie zielsicher die bellende Miezi. Der kleine Pekinese hatte es sich auf dem abgesteppten Leder bequem gemacht, genoss die Fahrt und erholte sich vom Katzenfutter, das sein Begleiter ihm immer wieder verabreichte. Dieser hatte sich nach vielen Monaten des Zusammenlebens nach wie vor nicht damit angefreundet, dass ihm ein Hund und keine Katze zugelaufen war. Das Plastikgeschoss, das den Kopf von Miezi getroffen hatte, befand sich jetzt in dessen Maul. Der kleine Hund knurrte laut und wütend über die Störung seiner nachmittäglichen Ruhe. Er schüttelte die Musikkassette so stark, dass das Magnetband in weiten Schleifen herausgeschleudert wurde. Die braunen Fäden, die überall vor ihm durch die Luft wirbelten, steigerten seine Aufregung und Wut. Er versuchte, sie mit seinen kurzen Vorderbeinen zu erhaschen. Dafür hüpfte er auf der Rückbank des Oldtimers wie ein Gummiball auf und ab. Heinz konnte das Wüten nur im Rückspiegel verfolgen. Der kleine Hund tauchte immer wieder an einer anderen, überraschenden Position über den Rückenlehnen der Vordersitze auf. Einige Male stieß er laut krachend an die Decke der Fahrgastkanzel und prallte - wirklich wie ein Gummiball - in eine andere Richtung ab. Jeder, der sich lang genug anstrengt, erreicht sein Ziel - auch Miezi. Nach wenigen Sekunden Knurren und Hüpfen ähnelte das Tier einem braun-weißen Minizebra. Es war in das gesamte Magnetband der Kassette gewickelt, deren Gehäuse der Hund kurz darauf laut knackend zerbiss. Das war das endgültige Aus für die Kassette. Keine Musik von AC/DC mehr während der Fahrt! So bekam des Dacapos Laune ein historisches Tief. Im Gegensatz zu ihm lag der eingewickelte Pekinese wieder zufrieden auf der Rückbank.
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Das Benzingemetzel im vorderen Teil des Wagens trieb nicht nur die Nadel der Wassertemperaturanzeige zitternd über eine rote Grenzlinie. Es hatte auch verheerende Auswirkungen auf die Tankanzeige daneben. 'Mist, schon wieder fast leer - ich war doch erst gestern an der Tanke.' Die Abfahrt Erkner auf dem Ostring kam in Sicht. Dort gab es eine Tankstelle, wusste Heinz - leider am falschen Ende des Ortes. In letzter Sekunde riss er das Lenkrad zur Seite und schaukelte den schweren Wagen auf die Ausfahrt. Das Knurren der erschrockenen Miezi wanderte in seinem Rücken von rechts nach links. 'Nächstes Mal schnalle ich das Viech an! Ist besser für die Inneneinrichtung', schoss es Heinz durch den Kopf, bevor er sich auf die Ausfahrt konzentrieren musste. Er konnte eingeknickte Begrenzungspfähle nicht ausstehen. Diese störten sein polizeilich, ästhetisches Empfinden.