Bei Stau hilft blau
Reisende, die man aufhält,
Herrmann von Huminoll
verhalten sich unberechenbar.
Für die Rückfahrt wählte der Dacapo die Autobahn. Sein Geschwindigkeitshandicap war ihm dieses Mal egal: Nachdem er endlich den Ausgang aus Storkow gefunden hatte, wollte er nur noch schnell in seine große Stadt zurück. Obwohl er in den ländlichen Weiten der Mark aufgewachsen war, fühlte er sich inzwischen nur noch in dieser einen, bunten Stadt wohl. Die ersten Kilometer auf der Autobahn brachte er ereignislos hinter sich. 'Wenn es so weitergeht, bin ich in wenigen Minuten im BKA-Hauptquartier', träumte er während der Fahrt. Dann würde er sich einen neuen Getränkeautomaten in einem der Gänge suchen und so eine Orangenlimonade kaufen... Etwas Action durfte schon dabei sein, schließlich war noch ausreichend Munition in den beiden, verbliebenen Ersatzmagazinen seiner Pistole. Bei solchen Gedanken verging die Zeit auf der Autobahn schneller.
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In Fahrtrichtung tauchte eine große Anzahl roter Lichter auf. Sie bewegten sich nicht und waren dicht aneinandergereiht. Die rote Leuchtkette wand sich einen sanften Hügel hinauf, gleich einem riesigen Lindwurm. Das Schwanzende der fabelhaften Echse blinkte hektisch in Gelb. Auf der A12 gab es wieder einmal einen Stau zwischen Storkow und Friedersdorf. Das war hier täglich erlebter Normalzustand. Der Dacapo war in Erwartung der großen, bunten Stadt bis zu diesem Zeitpunkt gut gelaunt gewesen. Er hatte das Wissen zu der täglichen Verkehrsbehinderung an dieser neuralgischen Stelle der Autobahn einfach verdrängt. Während der Fahrt summte er leise für sich die Melodie des Liedes der Tambourette. Die Begegnung mit ihr hatte ihn tief berührt und ihr Lied ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Beim Anblick des leuchtenden Drachens, der vor ihm die Straße versperrte, beugte er sich nach vorn und legte das Kinn auf das Lenkrad. Mit zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen fixierte er das Wesen. Der 'Laserblick' funktionierte offensichtlich nicht. Es verschwand nicht, bewegte sich keinen Millimeter. Dafür entschwand seine positive Grundstimmung. Das Summen hatte er bereits vorher schon unterbrochen.
"Stau an Sonntach Abend, auch dat noch!"
Wütend blickte der Dacapo in den Rückspiegel.
"Wenne nich so dämlich jewesen wärst, mir dat Auto klaun zu wolln, wär ick schon wieda inne Stadt", sprach er Tommy mehr als laut an.
Er versuchte den Motor zu übertönen, der sich gerade anstrengte, die gesamte Bewegungsenergie des schweren Wagens zu vernichten. So sehr das alte Herz des Oldtimers sich auch bemühte, der Dacapo musste mit dem Bremspedal nachhelfen. Natürlich kam das Gefährt laut quietschend am Ende des Staus zum Stillstand. Der Motor hatte nun Zeit, sich im Leerlauf blubbernd von den Anstrengungen der letzten Sekunden zu erholen. Unvermittelt riss der Dacapo die Arme nach oben. Jegliche Vorwärtsbewegung in Richtung seines ersehnten Zieles war gestoppt. Es gab keine Möglichkeit, die Autobahn zu verlassen. Er fühlte sich ohnmächtig, ja gefesselt. Das Erheben der Arme streifte die Fesseln ab, zumindest psychologisch half das ein wenig. Seine Stimmung besserte es nicht, da der Leuchtwurm immer noch reglos vor ihm lag.
"Miezi fass!", war ein weiterer Versuch, die Lage wieder in den Griff zu bekommen.
Das half oft. Leider war es in dieser speziellen Situation nur ein verzweifelter Versuch. Natürlich konnte der kleine Hund in Schlangen, Echsen und sonstiges Getier beißen. Aber leuchtende, fantastische Fabeltiere kannte Miezi nicht. Er interpretierte deshalb den Ausruf auf seine Art und biss zum dritten Mal an diesem Abend in die bereits zerrissene Bauchtasche von Tommys Shirt.
"Weg, hör auf. Was soll das?", war der prompte und laute Protest von der Rückbank.
Tommy fühlte sich zum ersten Mal an diesem Abend ungerecht behandelt. Ja, er hatte das Auto entwenden wollen. Ja, er wurde wegen nicht ganz legaler Tätigkeiten gesucht. Ja, er war auf der Flucht. Aber dieser Stau? Den hatte er nun wirklich nicht verursacht. Es fehlte nur noch, dass der schießwütige Gewaltpolizist seine Dienstwaffe zum Einsatz gegen ihn brachte.
Der leuchtende Lindwurm bewegte sich nicht, nicht ein Stück. Ereignislosigkeit, kombiniert mit Bewegungsunfähigkeit, regte den Dacapo schon immer auf. Nichts wirkte beklemmender auf ihn, als die eigene Handlungsunfähigkeit. Zeigte sie ihm doch seine Unzulänglichkeiten und Machtlücken auf. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, mit solchen Situationen umzugehen. Eine ganz eigene Taktik zur Auflösung von situationalen Verklemmungen war dabei entstanden, einfach und wirkungsvoll: Der massive Einsatz von Blaulicht, Sirene und Dienstwaffe löst jedes Problem und räumt alles beiseite.
Über dem Lenkrad glänzte eine Reihe blanker Kippschalter im roten Licht der Rücklichter. Sie waren noch unter der klappbaren Sonnenblende an der Decke der Kanzel angebracht. Bei ihrem Anblick fühlte er sich ganz als Pilot eines Jagdflugzeuges. Mit einer eleganten Bewegung des Zeigefingers klickte sich der Dacapo durch die Reihe der kleinen, blanken Hebelchen. Eines nach dem anderen wechselte die Stellung. Seine Augen leuchteten und die Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, als rund um seien Wagen ein mediales Inferno losbrach. Nacheinander schalteten sich mehrere Sirenen ein. Ihre auf- und abschwellenden Tonfolgen waren natürlich nicht synchronisiert. Das machte den Dopplereffekt noch imposanter. Leider bewegte sich das Auto augenblicklich nicht. Trotzdem war der erzeugte Lärm gewaltig. Einige Meter weiter musste jeder Anwesende zwangsläufig an eine ganze Kohorte von Polizeiwagen denken. Die Blaulichter, die an allen Kanten und Ecken des überblauen Einsatzfahrzeuges aufflammten, taten ein Übriges. Da waren überall Lichter, Lampen und Rundumleuchten montiert. Sogar im Wageninneren, auf den Kopfstützen der Vordersitze, begannen blaue Lampen zu blinken. Nach wenigen Sekunden konnte er davon ausgehen, dass alle zur Bewegungsunfähigkeit verurteilten Fahrer in diesem Stau ihn wahrgenommen hatten. Jetzt fehlte nur noch die befreiende Rettungsgasse. 'Kaliber Halbzoll' brachte die letzten der entscheidungsunfreudigen Fahrer an den Rand der Fahrbahn. Der Dacapo stieß die Fahrertür auf und sprang auf die Straße. Noch im Sprung, bevor beide Beine den Asphalt berührt hatten, griff er sich über die linke Schulter und zog den gewaltigen, brüllenden Wüstenadler aus dem Rückenholster seines Ledermantels. Die schwere Pistole mit dem zehnzölligen Lauf glänzte im Licht der Frontscheinwerfer hinter ihm stehender Wagen. Der Rest war Routine: Zwei Warnschüsse in die Luft und ein dritter Schuss wurde gezielt auf das vor ihm stehende Auto abgegeben. Blaulicht und Sirene hatten die gesamte Aufmerksamkeit der unfreiwillig Versammelten auf ihn gezogen. Der Gebrauch der Waffe überzeugte sie von seinem Durchsetzungswillen. Wie ein sich öffnender Reißverschluss glitten die Wagen auf beiden Spuren auseinander und bildeten eine extra breite Rettungsgasse. Ein Hummer hätte problemlos durch diese fahren können.
Ein Mann - eine Lösung - vorhersehbar wie immer.
Mit einem zufriedenen "Na jeht doch!" schloss der Dacapo die Fahrertür und ließ den Dienstoldtimer durch die Gasse blubbern. Der große Motorblock von 1970 freute sich, dass nicht nur das Lüfterrad kühle Luft auf den Wärmetauscher fächelte. Ein Fahrgast hatte die Situation und deren Lösung immer noch nicht verstanden: Miezi verharrte noch im Fass- und Fluchtverhinderungsmodus. Während der Fahrer wieder freudig das Lied der Tambourette summte, bellte und knurrte der kleine Hund unentwegt den Gefangenen an. Zur Abwechslung zerrte er ab und zu an den verbliebenen Fetzen von dessen Bauchtasche. Tommy war sich nicht ganz schlüssig darüber, wer die größere Gefahr für ihn darstellte: der Hund oder dessen Geheimpolizist. Nach einer kurzen Überlegung kam er zu der praktisch begründeten Einschätzung, dass der Pekinese ihm gefährlich näher war. Außerdem beschäftige den Dacapo das Steuern des schweren Wagens durch die Rettungsgasse. Die Lenkung eines Oldtimers war nicht ganz so präzise, wie die moderner Wagen. Tommy war schließlich Spezialist für diese Autos. Niemand war in der Nähe, der ihn vor dem pelzigen Raubtier retten wollte. Der Dacapo hätte das schon gekonnt - nur machte er gar keine Anstalten dazu. Tommy ergab sich dem Wahnsinn dieser Fahrt und hoffte nur noch auf ein schnelles Ende. Erschöpft fiel er gegen die Rückenlehne und sank in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf.
Wenig später kam der Kopf des leuchtenden Lindwurmes in Sicht. Ein havarierter Lastkraftwagen, beladen mit einer gigantischen Ladung von Pilzen aus den tiefen Wäldern der polnischen Wojewodschaft Lebus, blockierte beide Fahrspuren. Da gab es kein Vorbeikommen. Bei über 50 Kilometern pro Stunde - die breite Rettungsgasse hatte den Dacapo zur fortwährenden Beschleunigung des Dienstwagens verleitet - war ein Bremsversuch aussichtslos. Der schwere Wagen würde mit einer gewaltigen Wucht in die Breitseite des Aufliegers einschlagen, der bis oben mit den Pilzkörben bepackt war. Pilze sind weich, der Unterbau ist jedoch aus Stahl. Dem Dacapo blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Das war so und so nicht sein Ding und wieder nahm die Handlung ihren vorhersehbaren Lauf: Ein kurzes Bremsmanöver, unter Zuhilfenahme der Handbremse, brachte den Wagen quietschend ins Schleudern. Miezi, natürlich wieder nicht angeschnallt, landete an einem der hinteren, dreieckigen Seitenfenster. Der Gefangene wurde unsanft geweckt und sein Gesicht verlor abermals jegliche Farbe. Der Dacapo riss das Lenkrad einmal kurz nach rechts, dann wieder nach links. Dank einer Federung, die für amerikanische Straßenverhältnisse der 70-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts konstruiert war, hoppelte der Oldtimer mit leichten Bocksprüngen über das Grasland neben dem schmalen Standstreifen. Nochmals folgte ein energischer Ruck am Lenkrad nach links und das Fahrzeug befand sich wieder auf der Fahrbahn. Die Fliehkräfte verdrängten Miezi gewaltsam von seinem Fensterplatz. Tommys Bauch bremste den Flug des kleinen Hundes durch die Fahrgastzelle abrupt ab: "Uffffz". Dann dachte der Gefangene nur noch, 'Wenn ich wider alle Wahrscheinlichkeit doch im Gefängnis ankomme, gehe ich zuerst zum Seelsorger und trete bei - die Konfession ist mir ganz egal.'
Vorbei! Der Dacapo trat unvermittelt das Gaspedal gegen das Bodenblech, das überblaue Dienstfahrzeug röhrte und dröhnte tief und laut. Der Wagen wippte noch einmal in seiner altertümlichen Federung und der Stau verlor sich im Dunkel der Nacht hinter ihnen. Die Autobahn vor ihnen war komplett leer - paradiesisch.
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Der Fahrer des havarierten Pilztransporters riss die Augen auf und blickte dem seltsamen Polizeiwagen ungläubig hinterher. Sonst waren in diesem Land alle Behörden so nervig und exakt. Die Beamten in diesem Wagen verhielten sich so, als ob sie aus seiner Heimat wären. Keine zwanzig Minuten später schilderte er das Erlebte der Streife, die zur Aufklärung und Auflösung des Staus erschienen war. Sie befriedigte seine Erwartungshaltung zu 100% und rückte sein Weltbild wieder zurecht. Zuerst notierten die beiden Polizisten jedes seiner Worte und anschließend wurde er zu einem Drogentest abtransportiert. Ordnung musste schließlich sein. Im polizeilichen Unfallbericht war dann die Rede von mehreren Tonnen mit Halluzinogenen verseuchter Pilze und dem aufgedeckten Schmuggelversuch einer gigantischen Ladung von 'magic mushrooms'. Einer der Streifenpolizisten hatte mehrere Körbe der Pilze mitgenommen - natürlich zur exakten Bestimmung des Gehaltes an Halluzinogenen. Da das Labor um diese Uhrzeit bereits geschlossen hatte, führte er dieses Experiment im Selbstversuch aus.
Nach dem Verzehr von etwa zehn Kilogramm mit Zwiebeln angebratener Pilze, stellte sich immer noch kein 'seltsames Gefühl' in seinem Kopf ein. Etwas tiefer dagegen tat sich Absonderliches. Der mutige Experimentator musste in das Krankenhaus gebracht werden. Ihm wurde der Magen ausgepumpt. Zuerst dachte der Notarzt an eine Pilzvergiftung. Auf dem Krankenschein war später jedoch 'Pilzübersättigung' vermerkt worden.