Stufe 5 - So gelingt jedes Brot im Automaten
Auf der fünften Bewusstseinsstufe werden mythische Kräfte frei.
So werden zum Beispiel Haustiere von Begleitern zu gleichberechtigten Gefährten,
mit denen man sich eins-zu-eins unterhalten kann.
Zu dem Brummen hat sich ein lautes Pfeifen gesellt. Heiße Dämpfe jeglicher Art drängen aus dem Automaten. Die Küchenluft ist von Geräuschen, Gerüchen und Alkohol gesättigt und entführt den Dacapo in eine ferne Gedankenwelt. Er steht auf einem weiten, endlos wirkenden Feld und streicht sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Zufrieden und stolz beobachtet er, wie der Wind durch die Blätter der Pflanzen streicht, die um ihn herum stehen - seinen Pflanzen. Sehr viele davon bedecken den Boden mit einem in leichten Wellen schwankenden, dunkelgrünen Teppich. Zwischen den saftigen Blättern werden bei deren Bewegung kleine, rotbraune Verfärbungen sichtbar. Sie lassen das gesamte Bild noch viel angenehmer erscheinen. Er bückt sich nach einem dieser Farbpunkte zu seinen Füßen und greift ein großes, orangefarbenes Kastenbrot. Vorsichtig drehend entfernt er die Brotfrucht von der Pflanze und legt es in den Bollerwagen, der hinter ihm steht. Dort sind bereits viele Brote aufgeschichtet, die verführerisch nach warmen Orangen durften. Die viele Arbeit der letzten Monate hat sich ausgezahlt: Er erntet nun das, was er gesät hat und isst zukünftig sein eigenes Brot! Unweit von ihm führen zwei armdicke Kabel in den Boden. In einem kurzen Bogen hängen sie vom Hochspannungsmast daneben herab. An ihm endet die Überlandleitung. Sein gesamtes Feld ist ein riesiger Automat, der Orangenbrote elektrisch wachsen lässt. Der Dacapo kann direkt fühlen, wie der Boden Wasser, Luft, Sonnenstrahlen und elektrische Energie gierig aufnimmt und transformiert.
Aus der Mitte zwischen den zwei dicken Kabeln springt ihm Miezi entgegen und läuft bellend auf ihn zu. Das kleine Tier ist bereits einige Jahre sein treuer Begleiter und inzwischen gleichberechtigter Gefährte und Partner in der geheimen Ermittlungsarbeit - natürlich nur, wenn er nicht auf seinem herrlichen Brotfeld arbeitet. Dankbarkeit durchflutet ihn beim Anblick des Hundes. Es wird Zeit, dass sein Begleiter einen Dienstausweis und eigene Pistole bekommt. Schließlich ist er ein Polizeitier ...
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Zur gleichen Zeit bewegt sich eine grau gekleidete Gestalt im freien Fall an der Außenwand des Wohnblocks von oben nach unten. Die Erdbeschleunigung nutzend, kommt sie schnell auf Geschwindigkeit. Schließlich bremst sie nur die Luft. Während des Falls geht der rocket snatch in Gedanken seinen Plan noch einmal durch - das dauert nur Millisekunden, sein Bewusstsein arbeitet auf Hochtouren:
Das ist der Plan und er ist perfekt, ja geradezu wahnsinnig perfekt!
Für die hoffentlich anwesenden Journalisten muss alles gut aussehen und sehr eindrucksvoll wirken. Schließlich möchte er, dass morgen die gesamte Stadt über ihn spricht. Heute erarbeitet er sich Namen und Anerkennung als bedeutendster, technologischer Superschurke der großen, bunten Stadt.
Zwei Themen hat der rocket snatch bisher nicht in seine Überlegungen einbezogen. Eines hält er für unwesentlich und das andere ist ihm noch nicht bewusst geworden. Er hat sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was er aus der Wohnung mitnehmen soll, schließlich kennt er sein Opfer nicht. Er besitzt keinerlei Informationen über dessen Vermögensverhältnisse und Besitztümer. Daraus folgt natürlich, dass ihm der Käufer des Brotbackautomaten unbekannt ist, den er berauben möchte. Was erachtet dieser als wertvoll? Was wird er in der Wohnung vorfinden? Was lohnt sich zu stehlen? Dies wird zu einem ernsthaften Problem werden, da dem Dacapo einzig und allein der Erhalt der öffentlichen Ordnung wichtig ist. Für ihn haben materiellen Güter keine Bedeutung. Folglich befinden sich auch keine ’Wertgegenstände’ in seiner Wohnung, ja nicht einmal in seinem Besitz.
Ungewissheit ficht den rocket snatch nicht an. Fehlende Fakten stören ihn nicht bei der Verwirklichung seiner Pläne. Schließlich ist er auf dem Weg, der bekannteste, postfaktische Superschurke der großen Stadt zu werden. Jetzt fällt er neben einem Zehngeschosser in die Tiefe und die gesamte Aktion entwickelt sich aus seiner Sicht prächtig. Die breiten Bänder, die er auf seinem Rücken befestigte, folgen ihm auf seinem Weg. Wie lange, weiße Fahnen knattern sie über ihm im Wind, bremsen seinen Fall und sorgen dafür, dass er sich mit dem Bauch nach unten bewegt. An seiner Unterseite grummelt das Feuer im Blechkasten, bereit für das Bremsmanöver. Beim Übergang von der achten zur siebenten Etage ist es an der Zeit, dieses einzuleiten. Mit einem kräftigen Ruck zieht der rocket snatch an einer dünnen Leine, die in den Feuerkasten führt. An ihrem Ende wird ein Sicherungssplint herausgezogen. Das kleine Stück Metall hielt bisher ein Ventil geschlossen. Schlagartig und ungehindert strömt nun eine große Menge Gas in die sechs Brennkammern und unter ihm schlagen gelbe Flammenzungen heiß und weit in die Tiefe. Ihre Kraft fängt den Fall des rocket snatch ab. Er bremst zügig und weich vor einem Fenster der siebenten Etage des Wohnblocks. Mit beiden Händen greift er fest um das Kletterseil und schwingt sich in Richtung des erleuchteten Fensters.
”Jaaaaah! - Nichts widersteht dem rocket snatch!”
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Der Dacapo schwebt sanft in seiner alternativen Realität. Am Rande des großen Orangenbrotfeldes bindet er mit einer zeremoniellen Geste seinem Partner die ’Dienstwaffe für Polizeitiere’ um. Ein breiter Gürtel hält auf Miezis Rücken einen Kasten, in dessen Vorderseite ein Rohr steckt, das über den Kopf des Tieres zeigt. Der kleine Hund sieht nun wie ein Spielzeugpanzer aus, dem ein Fellkostüm übergestreift wurde. Nur der Geschützturm mit der Lafette ragt aus dem zotteligen Plüsch heraus. Gerade als Miezi sich stolz bellend auf die Hinterbeine stellt, stört ein tiefes, sonores Brummen die festliche Szene. Es dringt immer lauter in die Gedankenwelt des Dacapo und verwirrt diese. Anfänglich glaubt er, dass der Boden des Feldes schwingt und das bedrohliche Geräusch erzeugt, er meint sogar, ein leichtes Beben zu spüren. Doch allmählich holt der amoklaufende Brotbackautomat ihn aus seinem alkoholnebeligen Tagtraum zurück in die Realität der Küche. Schließlich nimmt er das Gerät wieder wahr, aus dem inzwischen nicht nur Dämpfe dringen, sondern auch eine braune, klebrige Masse quillt. Sie verteilt sich bereits als großer, glibberiger Fleck über mehr als ein Viertel der Tischplatte. Noch leicht entrückt, versucht der Dacapo den Automaten mithilfe seiner neu erlangten, mentalen Energie zu beeinflussen und auszuschalten. So sehr er sich jedoch anstrengt, den Blutdruck in seinem Kopf steigert und das Gerät anstarrt, es arbeitet einfach weiter. In dessen Innerem bilden sich große Gasblasen, die nach außen drängen. Jede von ihnen die platzt, lässt den Deckel gespenstisch für einige Zentimeter aufklappen. Das Brummen wird durch ein unrhythmisches Klappern verstärkt. Dem Dacapo gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, sitzt Miezi schwankend und fixiert das Gerät mit starrem Blick. Alkoholisierte Luft scheint dem kleinen Tier noch weniger zu bekommen, als dem mächtigen Geheimpolizisten. In dem Augenblick, als sich fauchend und blubbernd eine besonders große Menge Gas einen Weg aus dem Automaten in die Luft der Küche bahnt, erschrickt Miezi. Schnell aufgerichtet, schwankt der Hund stark zur Seite, verliert das Gleichgewicht und fällt vom Tisch. Ohne eine Regung schlägt der kleine Körper dumpf auf den Fußboden. Das Geräusch des Aufpralls dringt zwar nicht durch das Brummen, Klappern, Fauchen und Zischen zum Dacapo, der Absturzes leitet jedoch eine Katastrophe ein. Das Tierchen landet auf dem Fußschalter einer Stehlampe, die der Dacapo an den Küchentisch gestellt hat. Es handelt sich dabei um eines der sehr preiswerten Exemplare aus dem Fernen Osten. Den Handel auf der Seidenstraße hat es zwar nicht mehr miterlebt, trotzdem fehlt ihm alles, was nicht unbedingt für die Erzeugung von Licht notwendig ist. In einigen Regionen dieser Welt werden Entstörkondensatoren durchaus als Luxus verstanden. Somit werden solche Preistreiber auch nur in Luxusgegenständen verbaut. Nun, unabhängig vom wahren Grund, die Stehlampe besitzt keinen. Miezi fällt auf den Schalter, der schließt den Stromkreis und noch bevor Licht aus dem Lampenschirm auf den Tisch fällt, springt ein Funke im Schalter über. Kein Kondensator verhindert dies. Die Alkoholkonzentration in der Luft der Küche hat längst die Schwelle zum explosiven Gemisch überschritten. Es wird kurz hell in dem kleinen Zimmer, jedoch nicht durch die Stehlampe. Exakt in dem Augenblick, als sich dem Küchenfenster von außen sechs in einem hellen Gelb glühende Punkte nähern, übertönt der dumpfe Knall einer Explosion alle anderen Geräusche. Der Dacapo wird mitsamt dem Stuhl umgeworfen, Gläser und Teller fliegen durch den Raum und zerschellen an den Wänden. Das Fensterglas kann dem Druck nicht standhalten, wird nach außen gedrückt und strebt in Form von tausenden Splittern in die Nachtluft davon. Die mit Gewalt in die Freiheit der großen, bunten Stadt strömende Luft verhindert nicht, dass sich eine graue Gestalt in das Zimmer schwingt. Die Anwesenden können das Blubbern der Gasflammen im Metallkasten nicht hören, der auf Bauch und Brust des rocket snatch geschnallt ist. In ihren Ohren hallt noch der Explosionsknall nach.
Während Miezi und der Dacapo benommen an die Decke starren und sie langsam versuchen, wieder in eine aufrechte Position zu kommen, sieht sich der graue Besucher in der Küche um. Chaos und Zerstörung prägen das Bild. Überall liegen Splitter und Scherben, auf dem Küchentisch brennt ein nicht zu identifizierendes Gerät, beißender Rauch breitet sich im Raum aus und die Luft riecht trotz des fehlenden Fensters unerträglich.
”Puh, das stinkt wie im Bärenzwinger. Upps - habe ich das kaputtgemacht?”, spricht er leise und fügt in Gedanken stolz hinzu: 'Und bin ich nicht ein gewaltig zerstörerischer Schurke?'
All das zusammengenommen, sieht die Küche nicht besonders einladend und gar nicht werthaltig aus. Enttäuscht stellt der rocket snatch fest, dass es hier nichts gibt, das sich zu stehlen lohnt. Ein Hineinsteigern in diese Erkenntnis ist ihm nicht möglich, da in dem kleinen Hund der Helferinstinkt erwacht. Die Lage ist nicht gerade übersichtlich und der Alkohol stellt in Miezis Hirn viele, seltsame Verschaltungen der Nervenstränge her. Sein Fütterer wird offensichtlich angegriffen. Mit einem mutigen Anfall von Wahnsinn springt das kleine Fellknäuel auf den rocket snatch zu. Dank des eingeatmeten Nervengiftes verfehlt es diesen um wenige Zentimeter. Bei ungehinderter Fortsetzung seiner Flug- oder Sprungbahn wird Miezi mit hoher Wahrscheinlichkeit den Splittern des Fensterglases folgen und in die bodenlose Freiheit der Nachtluft springen. Auch angehende Superschurken habe irgendeine Erziehung in ihrer Kindheit genossen und ein Herz für Tiere entwickelt. Instinktiv greift der rocket snatch nach dem kleinen Hund, der ohne seine Hilfe aus der siebenten Etage des Wohnhauses stürzen würde. Zusammen mit Miezi trifft ihn eine Idee wie ein Blitz: Der Hund ist ein Wert, den es sich zu stehlen lohnt! Damit hat er, ohne sich geistig zu verausgaben, ein Problem gelöst. Die Lösung ist ihm sozusagen zugeflogen.
“Na geht doch!“, seine Beute fest umklammert haltend, dreht er sich um, hastet auf das Fenster zu, greift nach dem Seil und kippt sich kopfüber in die dunkle, endlose Tiefe.
Dem Dacapo, der sich inzwischen auch aufgerichtet hat, bleibt nichts weiter übrig, als das gesamte Ausmaß des Desasters zur Kenntnis zu nehmen. Sein Gefährte, dem er als Auszeichnung gerade noch eine eigene Dienstwaffe übergeben wollte, ist von einem Ganoven entführt worden. Dieser wahnsinnige Verbrecher hat ihm vorher einen Garantieschein entwendet und ihn im Omnibus verfolgt. Die Entführung fand in SEINER Wohnung statt. Es ist IHM geschehen, dem Dacapo, dem mächtigen Geheimpolizisten! Wutentbrannt stolpert er zum Küchentisch. Er greift sich den immer noch qualmenden Brotbackautomaten und wirft das nun nutzlose, heiße Gerät dem grauen Eindringling hinterher - in die endlose Weite der Abendluft der großen, bunten Stadt. Sie nimmt dies genauso gelassen entgegen, wie zuvor Glassplitter, warme Dämpfe und den rocket snatch. Das zerstörte Gerät beendet sein kurzes Gastspiel in der Wohnung des Dacapo und fällt lautlos in die Tiefe.
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Die lautstarken und leuchtenden Ereignisse in der siebenten Etage des Wohnblocks bleiben auf der Straße vor dem Haus nicht unentdeckt. Sie halten mehrere Passanten von ihrem Heimweg ab. Köpfe werden in den Nacken gelegt und interessiert blickt eine wachsende Gruppe von Beobachtern in die Höhe. Gebannt verfolgen sie das ungewöhnliche Geschehen. Solche Unterhaltung findet man hier nun einmal nicht jeden Tag. Dort, wo aus einem geborstenen Fenster Rauch entweicht, springt ein Mensch in die Kälte der Nacht und fällt in die Tiefe. Entweder möchte er sich vor einem Wohnungsbrand retten oder er ist einfach nur wahnsinnig.
Die langen Stoffbänder entfalten sich über dem Rücken des rocket snatch. Knarrend flattern sie hinter ihm durch die Luft, zerren an seinem grauen Anzug und halten ihn in Position. Zufrieden mit dem bisherigen Verlauf seiner Aktion stürzt er mit dem Gesicht voran dem schwach beleuchteten Boden entgegen. All seine Sinne sind auf den Augenblick fixiert, er genießt den Rausch des freien, ungebremsten Falls. Rasch und leicht läuft das Kletterseil durch die linke Hand und in der Beuge des rechten Armes hält er seine Beute. Der kleine Hund ist schlagartig ausgenüchtert und zappelt wild. Das Tier ist mit dem Verlauf des Fenstersprungs und erst recht mit dem Ziel, dem sie so schnell entgegenstreben, gar nicht zufrieden. Viel zu schnell vollzieht sich der Wechsel vom Vollrausch zum letzten Abenteuer seines Lebens. Miezi wählt ’die Flucht’ als Ausweg aus dem Dilemma. Doch will sie ihm nicht gelingen. Sein Entführer hat inzwischen andere Sorgen. Ebenso schnell, wie sich ihm die Straße nähert, schießt dem rocket snatch ein Gedanke durchs Hirn: Er hat ein weiteres Problem außer Acht gelassen. Wie und womit soll er das vor seinen Bauch geschnallte Triebwerk zünden? Der heiße Gasstrahl aus den sechs Brennkammern soll seinen Fall bremsen und ihn sanft auf dem Boden absetzen - soll ... doch ohne Zündung kein Bremsstrahl, kein Gegenschub! Im Augenblick hat er keine Hand für einen Zug am Zündseil frei! Vor einem Augenblick noch von Zufriedenheit durchströmt, breitet sich plötzlich eine kräftige Panik in ihm aus, während er die Fassade vor der vierten Etage passiert. Mit einem randvollen Gastank auf dem Bauch und Brennkammern, die im Standby glühen, in denen bereits das Feuer des Verderbens lodert, wird er auf dem alten Beton eines Parkplatzes zerschellen. Er wird in einer gewaltigen Explosion enden. Instinktiv versucht er dem Schreckensbild zu entkommen, das sein panisches Hirn ihm malt. Mit einem kräftigen Ruck umschließt seine linke Hand fest das Kletterseil. Er legt alle Kraft, die er aufbringen kann, in diesen Griff und sein Fall beginnt sich zu verlangsamen. Die starke Reibung des synthetischen Seils an seinen grauen Handschuhen erhitzt diese sofort und lässt den dünnen Stoff schmelzen. Ein stechender Schmerz kommt zur Panik hinzu, die ins Unermessliche wächst, da er spürt, dass die Aktion ihn nicht vor dem Aufschlag retten wird. Gleichzeitig bringt die einseitige Energievernichtung den rocket snatch aus dem Gleichgewicht. Die Stoffbänder an seinem Rücken können ihn nicht mehr in seiner Position halten. Er rollt in der Luft, die Bänder beginnen sich um ihn zu wickeln: Die nächste Panikstufe ist erreicht! Ohne auch nur in Ansätzen an die Folgen zu denken, lässt er das Kletterseil los und zieht mit der linken Hand das Zündseil aus dem Blechkasten. Ein lauter Knall zerreißt die Luft und rollt zwischen den Häusern hin und her. Gelbe Stichflammen schießen aus den sechs Brennkammern und entzünden die Bänder, die sich inzwischen um den rocket snatch gewickelt haben. Er verwandelt sich in einen rotierenden Feuerspeier und bietet den Schaulustigen auf der Straße ein einmaliges Erlebnis, besser als jedes große Feuerwerk. In einem wahnsinnigen Stunt trudelt ein offensichtlich lebensmüder Artist zehn Stockwerke in die Tiefe, malt leuchtende Spiralen in die Luft und hinterlässt einen Schweif aus verglimmenden Stoffteilchen auf seinem Weg. Diese werden vom Wind erfasst und bewegen sich wie ein großer Schwarm Glühwürmchen durch die Nacht.
”Ohhh - ahhh!”, in der Bewertung der Darbietung sind sich alle einig.
Der rocket snatch selbst bildet die einzige Ausnahme unter den Anwesenden. Hundertprozentiges Adrenalin pulsiert durch seine Adern, die Augen hat er weit aufgerissen. Sie formen das Gesicht zu einer Maske des Schreckens. Er ist sich sicher: Binnen weniger Sekundenbruchteile zerreißt sein Lebensfaden. Das Ende ist nicht mehr abzuwenden, der Traum vom ’technologischen Superschurken’ ist ausgeträumt.
Im letzten Augenblick, direkt vor den Fenstern der ersten Etage, öffnet das Schicksal einen Ausweg aus der schrecklichen und scheinbar endgültigen Situation. Die Stoffbänder sind vollständig verbrannt und die grellen Stichflammen, die immer noch aus den Brennkammern schlagen, stoppen die Rotation. Wie durch ein Wunder richtet sich der Strom heißen Plasmas auf den Beton des Parkplatzes. Den Straßenstaub der vergangenen, trockenen Frühlingstage aufwirbelnd, bremsen die Flammen den Fall des rocket snatch. Wie ein UFO aus einem billigen science fiction Film schwebt er in Bauchhöhe. Die Rettung kommt nicht nur wegen dem drohenden Aufschlag gerade noch rechtzeitig. Mit einer ohrenbetäubend lauten Verpuffung verabschiedet sich das letzte Gas aus Tank und Brennkammern. Die Flammen auf dem Bauch des rocket snatch verlöschen röchelnd und er stürzt dann doch noch zu Boden - aus sechzig Zentimetern Höhe.
”Au! - Da besteht noch ein dringender Optimierungsbedarf.”
Während er sich aufrichtet, betrachtet er den kleinen Hund, den er immer noch fest in seinem rechten Arm hält. Das Tier ist starr vor Entsetzen, streckt Kopf, Beine und Schwanz von sich. Es sieht aufgeplustert aus, jedes einzelne Haar ist ebenfalls geglättet und steht ab. Außerdem sind einige der schwarzen Flecken verschwunden. Der Sturz hat Miezi sichtlich gebleicht.
”Geht doch! Wo ein Schurke ist, da ist auch ein Weg”, stellt der rocket snatch mit einem zufriedenen Blick auf seine Beute fest.
Diese Genugtuung kann er nicht lange auskosten. Nach zwei Schritten auf die staunende Menge zu, ist über ihm ein leises Pfeifen zu hören. Noch bevor er sich nach dem Geräusch umsehen kann, trifft ihn ein schwarzer Kasten am Kopf und poltert blechern hohl. Das Artefakt fällt auf den Beton und rollt unter einen der Büsche, die den Parkplatz begrenzen. Dem rocket snatch geht praktisch das Licht aus. Es wird dunkel in seinem Kopf, er fällt steif zur Seite und bleibt reglos auf dem Parkplatz liegen.
Ist dies das erfolglose Ende eines groß angelegten Coups?