Rußige Leere

Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.

Friedrich Nietzsche

Sonntagabend in einer ausgebrannten Wohnung: Attila hatte den totalen Durchhänger - er war allein, seit Wochen allein. Zuerst waren die Medien hinter ihm her, jetzt flüchtete er vor Gläubigern, Wahnsinnigen und dem organisierten Verbrechen. War hier noch eine Steigerung möglich? Er stand vor einem der zerborstenen Fenster der Küche. Der Rahmen war rußig, fleckig, fast durchgehend schwarz. Links hing der Flügel außen vor der Wand. Nur noch das untere Scharnier war mit dem Rahmen verbunden, das obere war aus dem Holz gerissen. Vom Glas waren nur noch Reste vorhanden, die der Kitt vor der Wucht der Gasverpuffung zurückgehalten hatte. Deprimiert und entmutigt starrte Attila nun schon über eine halbe Stunde auf die Straße, ohne sich zu rühren. Seine Gedanken umkreisten ununterbrochen ein schwarzes Ideen-Loch: Wie sollte es weiter gehen? So wie an allen Sonntagabenden war die Straße ruhig und menschenleer. Alle Anwohner saßen beim Abendessen oder ließen sich von einem der Fernsehprogramme mit sehenswertem Unsinn unterhalten. Die unendlich tiefe Ereignislosigkeit des Anblicks beruhigte Attila. Er fühlte, wie der Spannungszustand der letzten Stunden und Tage langsam seinen Körper verließ. Eine Idee bezüglich der näheren Zukunft stellte sich war nach wie vor nicht ein, er fühlte sich aber sicherer.

Von einem Augenblick auf den nächsten wurde die Straße lebendig. Mehr noch: sie quoll plötzlich vor Bewegung, Licht und Geräuschen über. Ein amerikanischer Oldtimer war mit stark überhöhter Geschwindigkeit erschienen. Zur Verringerung der Geschwindigkeit schien der Fahrer die Handbremse genutzt zu haben. Das Gefährt blieb ruckartig stehen und vollführte auf der Stelle eine 180-Grad-Kehre unter lautem Quietschen. Der überblaue Einsatzwagen war mit leuchtenden, blauen Buckeln übersät, deren Licht die Wände der Nachbarhäuser nervös aufglühen ließ. Mehrere Sirenen quäkten unerträglich - sogar im Innenraum des Wagens schienen die apokalyptischen Tonsalven zu wüten. Attila wurde aus seiner Meditation gerissen und zuckte erschrocken zusammen. Automatisch spannten sich seine Muskeln wieder und er tat einen Sprung zurück in die sichere Mitte der Küche. Hier wurde er zum Glück nicht mehr durch Tisch und Stühle behindert oder gar zu Fall gebracht - die Möbel waren vorsorglich verbrannt. Das fürsorgliche Löschwasser hatte die Asche aus dem Raum gespült. Attila war also sorglos und konnte auch nicht ausgleiten. Zusätzlich hatte er weiterhin einen ungehinderten Blick auf das Geschehen vor dem Haus.

Der Dacapo hatte seinen Einsatzort erreicht. Jetzt hieß es, schnell zu sein, um das Überraschungsmoment zu nutzen und die Verbrecher dingfest machen zu können. Er rammte sich zwei übergroße Wattestöpsel in die Ohren: Sicher war sicher, denn mit einem Schalltrauma nach dem Einsatz der Dienstwaffe war nicht zu spaßen. Und er würde die Waffe nutzen, deshalb war er hier. Er zog einen dunkelbraunen Nylon-Strumpf über den Kopf. Die Hornbrille mit dem breiten Rahmen, die er trug, zeichnete sich deutlich ab, ebenso wie die Ohrstöpsel. Miezi hatte sich, wie immer bei solchen Manövern, in eine Seitentasche des großen, weiten Ledermantels gerettet, den der Dacapo trug.

"Drei, Zwo, Einsatz!"

Die Fahrertür wurde aufgerissen und ein von blauen Lichtblitzen erleuchtetes Wesen, dass eine Kreuzung zwischen dem 'Frankenstein-Monster' und dem 'Frosch mit Maske' aus klassischen Filmen zu sein schien, sprang auf den Gehweg. Auf dem kurzen Sprint zur Eingangstür des Hauses, wuchtete der Dacapo seine Dienstwaffe, den brüllenden Wüstenadler, aus ihrem Holster, das auf seinem Rücken in den Ledermantel gearbeitet ist. Die Pistole mit dem gewaltigen, halbzölligen Kaliber hatte einen auf zehn Zoll verlängerten Lauf und wog über zwei Kilogramm. Die blauen Lichtreflexe der Signalleuchten des Wagens setzten das glänzende Schießeisen mächtig in Szene. Während der Dacapo die Waffe in Angriffsposition balancierte und durch die geöffnete Haustür sprang, flatterten die Schöße seines langen, schwarzen Ledermantels hinter ihm her. Sie schlugen laut und trocken klatschend aneinander. Attila, der an das Fenster getreten war, hatte jede Bewegung des Besuchers beobachtet. Er konnte die beängstigende Vorstellung von einem aus Leichenteilen zusammengesetzten Vampir-Frosch nicht aus seinem Kopf verdrängen. Sie hatte sich rasend schnell dort entwickelt und bis in den letzten Winkel festgesetzt. Alle Ruhe, die er noch vor wenigen Minuten verspürt hatte, hatte ihn längst verlassen und einer Aufregung platz gemacht, die gefährlich mit Angst und Panik gemischt war. Er überließ sich vollständig seinen paranoiden Instinkten und hastete aus der Wohnung. Keine Tür hielt ihn auf - dieses Hemmniss war vor einigen Tagen dem Feuer zum Opfer gefallen. So konnte er den Dachboden erreichen, bevor der Dacapo die Wohnung betrat. Attila war jetzt auf der Flucht vor der Flucht aus der Flucht.

Mit vorgehaltener Waffe stürmte der mächtige und gewaltige Geheimdienst-Polizist in den rußgeschwärzten Flur. Vorsichtshalber und zielgerichtet platzierte er zwei Warnschüsse. Krachend und laut lösten diese sich schnell hintereinander. Der Knall, den die halbzöllige Munition erzeugte, rollte noch Sekunden später durch die Wohnung, die das Feuer vor wenigen Tagen komplett beräumt hatte. Es gab keine Vorhänge, oder andere, lästige Einrichtungsgegenstände mehr, die den Schall hätten dämpfen können. Das Fehlen von Türen verband alle Räume zu einem gemeinsamen, großen Resonanzkörper. 'Toller Sound...', fuhr es dem Dacapo durch den Kopf, als der Knall und dessen Nachhall mehrfach seine bedämpften Ohren passierte. Er polterte dem Schall hinterher. Die Enden des langen, geöffneten Ledermantels flatterten hinter ihm her und die großen, aufgenähten Schulterstücke glimmten in einem intensiven Blau. Sie beleuchteten den Frosch-Frankensteinmonster-Strumpfmasken-Kopf von unten mit einem fahlen, kalten Schein. Es war das einzige Licht in dem dunklen Flur - gewaltig gespenstisch. Jeder Betrachter hätte unwillkürlich an einen Angriff Außerirdischer gedacht. Da niemand anwesend war, blieb Storkow die Massenpanik an diesem Sonntagabend erspart. Der Dacapo war in seinem Element: Einsatz, schnelle Entscheidungen, Gebrauch der Dienstwaffe, Staatsgewalt ausleben... Seine Freude währte jedoch nur kurz. Als er die Küche erreichte, von der aus er sein blinkendes und orgelndes Auto sehen konnte, traf ihn die Enttäuschung wie ein mächtiger Schlag. Mit "So'n Mist: alles schon kaputt!", drückte er laut und unwillkürlich seine Meinung aus. Etwas später folgte ein leises und deprimiertes "Für mich jibt's hier nichts mehr zu tun - äh, na - übrig."

Der Dacapo lehnte sich in den Rahmen des zerborstenen Fensters und starrte auf die Straße. Genau am gleichen Ort war vor wenigen Minuten noch ein Mann in einem verschmutzten Bademantel zu sehen gewesen. Jetzt stand ein nicht irdisch wirkendes Wesen dort. Beide verband die verträumt-deprimierte Betrachtung der Straße. Zufällig befanden sich beide Männer in unterschiedlichen Etagen übereinander und sahen gleichzeitig und deprimiert auf die Straße. Der Dacapo sah durch ein zerstörtes Küchenfenster und Attila durch ein altes, dreckiges Dachfenster. An die Balken der Gaube des Dachstuhls gelehnt, sinnierte er den vergangenen Tagen, Chancen und Problemen hinterher. Die Zukunft hatte er vollständig ausgeblendet, um den Schmerz der Leere nicht zu spüren, der mit jedem Gedanken an die kommenden Tage verbunden war.

Auf der Straße tat sich wieder etwas. Eine dunkel und unauffällig gekleidete Gestalt machte sich an der Fahrertür des immer noch Licht und Ton speienden Einsatzwagens zu schaffen. Sie trug ein dunkles Kapuzen-Shirt. Natürlich war die Kapuze über den Kopf gezogen. Trotz des aus mehreren Leuchten rhythmisch ausgestoßenen, grellen Blaulichtes, waren keine Einzelheiten zu erkennen. Die Tarnung der Persönlichkeit schien zu den Fachkenntnissen und Fertigkeiten des Türöffners zu gehören, der versuchte mit einem langen, geraden Draht den Schließmechanismus des Oldtimers zu überlisten. Da das historische Gefährt wenig Widerstand bot, war mit einem zügigen Abschluss der Aktion zu rechnen. Die Stimmung des Dacapo wechselte in Sekundensprüngen von Depression über Erstaunen zu Entsetzen und dann zu Wut. Das war der Zustand, den er ganz besonders liebte und auslebte - wegen dem 'Danach'. Nein, er war nicht auf Versöhnung nach einem Gefühlsausbruch aus. Er war regelrecht süchtig nach der mächtigen Ruhe, der tiefen Stille, die jedem seiner Wutanfälle folgte. Die lang andauernde, andächtige Erschütterung und abgründige Verunsicherung seiner Umgebung faszinierte ihn immer wieder neu.

"Jetz reicht's mich aber jewaltich! Der kennt mir wohl nich..."

Mit diesem Ausruf stürzte er aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Die allmächtige Waffe, die er immer noch in der rechten Hand hielt, brachte er wieder vor sich in Schussposition und sprang durch die offene Haustür auf die Straße.

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Beim Anblick des sich schnell bewegenden Dacapos zuckte Attila abermals zusammen. Diesmal war es hinter dem Dachfenster und er sprang kurz rückwärts in die schützende Dunkelheit des Dachbodens hinein. In den Schrecken mischte sich Freude: Die außerirdische Polizeistreife schien das Haus zu verlassen. Die Sorgen blieben im Haus - 'Mein Gott! Vor wem muss ich noch flüchten?'. Alle Behörden und Verbrecher des Universums schienen seiner habhaft werden zu wollen. Dabei war aus dem von ihm geplanten, großen Coup doch gar nichts geworden. Einen wirklichen Schaden hatten nur einige zwielichtige Gestalten zu beklagen. Die würden das Geld, das er sich von ihnen geliehen hatte, nie zurück bekommen.