Berlin am Abend

Berlin ist eben keine Stadt,
sondern ein trauriger Notbehelf,
Berlin ist ein Konglomerat von Kalamitäten.

Frank Wedekind

Im Berliner Hauptquartier des Polizeigeheimdienstes war der seltsame überblaue Einsatzwagen bestens bekannt. Fuhr er auf den Hof, war niemand zu sehen. Niemand unter den Beamten wollte Erfahrungen mit der unorthodoxen Fahrweise des Dacapo sammeln. Dass die Lenkung des alten Wagens etwas höhere Toleranzgrenzen hatte, als die der modernen Autos, war noch verständlich. Die entsprechenden Auswirkungen konnte jeder kalkulieren und wenige Zentimeter mehr Abstand halten. Das Fahrverhalten des Dacapo war jedoch komplett unkalkulierbar. Er tat nicht nur was er wollte, auch fuhr er, wie es ihm gerade passte. Gegen das Regelwerk der Straßenverkehrsordnung setzte er erfolgreich Blaulicht, Sirene und Dienstwaffe ein. Sein Verhalten war zwar chaotisch, wegen der sich ständig wiederholenden Grundmuster aber auch komplett vorhersehbar. So war es in all seinen Dienstjahren nie zu einem ernsthaften Problem oder gar Unfall gekommen. Vorsicht war nicht nur die Mutter der Porzellankiste, sondern auch das Fundament des Überlebens - ganz besonders in einem unkontrollierbaren Geheimdienst.

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Heulende Sirenen näherten sich dem großen Rolltor, das die Außenwelt und die Behörde teilte. Ihre Schallwellen überlagerten sich ständig neu. Es war, als ob sie sich in einem Wettlauf befanden, aber nie wirklich ihr Ziel erreichten. Die Interferenzen zwischen ihnen und der Dopplereffekt, ließen alle Hunde der Umgebung nervös werden und in das Heulen einstimmen. Ein tonaler Tsunami wälzte sich durch die Allee entlang des Treptower Parks. Der Dienstwagen des Dacapo schob diese gewaltige Welle an Tönen vor sich her. Eine Frau verließ den Bahnhof Treptow und versuchte die Straße in Richtung des überdimensionalen Glasturms zu überquerten, der dort seit einigen Jahren das Stadtbild störte. Ihre Kleidung war englisch-konservativ. Von den Schuhen bis zum Hut sah sie der britischen Königin sehr ähnlich. Sie mochte fünfzehn Jahre jünger sein. Haltung und Aussehen waren pures Understatement und zwangen jeden unwillkürlich zu Abstand und Zurückhaltung. Auf der großen Kreuzung war sie jedoch ganz allein. Es gab keine Passanten, die versuchten, ihr auszuweichen. Als sie den Überweg betrat, wurden blaue Lichtblitze auf die von den Straßenlaternen schwach erleuchtete Straße geschleudert. Sie trafen auf den trockenen Asphalt und versickerten dort. Es war, als ob er sie aufsaugen würde: Das blaue Licht wurde bei der Berührung des Straßenbelages dunkler, blasser und verschwand. Die Frau blickte sich vorsichtig und majestätisch-langsam nach der Quelle der blauen Strahlen um. Nicht dass sie ein Ufo oder ähnliches erwartet hätte. An solch seltsame Dinge verschwendete sie keine Gedanken und die Polizei hatte in der Großstadt tägliche, nahezu regelmäßige Auftritte. Blaue Rundumleuchten waren eine normale Erscheinung. Nur dieses Übermaß an unterschiedlichen Blautönen und unklaren Bewegungen war verwirrend anders. Es widersprach der täglichen Erfahrung eines Großstädters mit der Ordnungsmacht. Als die ersten Ausläufer der Welle aus Heultönen sie erreichten, stutzte sie und blieb mitten auf dem Überweg stehen. Dann überrollte sie die Flut der heulenden Laute förmlich. Die Frau stand auf dem Überweg, ohne jegliche Bewegung. So verharrte sie für mehrere Sekunden, bis sich ihre Erstarrung plötzlich löste. Noch war die Quelle der medialen Unruhe nicht auf der Kreuzung erschienen. Trotzdem blickte sie sich hilfesuchend um. Jegliches pseudoroyale Verhalten war von ihr gewichen. Mit einem Male drehte sie sich schnell um und lief zügig den Weg zurück, den sie zuvor vornehm erschritten hatte. Sie drückte sich in das Dunkel des Bahnhofsausganges und beobachtete aufmerksam Straße und Kreuzung. Einer Abdeckung der Kanalisation entströmte ein weißer Nebel. Der Dunst der warmen Abwässer drängte sich durch die schmalen Schlitze des gusseisernen Deckels und blieb als Wolke direkt über dem Bürgersteig stehen. Die blauen Lichtblitze ließen sie wie einen hektisch pulsierenden Wattebausch von menschlicher Größe aussehen.

Mit einem Mal überschlugen sich die Ereignisse auf der Kreuzung. Der Ausgangspunkt von Sirenengeheul und Blaublitzen fuhr auf die Kreuzung, ignorierte die Sperrung dieser durch die Ampel und bog nach links ab. Erschrocken hatte sich die Frau noch weiter in die Unterführung am Bahnhofsausgang zurückgezogen und die Ohren zugehalten. Als die bläulich pulsierende Wolke über dem Kanaldeckel von innen heraus in einem weißen, warmen Licht erstrahlte, trat sie noch einen Schritt zurück. Sie genehmigte sich nicht, die Augen zu schließen, obwohl ihr danach war. Aus dem Nebel trat eine leuchtende Gestalt heraus, ganz in Licht gehüllt. 'Oh Gott, ein Engel!', war der einzige Gedanke, zu dem die Frau fähig war. Aus ihren Augen war jegliches Weiß verschwunden, sie schienen nur noch aus Pupillen zu bestehen. Kein Detail und keine Bewegung der Erscheinung entging ihnen. Der leuchtende Engel schritt langsam auf sie zu. Offensichtlich hatte er sie bereits wahrgenommen, obwohl sie sich eng an die Wand drückte. Während der Annäherung des Wesens begann dieses an Leuchtkraft zu verlieren. Als ob sie gedimmt und dann ausgeschaltet wurde, erlosch die warme, weiße Lichthülle mit einem leisen Knistern. Dieses war deutlich in dem Gang der Unterführung zu hören. Dort, wo gerade noch ein leuchtender Engel gewesen war, erschien ein junger Mann, der eine eigenartige Rüstung trug. Sie bestand aus kleinen, schwarzen und glänzenden Platten, die offensichtlich auf einen robusten Stoff genäht waren. Die Frau hatte schon einmal etwas Ähnliches in einem Museum gesehen. Lebensgroße Puppen chinesischer Krieger erschienen ihr in Gedanken. Sie trugen Rüstungen aus Leder, die mit Stücken mehrfach gefalteten Papiers bedeckt waren. Im Museum war dies gelblich, bräunlich gewesen. Diese Rüstung war tief schwarz. Dort, wo vor wenigen Sekunden noch Licht abgestrahlt wurde, verlor sich nun jegliches Photon ohne eine Chance auf Rückkehr. Die Augen des Mannes waren hinter einer dunklen Brille verborgen. An den unteren Rändern der Brillengläser flackerten und glühten deutlich sichtbar Zahlenfolgen. Die Handgelenke waren in breite Messingmanschetten gehüllt, die ebenfalls leuchtende Anzeigen trugen. Über sie huschten unablässig Schriften.

"Guten Abend", sprach die Erscheinung leise und freundlich.

Die Frau gab keine Antwort. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie noch immer alle Bewegungen. Sie atmete schwer und lehnte sich gegen die Wand.

"Können sie mir vielleicht den Weg zum Bundeskriminalamt zeigen?", fragte der Mann, nachdem er keine Antwort auf seinen Gruß mehr erwartete.

Die Frau hob mechanisch ihren linken Arm. Mit dem rechten stützte sie sich gegen die Wand der Unterführung. Ihre ausgestreckte Hand deutete in die Richtung, in der kurz zuvor das blau leuchtende Auto verschwunden war. Sie vermied es weiterhin, zu sprechen.

"Vielen Dank für ihre Hilfe", antwortete er und wandte sich um. Er schien es gewohnt zu sein, Verwirrung zu erzeugen.

Der in die schwarze, glänzende Rüstung gekleidete Mann nutzte die Grünphase der Fußgängerampel. Er überquerte die Straße in der ihm gewiesenen Richtung. Die weichen Sohlen der engen, schwarzen Stiefel hinterließen keinen Laut: Der Engel entschwebte.