Wer kann der kann

Blinde Hühner finden manchmal Körner,
der Hühnerschreck bekommt sie alle, die Hühner.

Volksweisheit aus der Prignitz

Früher war Heinz nur ein Hühnerschreck, inzwischen war er zum Dacapo und einem ausgewachsenen Bürgerschreck geworden. Er hatte zwei ständige Begleiter: Miezi und das Chaos. Auch Superhelden fangen klein an.

Der Dacapo schleuderte über die Kreuzung. Wie immer fuhr er viel zu schnell für die Verkehrssituation. Eigentlich war er die personifizierte Gefahrensituation. Blaue Lichtbündel versprühend, bog er mit quietschenden Reifen an der nächsten Kreuzung nach rechts ab. Er rutschte, mehr als dass er fuhr, in eine Einbahnstraße hinein. Wie nicht anders zu erwarten war, natürlich entgegen der zugelassenen Fahrtrichtung. Da der Sonntagabend schon etwas fortgeschrittener war, bestand nur ein geringes Gefährdungspotenzial für andere Verkehrsteilnehmer - es waren einfach keine anwesend. In der Einbahnstraße gelang es dem Dacapo nicht, das Fahrzeug sofort wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Es drehte sich einmal um sich selbst und kam neben einer Litfaßsäule zum Stehen. Die Räder radierten über den Straßenbelag und hinterließen breite, hässliche und schwarze Streifen. Miezi, der kleine Pekinese, war der rabiaten Fahrweise heute Abend überdrüssig. Er hatte sich beim Erreichen der Stadt in den Fußraum vor der Rückbank gelegt. Damit entging er der Gefahr, schon wieder von innen an eines der Fenster geschleudert zu werden. Der mit einer Kette gefesselte Gefangene hatte nicht so ein Glück. Tommy saß auf der Rückbank und schlug mit dem Kopf hart gegen das Glas eines Fensters.

"Auuuu...", kam als deutliche Lautäußerung aus dem Fond. Als leiser Zusatz folgte: "... jetzt muss ich mich übergeben, glaube ich."

"Du weeßt, wat passiert!", antworte der Dacapo sofort.

Tommy saß unglücklich auf der Rückbank. Er war kalkweiß, jeglicher Rest Farbe hatte längst sein Gesicht verlassen und er zitterte vor Angst und Anspannung. Die Kette, die seine Hände verband, hinderte ihn, sein Gesicht zu verdecken und leise zu weinen. Die letzte Stunde ihrer Fahrt war eine einzige, unzumutbare Folter gewesen. Während dieser waren alle Ideen an eine Flucht und einen guten Ausgang der Geschichte aus ihm herausgeschüttelt worden. In jeder Kurve hatte er geglaubt, das Ende seines Lebens erreicht zu haben.

"Sehn' wa mal, wer schneller mit det Tor is. Die Wache oder ick...", sprach der Dacapo ungerührt weiter.

Er nahm den Fuß von der Bremse und trat im nächsten Augenblick das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Motor dröhnte tief und gewaltig, die Hinterräder drehten durch und der Wagen driftete vom Bürgersteig auf die Straße zurück. Dabei riss er eine Papiertonne um, die dort aus unerfindlichen Gründen abgestellt war. Ein Schwall alter Werbeflyer ergoss sich über den Weg. Der Zusteller für Werbezeitungen hatte sich seine Arbeit etwas einfacher gemacht und alles in diese Tonne gestopft: Fertig! Außerdem war die Umwelt auch noch geschont worden, schließlich war die Entsorgung sachgerecht gewesen. Nun wurden die bunten Papiere doch noch in die Freiheit entlassen. Trotzdem wird sie niemand lesen. Die durchdrehenden Hinterräder des überblauen Einsatzwagens erfassten eine große Menge der Blätter und wirbelten sie auf. Hinter dem Wagen war die Luft mit einem Male von herumfliegenden Papierstücken erfüllt.

Einige Meter weiter, hinter dem großen Rolltor, waren die Anzeichen der Annäherung bereits wahrgenommen worden. Es war schwerlich möglich, diesen zu entgehen. Zuerst rief die Wache den Hausmeister an, um ihn zu retten. Er reparierte zu diesem Zeitpunkt die Abdeckung eines Kellerschachtes. Die Wache teilte ihm mit, dass er besser die Reparatur unterbrechen sollte. Seine Kellerwerkstatt würde ihm in die nächsten zwanzig Minuten das Überleben sichern.

"Was soll denn das? Ich habe für Späße keine Zeit", entrüstete sich der Handwerker.

"Mach hin! Der Dacapo kehrt heim."

"O.k., bin weg", war die knappe Antwort, nach der sofort die Verbindung unterbrochen wurde.

Die Einfahrt durch das hell erleuchtete Tor meisterte der Dacapo abermals mithilfe der Handbremse. Das gerade noch rechtzeitig geöffnete Rolltor gab die Einfahrt frei. Die letzten Zentimeter der Stahlkonstruktion glitten zur Seite. In den verspiegelten Scheiben des Wachgebäudes blitzen die blauen Lichter ein letztes Mal auf, bevor der Dacapo sie abschaltet: Er war endlich zu Hause angekommen.

Bei der langsamen Fahrt in den Innenhof der ehemaligen Kaserne, wiegte sich der schwere Wagen quietschend in seiner Federung. Alle Wege waren leer und die meisten Fenster in den Gebäuden dunkel. Niemand war zu sehen. Keine Besonderheit an einem Sonntagabend in einer Behörde, auch wenn es sich um einen Geheimdienst handelte. Mit einem letzten Blubbern und Zischen erstarb der Motor.

"Miezi, du bewachst den Jefangnen. Ick such 'ne freie Zelle."

Damit stieg der Dacapo aus und sprang mit langen Sprüngen über den Hof in eines der Gebäude hinein. Offensichtlich konnte er sich gar nicht langsam bewegen. Tommy und der kleine Hund blieben allein im Wagen zurück. Flucht? Daran getraute sich der Gefangene nicht zu denken. Zu schrecklich waren die Erlebnisse diesen Abends gewesen. Mit der Ankunft in der Behörde und der beruhigenden Aussicht auf ein Gefängnisbett, kam Tommy langsam in die Wirklichkeit zurück. Er gab seinem Überleben wieder eine Chance. Das Erstaunlichste war, er schien sich nicht mehr fürchten zu müssen. Tommy ließ sich gegen die Rückenlehne fallen, ignorierte das Knurren von Miezi und schlief zufrieden ein. Ein Meer aus Ruhe fing ihn auf und Wellen der Geborgenheit wiegten ihn angenehm. Ein Mensch konnte mit so wenig zufrieden sein.

All das fand schnell ein Ende. Die Fahrertür wurde krachend aufgerissen und der Sitz nach vorn geklappt. Tommy erwachte abrupt auf der Rückbank und versuchte sich zu bewegen. Die Handschellen und die lange Kette, die diese mit der Decke der Kanzel verband, behinderten ihn dabei. Er versuchte zu erkennen, wo er war und sich zu erinnern, wie er an diesen seltsamen Ort gekommen war. Noch bevor sein Hirn die richtigen Verbindungen zusammenstöpseln konnte, wurde er an der Kette aus dem Wagen gezogen. Der Dacapo zerrte an dem Ende und Tommy hing mit seinen Handschellen am anderen.

"Träum nich, ick hab kene Zeit."

"Was ist - wo bin - soll?"

Tommys Augen waren geweitet und in ihnen waren viele Fragezeichen zu sehen. Sein Verstand hatte die Ereignisse der letzten Stunden bereits verdrängt - leider nicht ganz erfolgreich. Die Erinnerung kam mit einem Schlag zurück, zuerst wurde ihm seine Verhaftung und der missglückte Versuch, einen 'deal' zu verhandeln, bewusst. Er durchlebte noch einmal die Enttäuschung über den entgangenen Bonus für die Beschaffung von besonders vielen Oldtimern.

"Och, mein schöner Bonus. Muss das sein? Können wir nicht doch einen 'deal' machen?"

Der Dacapo hörte auf, an der Kette zu zerren. Was wollte der Gefangene von ihm? Erst nach einigen Sekunden erinnerte er sich ebenfalls an die Szene vor dem ausgebrannten Haus.

"Hrrr, ick dachte, dat war jeklärt! Ick bin echt nich aus de Flimmerkiste!", war seine deutliche Antwort. Er betonte die Worte des zweiten Satzes übertrieben und ließ jedes davon für sich selbst stehen.

"Schade", antwortete Tommy leise, dem nun auch die Erinnerungen an die weiteren Geschehnisse wieder bewusst wurden.

"So, weil de mir so nervst, darfste jetz alle braunen Plasteschnipsel ausm Wagen holen. Mit'te Hand natürlich."

Der Dacapo war wieder in seinem Element. Herumzickende, gefangene Verbrecher konnte er gar nicht leiden. Er schob Tommy wieder auf die Rückbank und schloss die Kette an dem Metallring an der Decke des Innenraumes an. Tommy sah sich betrübt um und begann die ersten, der vielen kleinen Plastikteilchen einzusammeln, die Miezi aus dem Magnetband der Musikkassette gefertigt hatte. Der kleine Hund saß vor der offenen Tür des Wagens und knurrte Tommy jedes Mal an, wenn dieser länger als drei Sekunden keinen neuen Schnipsel gesammelt hatte.

Nach nicht einmal zehn Minuten wurde der Polizist unruhig. Fortdauernde Tätigkeiten waren nichts für ihn. In denen war keine Action enthalten. Er unterbrach die Suche nach den Teilchen, indem er das kleine Schloss wieder von der Kette entfernte.

"So, jetz hab ick wirklich Durscht. Kannst de morjen weiter machen."

Damit zog er Tommy abermals aus dem Auto und brachte ihn in seine Zelle.

****

Der Dacapo war mit dem Ausgang des Tages zufrieden. Irgendwie war es ihm wieder einmal gelungen, eine gute Tat zu vollbringen und eine sinnvolle Arbeit zu verrichten. Das konnte heute nicht jeder Mitbürger in sein Tagebuch schreiben. Arbeit machte durstig und außerdem wollte er sich selbst belohnen - mit einer Orangenlimonade. Seit seiner Obsession für den Maler hatte es ihm diese Farbe angetan. Auf der Suche nach einem Getränkeautomaten wanderte er durch die Gänge der Behörde. Leider stand der Automat seiner Wahl nicht mehr zur Verfügung, war er doch am Morgen einem bedauerlichen Unfall zum Opfer gefallen. Als er den Gang der Abteilung SO - 'Schwere und organisierte Kriminalität' - durchwanderte, kam er an einem der wenigen Büros vorbei, in denen auch am Sonntagabend Licht brannte. Offensichtlich gab es hier Gründe für Überstunden. Durch die offene Tür fiel das Licht in Form eines Trapezes auf den Boden des Ganges. Der Dacapo streckte eine Hand aus dem Dunkel in das Licht und probierte einige Schattenfiguren auf dem Boden zu erzeugen. Mehr als ein Hund mit einer schiefen Schnauze kam jedoch nie zustande. Die im Raum der Lichtquelle sitzenden Beamten waren auf die Theatervorstellung aufmerksam geworden.

"Heinz, bist du's?"

Zur Bestätigung zog der Dacapo den brüllenden Wüstenadler, seine Dienstwaffe, aus dem Rückenholster des langen, schwarzen Ledermantels und hielt sie in das Licht. Die gewaltige Pistole warf einen gigantischen Schatten. Der auf zehn Zoll verlängerte Lauf trug erheblich zu dem mächtigen Auftritt bei. Die Kollegen kannten die Waffe und wussten um ihre Unbedenklichkeit.

"Na Heinz, hast du die 'Transni-Bombe' gefunden und entschärft?", verließ eine von leichtem Kichern begleitete Frage das Innere des Raumes.

Der Dacapo stellte sich breitbeinig mitten in die Tür und lächelte traurig.

"Nö, is alles wech, komplett leer. Hat jebrannt."

"Da warst du ja wenigstens an der frischen Luft."

Der traurige Blick des Dacapo wanderte von einem seiner Kollegen zu dem anderen und wieder zurück.

"Jo und wisst da, wo man de Vabrecha fängt?"

"Hä?"

"Na anne frische Luft. Ihr sitzt im Mief und ick hab eure Kriminellen einjesammelt."

"Hä?"

"Der is jetz in Zelle fufzehn", damit zeigte er auf eines der Fahndungsplakate. Auf diesem war ein erschrockener Tommy zu sehen, der in das Blitzlicht eines Passbildautomaten blinzelte.

"Wie jetzt, den Knopfke hast du gefangen?"

"Jo."

"Warum immer du? Wir machen die Arbeit und dir laufen alle Fänge zu."

Jetzt zufrieden lächelnd, drehte der Dacapo sich um und verließ das Zimmer. Ein erfolgreicher Tag neigte sich in der Geheimdienstbehörde seinem Ende entgegen. Als krönender Abschluss fehlte einzig und allein eine kühle Orangenlimonade.