Im Wald da wohnen die Fahrradfahrer

Das wird kein ganzer Kerl,
der nie ein Rüpel war.

Otto Julius Bierbaum

Heinz hatte die Weiterfahrt der Einfachheit halber 'über die Dörfer' geplant. Keine Autobahn, keine Überholer - das war praktisch erlebter Idealzustand. Auf dieser Fahrt war er der 'king of the road'. Klar, mit einem 1970'er Oldtimer war er das so und so. Außerdem war er der Dacapo, die letzte und gewaltige Rettung des Rechtes. In seiner Fantasie war er einer der letzten Superhelden des Abendlandes. Nach der Ausfahrt aus Erkner hatte er erst einmal ein anderes Problem. Wo war nur der Abzweig nach Hartmannsdorf zu finden? Zuerst hatte er zu ertragen, dass eine mit schönen, seichten Kurven gesegnete Strecke mit 60-Schildern gestraft worden war. Dann kam auch noch ein Ort mit falschem Namen: 'Neu Zittau' - er hatte 'Hartmannsdorf' erwartet. Nervös und hektisch sah er sich nach Wegweisern um. Das war bei über 80 Kilometern in der Stunde auf engen, gewundenen Straßen in einer Ortschaft gar nicht so einfach. In Sichtweite, am Ende eines langen, geraden Straßenabschnittes, tauchte eine Ampel auf, deren grünes Leuchten ihn magisch anzog. Jetzt nur nicht langsamer werden. Nur nicht in die 'rote Phase' geraten. Die brachte Unglück und außerdem musste man anhalten. Beherzt trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Motor brüllte auf und wie es sich für amerikanische Technik aus den 70-ern gehörte - geschah erst einmal gar nichts. Langsam beschleunigte der schwere Wagen und näherte sich dröhnend und röhrend der mit der noch immer grün leuchtenden Lichtsignalanlage versehenen Kreuzung. Da! Ein Wegweiser mit einem Verweis auf den Ort Hartmannsdorf huschte vorbei. Der Dacapo hatte es ganz deutlich im Augenwinkel erkannt: Das glaubte er zumindest. Er liebte schnelle Entscheidungen. Sein rechter Fuß wechselte in Sekundenbruchteilen vom Gas- auf das Bremspedal und mit der rechten Hand riss er die Handbremse nach oben. Ein Ruck ging durch das Fahrzeug und das Quietschen der Reifen mischte sich mit dem Stöhnen und Ächzen des geschundenen Stahlrahmens des Oldtimers. 43 Jahre waren auch für ein Automobil kein Pappenstiel, da war nicht mehr alles so frisch, wie bei der Geburt auf dem Fließband. Im Gegensatz zum Dacapo hatte der Mitfahrer kein Lenkrad, an dem er sich festkrallen konnte. Miezis Körper folgte dem Impuls der Beschleunigung. Der kleine Hund wurde von der Hinterbank an die Frontscheibe katapultiert. Er versuchte sich mit den Pfoten an das Glas zu klammern, musste jedoch feststellen, dass der Oktopus, den er im Fernsehen gezeigt bekommen hatte, andere Fähigkeiten besaß. Ohne Saugnäpfe rutschte er langsam, wie in Zeitlupe, an der Scheibe hinunter, glitt über die Konsole und landete auf dem Fahrersitz. In dem Augenblick, als Miezi ausatmen wollte, reagierte der Wagen auf das durch den Dacapo nach links gerissene Lenkrad. Der überblaue Einsatzwagen vollzog einen harten Schwenk um 90 Grad in die Seitenstraße und Miezi wurde gegen die Seitentür gepresst. Als das Fahrzeug sich beruhigt hatte und wieder geradeaus fuhr, setzte sich Miezi auf und blickte den Dacapo starr und vorwurfsvoll-traurig an. Genau so, wie das nur Hunde konnten. Der Dacapo versuchte das zu ignorieren und tat, als ob er sich auf den nicht vorhandenen Verkehr konzentrieren musste. Am Sonntagnachmittag war die Nebenstraße in dem kleinen Ort komplett leer.

Wenig später wurde der Straße enger und es begann der Wald. Ein schöner Weg schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Sanft kurvig führte das schmale Asphaltband, eigentlich nur eine einzige Spur, immer weiter in die eng stehenden Kiefern hinein. Ein märkischer Wald, wie man ihn sich nicht besser vorstellen konnte - Kiefern, Kiefern, Kiefern, ... nichts als Kiefern. Der Dacapo war zufrieden: freie Bahn für den gewaltigsten, geheimen Polizisten des Landes. Freudig beschleunigte er auf 55 Meilen pro Stunde laut Tachometer, das 30-er-Schild ignorierend, an dem er vor wenigen Augenblicken vorbeigekommen war. Die Nadel des altertümlichen Messgerätes zuckte aufgeregt und er war zu beschäftigt, um zu rechnen. Grob überschlagen trieb er seinen Oldtimer mit 90 km/h über den Asphalt - gute Straße, gute Geschwindigkeit - und überholen konnte ihn hier niemand, dazu war einfach kein Platz. Die Sonnenstrahlen gelangten an diesem Herbsttag nicht mehr bis auf den Boden der Waldstraße. Sie zogen lange Lichtfäden durch den Dunst des Nachmittags. Ganz selten berührte einer zaghaft das schwarze Band der Straße. Im Halbdunkel des märkischen Waldes war es angenehm kühl. Eine freie Straße, angenehme Temperaturen und eine Reisegeschwindigkeit nach seinem Geschmack: Der Dacapo sah die beiden Radfahrer erst kurz, bevor das Fahrzeug sie erreichte.

"Oh, uh, äh! Dat wird schief jehn", war als Ausruf im Wageninneren zu hören. Die Verzweiflung übertönte sogar das laute Dröhnen des V8-Blocks.

Miezi saß zum gleichen Zeitpunkt auf dem Beifahrersitz und blickte mit schreckgeweiteten Augen nach vorn. Kurz entschlossen drehte sich der kleine Pekinese um, damit er den Zusammenstoß nicht mit ansehen musste. Der Dacapo nahm instinktiv beide Hände vom Lenkrad und schlug diese vor sein Gesicht, um die Augen zu verdecken. Dass er in das kindliche Denkmuster 'Was ich nicht sehe, geschieht auch nicht', verfiel, war nicht anzunehmen. Ganz sicher dachte er gar nicht in diesem Moment. Er war starr vor Schreck und jegliche Nervenimpulse waren in ihm erstorben. Zu seinem Glück waren die beiden Fahrradfahrer, die nur noch wenige Meter vor dem Einsatzwagen nebeneinander fuhren, nicht ganz so reaktionsgebremst wie er. Wie verabredet, sprangen beide von ihren Rädern und in den Wald: einer nach links und der andere nach rechts. Sekundenbruchteile später rumpelte der schwere Wagen über die liegenden Fahrräder.

"Uffff!"

Der Dacapo griff wieder an das Lenkrad und äugte vorsichtig in den Rückspiegel. Beide Fahrradfahrer lagen im Wald und schienen unverletzt zu sein. Miezi wandte sich ihm abermals zu und sah ihn lang und vorwurfsvoll an. Wieder vermied der Dacapo die Erwiderung des Blickes. Dieses Mal war er wirklich mit der Beherrschung der Straße beschäftigt. Miezi sprang in den Fußraum vor dem Sitz. Dort lag eine Fußmatte, in die sich der kleine Hund krallen konnte und außerdem war er nicht mehr gezwungen, irgendetwas mit anzusehen.

****

Hinter dem Wald kam ein Feld und dann Hartmannsdorf. Anschließend passierten sie Spreenhagen und überquerten die Autobahn an der Abfahrt Storkow (Mark). Damit war der Dacapo kurz vor seinem Einsatzort.

In Rieplos tauchte mit einem Mal ein Wegweiser auf, der eine Straße in Richtung Philadelphia anpries.

"Oh Jott, hab ick mir weit verfranzt!"

Mit einer kreischenden Notbremsung kommt der Wagen zum Stillstand.

"Äh, da war doch 'n Meer zwischen... wie jetz?"

Miezi hatte sich in die Fußmatte gekrallt und kläffte erbost während der Dacapo einen altertümlichen Shell-Straßenatlas aus der Seitentasche seiner Tür zog. Nach einigen erfolglosen Versuchen, das Blatt mit dem Kartenausschnitt der aktuellen Position zu finden, kurbelte er wütend das Seitenfenster hinunter und warf das dicke Buch einfach hinaus. Dank Automatikgetriebe musste er nur auf das Gaspedal treten und den alten, überblauen Einsatzwagen geradeaus weiter treiben.

"Storkow, ick komm über dir!"