Stufe 1 - Geld kann man nicht essen

Auf der ersten Bewusstseinsstufe lebt der Mensch
unbewusst und schicksalsbezogen

Sie stemmt sich mit beiden Händen auf den Tresen, beugt sich über die Kasse nach vorn und berührt mit ihrem zierlichen Kinn die grünlich fluoreszierende Verkaufsanzeige. Ihre Augen funkeln ebenfalls in einem leuchtenden Grün, das perfekt mit dem Display und dem kräftigen Rotbraun ihrer Haare harmoniert. Wenn da nicht die bohrende, brennende Leere in seinem Inneren wäre, würde er fasziniert innehalten und verzückt das Farbwunder betrachten, das er gerade so sehr aufregt. Die Frau trägt ein seltsames Shirt, dessen Aufdruck ihn zusätzlich verwirren müsste. Er sieht nur kurz auf den Aufdruck und blickt irritiert zur Seite. So weit hat ihn der Gender-Wahn bereits gebracht. In diversen Schulungen wurde ihm nachdrücklich dieses Verhalten antrainiert, denn für einen Beamten ziemt sich die Betrachtung der oberen Körperteile von Frauen nun einmal nicht. Leider gilt das auch dann, wenn der Anblick interessant ist. Bevor er weitere Gedanken an die Zweideutigkeit und bezweckte Aussage des Shirts verschwenden kann, flutet der Hunger sein Hirn abermals mit einem kräftigen Signal. Es verdrängt jegliche geistige Aktivität in einen hinteren, dunklen Winkel seines Bewusstseins, den er selbst noch nie bermerkte. Seit Jahren verlassen, stapeln sich dort vergessene Erlebnisse und nicht gedachte Gedankengänge zu Unmengen. Der Hunger verhindert dieses Mal, dass er sich dessen bewusst wird. Stattdessen wiederholt er einfach nur seine Frage, getrieben von einem extremen, menschlichen Verlangen.

"Brot?"

Dem Wunder hinter dem Verkaufstisch fällt der Unterkiefer herunter; nur ein wenig, da ihr Kinn bereits die Kassenanzeige berührt. Nach einigen Sekunden in Schockstarre schließt die Frau wieder den Mund und antwortet ebenfalls fragend.

"Ja sagen sie 'mal, sind sie merkbefreit?"

"Warum so abweisend? Ick hab doch nur Hunger!"

"Wie oft soll ich ihnen noch sagen, dass sie hier in einer Postagentur sind. Wir verkaufen kein Brot!", ist die pointiert vorgetragene Antwort.

"Ick will doch auch nur 'n halbes. Nun los, schneiden ses schon ab - ick hab soonen Hunger."

"Rrrgrrrrr!"

Die grünen Augen sprühen Funken und sie lässt sich zu einer eindeutigen, kreisenden Geste des ausgestreckten Zeigefingers der rechten Hand an ihrer Schläfe hinreißen.

"Brot!", ist die mit einem fordernden Verlangen vorgetragene Reaktion darauf.

Mit einem kurzen Sprung nach hinten entfernt sie sich vom Verkaufstresen. Noch innerhalb der hastigen Rückwärtsbewegung greift sie nach einer Rolle braunen Paketklebebandes und reißt einen zwei Hände breiten Streifen davon ab. Diesen hält sie in beiden Händen, streckt ihn mit der Klebeseite nach vorn von sich und springt um den Tresen herum. Offensichtlich möchte sie dem Dacapo, der sie seit wenigstens fünf Minuten hartnäckig und unbelehrbar nach Brot fragt, den Mund damit verkleben. Gleich ist Ladenschluss und der seltsam gekleidete Besucher ist der einzige Kunde in der Poststelle. Warum er ausgerechnet hier ein Brot kaufen möchte und sie nicht zu verstehen scheint, ist ihr inzwischen egal. Anfänglich war sie von der Erscheinung fasziniert. Der Dialog zwischen ihnen begann vielversprechend, wurde dann jedoch schnell sehr einseitig und seltsam. Dieser Arbeitstag endet so absurd, wie er begonnen hat. Was erwartet sie auch von der großen, bunten Stadt: Hier tobt ununterbrochen der Punk und 'normal' will keiner der Einwohner sein. Jeder ist anders, ist in seiner eigenen Vorstellung etwas ganz Besonderes. Dieser hier scheint extrem 'besonders' zu sein. Sein langer, schwarzer Ledermantel fällt bis auf den Boden und dessen Schöße berühren die Springerstiefel an seinen Beinen. Die Haare auf dem runden Kopf sind militärisch kurz rasiert und das dicke, schwarze Horngestell der Brille ist an zwei großen Segelohren verhakt. Abstehende Ohren sind nichts Besonderes, außer sie haben eine beachtliche Größe und werden von blau glimmenden Schulterklappen eines schwarzen Ledermantels gespenstisch beleuchtet.

Der Dacapo weicht dem Steifen Paketklebeband erschrocken aus, das sich inzwischen bedrohlich seinem Mund nähert. Mit einem Angriff beim Brotkauf rechnet er nicht. Außerdem ist er ein mächtiger und bemächtigter Vertreter der Staatsgewalt. Er ist sozusagen die lebende Inkarnation des Gewaltmonopols. Niemand versucht sich ihm entgegenzustellen. In der Welt des Verbrechens hat sich sein Ruf schnell verbreitet. Einige Kriminelle halten ihn inzwischen bereits für einen Superhelden, andere für einen Mythos. Ihm ist gleich, was die Mitmenschen von ihm denken: Er fühlt sich zur Durchsetzung von Recht und Gesetz berufen und weicht dabei keinen Millimeter von seinen Prinzipien ab. Nun wird er wider seine Erwartung angegriffen und muss einem Klebeband ausweichen - absurd!

"Soll'n dat? Spinnse wohl!"

Ein hastiger Sprung zur Seite lässt das nächste Regal mit Briefumschlägen wanken und bringt Bewegung in die linke Seitentasche seines Mantels. Aus dieser ist ein Knurren zu hören. Die Tasche beult sich mehrfach nach außen aus; etwas sehr Lebendiges scheint in ihrem Inneren zu rotieren. Der Dacapo reißt die Tasche auf und brüllt: "Miezi jib Ruhe!", in diese hinein.

Anschließend holt er ein dickes und akkurat gebundenes Bündel von 5-Euro-Scheinen aus der anderen Seitentasche des Mantels und wirft den Stapel 'Kleingeldes' auf den Tresen.

"Brot! Aba zackich!"

"Das ist hier eine Postagentur. Sehen sie sich doch um: Hier gibt es Verpackungsmaterial für Briefe und Päckchen, sowie Briefmarken zu kaufen. Wir haben hier nichts Essbares."

Anstatt sich mit den offenkundigen Tatsachen anzufreunden, schlägt der Dacapo krachend mit der zur Faust geballten Hand auf das Bündel 5-Euro-Scheine. Eine Welle an Vibrationen wandert durch den Verkaufstisch. Dessen Ränder sind mit Aufstellern für Postkarten bestückt, welche die Schwingungen beim Auftreffen zuerst wanken und dann umstürzen lassen. Die bunten Papierstücke segeln durch den Raum und verteilen sich, einer unheimlichen, mystischen Anweisung folgend, als ein sehr eindeutiges Muster im Raum: Auf dem Boden bilden sie ein lang gestrecktes Dreieck, dass auf die Ausgangstür weist. Zuerst sehen die beiden Anwesenden den schwebenden Postkarten erstaunt zu. Nachdem sich das Muster auf dem Boden deutlich abzeichnet, starren sie verdutzt und erschrocken auf die geheimnisvolle Anweisung. Die gespenstische Nachricht scheint aus einer anderen Welt zu ihnen gesandt worden zu sein.

Nach einer stummen und mehrere Sekunden währenden Pause fängt sich der Dacapo wieder. Das leere und bohrende Gefühl in seinem Magen duldet keine magische Ablenkung und erinnert ihn nachhaltig an sein Ansinnen.

"Jetz reichts! Keene Spielchen, ja?!", nach einem weiteren Faustschlag auf den Tresen fügt er laut hinzu: "Raus jetz mit det Broot, ick verlier langsam die Jeduld! Det Jeld muss doch reichen..."

Nun ist auch die Verkäuferin wieder in der Realität angekommen.

"Ja aber, wollen sie diese offenkundige, sichtbare und logische Tatsache nicht akzeptieren? Hier gibt es kein Brot."

"Fakten - Tatsachen - so'n Quatsch! Damit kommt man nich weiter, det war jestern. Heut jeht et um Glauben! Und ick glaub, dass se Brot habn."

Von der anderen Seite des Tisches blicken ihn zwei weit aufgerissene Augen an. Diese funkeln nicht mehr, sondern zeigen eine dunkle, grüne Leere, die bis in die Tiefen des Wahnsinns zu führen scheint. Den Dacapo ficht das nicht an, nicht in einer Situation, in die ihn der bohrende, animalische Hunger treibt. Als er sich ruckartig bewegt und in eine der Innentaschen seines schweren, schwarzen Mantels greift, sinkt die Postagentin hinter dem Tresen in sich zusammen. Sie kapituliert deutlich sichtbar vor den alternativen Tatsachen des Dacapo, seiner sinnfreien Hartnäckigkeit und außerdem ängstigt sie seine letzte Aktion. Während dieser durchwühlt er hektisch und sichtlich erregt die Manteltasche und befördert schließlich einen Dienstausweis des Bundeskriminalamtes hervor.

"Alles Broot is jetz beschlachnahmt! Se wolltens ja nich anders."

Die Agentin gibt auf und sinkt hinter dem Tresen in sich zusammen. Langsam, wie in einem verzögert abgespielten Film, wird sie immer kleiner, fällt auf die Knie und klappt mit dem Oberkörper nach vorn, auf den Boden. Klatschend fängt sie mit beiden Händen den Sturz ab und bewahrt ihren Kopf vor einer Verletzung. Die letzten Teile dieser Bewegung verbirgt der Tisch vor dem Dacapo. Die Verkäuferin ist für ihn nicht mehr sichtbar. Er mutmaßt sofort, dass sie dort die Brote versteckt hat.

"Hallo? Wo sind se'n jetz hin? Habense da Brote?", fragt er vorsichtig.

Der Ton und die Art, in der diese Frage gestellt wurde, zeigt der Agentin, dass ihr Gegenüber noch nicht vollständig den Realitäten der Welt entsagt hat. Sie schöpft etwas Hoffnung, richtet sich wieder auf, klopft sich Staub und Sand von den Knien ihrer Hose und geht langsam um den Tresen herum. Dort stellt sie sich nach dem Dacapo an, als ob sie ebenfalls etwas kaufen oder einen Brief aufgeben möchte. Der hungrige Besucher wendet vorsichtig den Kopf und blickt irritiert hinter sich.

"Häh? Wat solln det?"

"Ich habe gekündigt und möchte nun Briefmarken kaufen."

"Wat? Wieso? Wann haste jekündicht?"

"Gerade jetzt...", sie zieht ein Smartphone aus der Tasche, sieht auf das Display und ergänzt: "... vor so 20 Sekunden etwa."

Der Dacapo blickt sie verdutzt an. Zuerst weiten sich seine Augen, dann ziehen sie sich wieder zusammen. Die Brauen wandern von außen zur Nasenwurzel und er äußert wütend: "Jetz bisde verhaftet - wegen Widerstand jegn de Staatsjewalt!"

"Warum 'Widerstand' - ich habe doch gar nicht widerstanden. Ich habe nachgegeben, einfach gekündigt und bin nun nicht mehr zuständig."

"Hä?"

"Sie müssen schon den Angestellten hinter dem Tisch fragen und verhaften."

"Da is doch niemand - oder?"

Der Dacapo tritt bis an den Tresen heran, beugt sich über ihn und legt sich quer über den Tisch. Das metallene Schloss seines Armeekoppels schabt knirschend über die harte Oberfläche, während er sich auf der anderen Seite wieder nach unten beugt und auf den Boden blickt. Natürlich entdeckt er dort nichts, außer einiger Papierschnipsel und einer halb gefüllten Wasserflasche.

"Nee, leer", ist die enttäuschte Auskunft, die kopfüber von einem auf dem Verkaufstresen einer Postagentur liegenden Geheimpolizisten gegeben wird.

"Dann warten sie, bis jemand kommt."

Mit einem Ruck macht sich der Dacapo steif wie ein Brett, strengt alle Muskeln seines Körpers zur gleichen Zeit an. Er rutscht auf der Seite des Verkaufsraumes vom Tisch hinunter und richtet sich wieder zu seiner vollen Größe auf. Interessiert beobachtet die Frau die flüssige Folge von Bewegungen. Der seltsame Besucher scheint etwas wirr, jedoch beeindruckend gut trainiert zu sein. In den Tiefen ihres Hirns blitzt ein Gedanke auf und huscht vorbei. Der behauptet, dass diese beiden Tatsachen nicht gut zusammen passen. Wer sich nicht in der realen Welt zurechtfindet, verwendet wenig Zeit auf das Training seiner Muskeln. Sie kann sich nicht weiter auf diesen Gedanken konzentrieren und er verliert sich in den Tiefen ihres Kopfes.

"Äh, det is mir jetz zu kompliziert", der Dacapo hat sich, immer noch steif, abrupt umgewandt, geht auf die Tür zu und in Richtung des Supermarktes davon.

Hastig verschließt die Verkäuferin die Tür, bedauert kurz die Kolleginnen im Supermarkt und atmet tief durch. Gleichzeitig trauert sie dem vielversprechenden Anfang des Gesprächs nach, das sie mit dem letzten, seltsamen Kunden führte. Es hätte ein anregender Abend zu zweit werden können. Nun, da sie allein ist, bricht sie in ein lautes, hysterisches Lachen aus. Feierabend! Was kann jetzt noch geschehen?