Können Drohnen riechen?
Da war er wieder, der blaue Himmel. Der Morgen hatte kalt begonnen, keine Besonderheit Ende Oktober. Die vergangenen Nächte auf dem Treppenabsatz waren ebenfalls kalt gewesen - sehr kalt. Der Stadtlauf erwärmte Attila. Vor ihm wurde endlich der Bahnhof sichtbar. Zumindest das Gebäude entsprach seiner Vorstellung von einem alten, preußisch-brandenburgischen Bahnhof. Er hatte keine Ahnung, wie er an sein Ziel gekommen war. Jetzt war er hier - das war einzig und allein entscheidend.
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Attila war am Vormittag von lautem, notorischem Summen geweckt worden. Es war nun schon der zweite Morgen mit dieser Weckmusik. Das ganze Treppenhaus schien akustisch überfüllt zu sein. Er schreckte hoch und war irritiert: Es war komplett dunkel um ihn herum. Erst nach einigen Augenblicken erinnerte er sich daran, dass er in dem Verschlag unter der Treppe genächtigt hatte. Vorsichtig öffnete er die Tür des Verschlages. Zum Glück hatte in der Nacht niemand das Vorhängeschloss, das außen an dem Riegel der Tür hing, eingehakt. Dann hätte er von innen rütteln und warten müssen, bis ein Nachbar vorbeigekommen wäre. So sprang die Tür auf und Attila blickte direkt in das glänzende Kameraauge einer Drohne. Diese schwebte nur eine Armlänge vor seinem Kopf bewegungslos in der Luft. Er unterdrückte die Wut und den Wunsch, nach ihr zu schlagen. Wusste er doch zu gut, dass sie geschickt ausweichen würde. Im Treppenhaus war ausreichend Platz für jegliches Flugmanöver. Das Gefühl der Bedrohung vom Vortag war sofort wieder da und machte sich bohrend in der Gegend seines Magens bemerkbar. Vielleicht war es auch der Hunger, den er spürte. Schließlich hatte er am gestrigen Morgen zum letzten Mal etwas gegessen. Letztendlich war das egal. Attila würde jetzt seinen Plan vom gestrigen Abend verwirklichen und aus Storkow flüchten. Er musste hier weg - irgendwo hin, nur nicht bei diesen elektromechanischen Insekten bleiben. Als er nach seinem Sprung aus dem Verschlag die Drohne passierte, sah er aus den Augenwinkeln, wie sie ihre Kamera auf ihn gerichtet hielt. Es war ein gespenstischer Anblick: Das Fluggerät hing in der Luft wie festgeschraubt und drehte sich langsam um seine Mittelachse. Als er durch die offene Haustür auf die Straße lief, folgten ihm die Drohnen des Schwarms. Er hörte, wie sich das schreckliche Summen hinter ihm veränderte und aus der Lautstärke konnte er schließen, dass die Maschinen ihre Entfernung zu ihm exakt beibehielten. Sie schien etwas größer als am gestrigen Abend zu sein, die Drohnen hielten sich außerhalb der Reichweite von Angriffen mit Bratpfannen.
Attila lief an der Kirche vorbei. Eigentlich wachte er immer noch auf. Welches Ziel hatte er sich gestern Abend eigentlich gesetzt? Wo wollte er sich hinwenden? Die vielen unverarbeiteten Ereignisse und die Furcht vor dieser schrecklichen Technik hatten die Beschlüsse des gestrigen Abends in seinem Hirn zugeschüttet.
Als er die Gaststätte "Zum Fass" erreicht hatte und mitten auf der Straße zwischen Markt und hölzerner Zugbrücke stand, fiel im wieder ein, was die nächste Etappe auf seiner Flucht sein sollte: Er wollte zum Bahnhof. Von dort würde er mit dem Zug so schnell wie möglich dem Ort den Rücken kehren und damit hoffentlich auch die fliegenden Spione hinter sich lassen. In den wenigen Tagen seiner Anwesenheit war er noch nie am Storkower Bahnhof gewesen. Den Teil der Stadt, der hinter der Zugbrücke lag, kannte er. Dort gab es keine Schienen und keinen Bahnhof. Folgerichtig wandte er sich in Richtung des Marktplatzes.
Die Elektronik hing ihm nachhaltig an. Ungeachtet der Geschwindigkeit, die er beim Laufen durch die Stadt anschlug, folgte ihm der Schwarm hartnäckig im exakten Abstand von zwei Metern und brummte und summte in einer beängstigenden Lautstärke. Dieses Geräusch ordneten die Vögel, die auf dem Marktplatz lebten, wohl als Warnhinweis ein. Mit Attilas Eintreffen erhoben sich diese plötzlich in großer Anzahl und flogen verwirrt durcheinander. Die technische Konkurrenz im Luftraum schien ihnen nicht zu gefallen. 'Da war etwas mit summenden Vögeln...' kam Attila ein Gedanke in den Sinn '... wenn ich nur wüsste...'. Und dann überfiel ihn die Erinnerung. Er sah er sich genau hier auf dem Marktplatz. Gemeinsam mit der Tambourette hatte er auf dem Fenstersims eines Schaufensters gesessen und sich mit ihr unterhalten. Sie hatte ihn vor 'summenden Vögeln' gewarnt und die Marktfrau, die ihm die bestickte Kappe geschenkt hatte, setzte anschließend noch ein weiteres Rätsel hinzu: Wenn der Vogel im Glas summt, das Gebrüll im Osten verstummt. Das hatte ihn damals vollständig überfordert und machte auch heute noch keinen Sinn.
Mit den 'summenden Vögeln' konnte er jetzt etwas anfangen. Diese waren wirklich hinter ihm her. Es gab kein Entrinnen und vorsehen musste er sich nicht mehr. Er konnte nur noch flüchten - darin hatte er inzwischen einige Übung. Manchmal war es ihm in den vergangenen Tagen so vorgekommen, als ober er nie eine andere Tätigkeit ausgeübt hätte. Vielleicht war er ja wirklich seit seiner Geburt auf der Flucht vor allem und jedem. Seine Bestimmung im Leben hatte er auf jeden Fall noch nicht gefunden. In einem war er sich ganz sicher: Es würde noch einige Zeit dauern, bis er sesshaft wird, das Flüchten endet und er Ruhe findet.
Das avionisch induzierte Durcheinander über dem Markt hatten auch einige vormittägliche Passanten wahrgenommen. Am westlichen Ausgang des Platzes bildete sich eine kurze Gasse aus Menschen. Sie hielten die summende Spionagetechnik wohl für ein von Attila gebasteltes Spielzeug und ihn selbst für einen Schausteller, der einen 'tech-run' durch die Stadt aufführte.
"Schneller, schneller! Du schaffst die Bestzeit!"
"Fescher Mantel - kann ich ein Autogramm bekommen?"
Fotoapparate und Smartphones wurden in die Höhe gehalten und lichteten diesen kurzen Ausschnitt aus Attilas Dauerflucht ab. Attila fühlte sich behindert.
"Leute, macht den Weg frei ... die Technik ist bösartig." brachte er atemlos hervor und drängte sich durch die Zuschauer. Sie gaben erst den Weg frei, nachdem jeder sein Bild geschossen und den Moment digital festgehalten hatte.
Attila stolperte durch die Menschen, fand seinen Weg durch die Gasse und wählte der Einfachheit halber den Weg nach Westen - unabhängig davon, ob dort ein Bahnhof war, oder nicht. Er wollte einfach nur aus der Ansammlung von Menschen verschwinden. Noch vor einem Monat hätte er genau diese Gelegenheit gesucht und sich in ihrer Mitte gesonnt. Aus der Menge frei gekommen, stolperte er in morgendlich aktive Radtouristen. Angefeuert von dem Beifall der Menschen, war er nicht mehr zu halten. Er war 'Attila on the run'. Benommen von den vielen Eindrücken und so manchem Blitzlicht, das falsch konfigurierte Kameras und Smartphones zusätzlich zum Licht des hellen Morgens ausgesandt hatten, war er fast blind und vollständig abgelenkt. Die Straße und die sich auf ihr bewegenden Fahrzeuge nahm er nicht mehr wahr. So kam es zu einer Beinahekollision mit einem Pärchen auf einem Tandem. Beide, Tandem und Pärchen, kamen quietschend zum Stehen. Attila stoppte abrupt vor dem überlangen Rad und stützte sich mit beiden Händen am Lenker ab. Er stand breitbeinig über dem Vorderrad, schnaufte, rang nach Luft und sah den vorn sitzenden Mann erschrocken an. Dieser hatte in Erwartung eines Aufpralls und Sturzes die Augen zusammengekniffen. Als er sie wieder öffnete, blickte er in die geweiteten Augen eines schwitzenden und keuchenden Mannes mit wirrem Haar und ungepflegtem Dreitagebart. Zu allem Überfluss trug der auch noch einen fleckigen, abgerissenen Bademantel. Bevor er etwas sagen konnte, um seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen, summte etwas Unförmiges kreischend an ihnen vorbei. Da es für ein Insekt zu groß und einen Vogel zu schnell war, wandten der Fahrradfahrer und seine Begleiterin unwillkürlich ihre Köpfe in Richtung des lauten, unnatürlichen Geräusches. Fast im gleichen Augenblick ging das Summen in ein Klirren über und ein Ruck erschütterte das Fahrzeug. Eine der Drohnen war bei einem Wendemanöver mit viel zu hoher Geschwindigkeit in das Hinterrad des Tandems geraten. Plastiksplitter flirrten durch die Luft und mit einem 'Zingggg' rissen zwei der straff gespannten Speichen. Die Reste der Drohne zuckten noch zweimal kurz und fielen anschließend klackernd auf die Steine der Straße. Durch den Aufprall brach das Gehäuse auseinander und bunte Drähte quollen wie Gedärme hervor. Attila durchzuckte so etwas wie Mitleid. Als er sich dessen bewusst wurde, wandte er sich schnell ab. Nicht, dass er noch ein Stockholmsyndrom entwickelte und die fliegenden Biester adoptierte. So weit wollte er es nicht kommen lassen.
Der Schwarm aus fliegender Technik verhielt sich ebenfalls seltsam. Er verharrte regungslos in der Luft. Die Kameraaugen der Überlebenden fokussierten die am Boden liegenden Bruchstücke des toten Kameraden. Attila nutzte die Gelegenheit. Er ließ die Lenkstange des Tandems los, änderte abrupt seine Fluchtrichtung und lief so schnell er konnte wieder in Richtung Marktplatz zurück. Die Drohnen folgten ihm nicht.
Auf dem Markt wandte sich Attila nach rechts und lief in Richtung der Burg weiter. Immer wieder sah er sich ängstlich um und drängte sich an Häuserwände und in den Schatten der Vordächer. In ihm begann sich ernsthaft der Gedanke auszubreiten, die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Nicht weit hinter dem Marktplatz musste er einen großen Parkplatz überqueren. Von diesem aus hatte er einen guten Blick auf die Burg. Seine technischen Verfolger waren nicht zu sehen. Kein entnervendes, sonores Summen war zu hören. Beruhigt blieb Attila mitten auf dem Parkplatz stehen und betrachtete die Burg, hinter der die Sonne stand und ihm wärmend ins Gesicht schien. 'Endlich geschafft, dem elektrischen Geschmeiß bin ich entkommen!' frohlockte er und gab sich ganz dem Anblick des mittelalterlichen Bauwerkes hin.
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Attila bemerkte die Drohne erst, als sie direkt vor seinem Kopf, in der Sichtlinie zur Burg Storkow, schwebte. Dieser Anblick erschreckte ihn zutiefst. Das stechende, ziehende und nagende Gefühl fuhr ihm bis in die kleinen Zehen und ließ ihn mitten auf dem Parkplatz in sich zusammensinken. Jegliche Hoffnung, die ihn noch vor einem Augenblick durchflutet hatte, war schlagartig verschwunden. War eine Flucht noch sinnvoll? Vor wem flüchtete er da eigentlich? Wie hatte die Technik ihn immer wieder finden können? Auf dem Asphalt des Parkplatzes hockend, grübelte Attila über diese und noch viele weitere Fragen. Über ihm summten und brummten die Drohnen - der gesamte Schwarm.
Seit einigen Tagen hatte er sich nicht richtig waschen können. Das kalte Wasser aus den Hähnen, das für die Bewässerung der Vorgärten gedacht war, hatte er sich nur sehr zögerlich angetan. Wahrscheinlich roch er inzwischen unangenehm. Da er Kontakte zu anderen Menschen mied, fiel er damit wohl nur wenigen Mitbürgern auf die Nerven/die Nasen. Sein Geruchssinn hatte sich zum Glück durch Adaptation daran gewöhnt. Er konnte sich selbst nicht mehr riechen. Es wäre auch scheußlich gewesen, wenn er am Ende noch vor sich selbst hätte flüchten müssen. Zumindest das blieb ihm erspart. Aber: konnten die Drohnen riechen? Wie fanden sie ihn immer wieder. Ganz egal, wo er sich versteckte oder wie er ihnen entkam, nach wenigen Augenblicken hatten sie ihn wieder gefunden und folgten im weiter. Aktuell hatte er andere Probleme, so folgte er diesem Gedanken nicht weiter. Attila raffte sich auf und versuchte weiter, der Wahrnehmung der fliegenden Technik zu entkommen. Die Flucht durch Storkow fand ihren Fortgang. Irgendwo musste doch dieser Bahnhof sein! Dort wartete der Zug in die Freiheit auf ihn.
Als er schwitzend und schwer atmend die nächste Kreuzung erreichte, nutzte er die Gelegenheit um anzuhalten und sich etwas zu erholen. Ein Blick nach rechts offenbarte ihm eine Gasse, die er bereits kannte. In dieser hatte er vor einigen Minuten bereits gewendet, als er mit den Fahrradtouristen zusammengestoßen war. Nun befand er sich am anderen Ende der kurzen Straße. Also lief er weiter nach links, in die große, unbekannte Fremde. Die gesamte fliegende Spionageelektronik hatte er versammelt hinter sich. Ihr Summen dröhnte in seinen Ohren und beschleunigte seine Schritte. Einige weitere Orientierungsversuche und eine Abkürzung über Wege, die ausschließlich Fußgängern vorbehalten waren, brachten ihm das Zwischenziel seiner Flucht in erreichbare Nähe.
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Attila war einmal quer durch Storkow gelaufen. Eine märkische Kleinstadt, die jegliche Vorstellungen über solche Orte erfüllt. Für eine Stadtbesichtigung fehlte ihm die Muße, da er im Laufschritt und Zickzack die Straßen passiert hatte. Als ein gammeliges und nicht gerade senkrecht stehendes Straßenschild 'Bahnhofsallee' vor Attila auftauchte, blieb er stehen. Schwer atmend lehnte er sich erschöpft an den Pfahl des Schildes. Das große, breite, rotbraune Backsteingebäude am Ende der kurzen Straße musste der Bahnhof von Storkow sein. Zufriedenheit kam in ihm nicht auf, da das nervtötende Summen über und hinter ihm wieder anschwoll. Der Schwarm elektromechanischer Insekten hatte sich in kurzer Entfernung von ihm gesammelt. Viele Kameraaugen waren starr auf ihn gerichtet. Sie sahen ihn tot und leer an. In einem Anflug von panischem Entsetzen sprang Attila in Richtung des Bahnhofs davon. Das drohende Summen hinter ihm ließ seine Nackenmuskeln versteinern. Die Eingangstür zur Bahnhofshalle öffnete er nur einen Spalt breit, schlüpfte hindurch und schlug die Tür sofort hinter sich zu. Wie lange würde er in der dunklen, muffigen Halle Ruhe vor der verrückten Technik haben? Wann würden diese bedrohlichen Drohnen einen Weg hinein finden?