Planung eines wissenschaftlichen Experimentes zur Umerziehung
In Wahrheit heißt etwas wollen, ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können; darüber kann uns allein der Erfolg oder Misserfolg belehren.
Friedrich Nietzsche
Der dunkelblaue Transporter rollte langsam an die Kreuzung heran. Die Deutschen nahmen das so übermäßig genau, mit den Farben der Ampellichter. Hier musste man bei 'Rot' wirklich halten.
"Sieh dir das an: Das rote Licht scheint nur auf mich gewartet zu haben!" beschwerte sich Jewgeni. Er hatte gerade noch rechtzeitig gebremst, um nicht auf die für ihn gesperrte Kreuzung zu fahren. Der VW-Transporter bäumte sich mit dem Heck auf und versuchte anschließend schaukelnd und schlingernd wieder in eine ruhige Geradlage zu kommen. Im hinteren Teil des Wagens fiel eine Wasserflasche polternd von einem der Seitentische und bewegte sich mit einem kollernden Geräusch auf den Fahrersitz zu. Die abrupte Negativbeschleunigung hatte Wassili überrascht. Dessen Beifahrertagträume wurden jäh unterbrochen. Das Beharrungsvermögen seines Körpers drückte ihn in den Gurt, da er kein Lenkrad hatte, an dem er sich abstoßen konnte. Zu seinem Glück hielt ihn das breite, graue Band zurück und verhinderte das Durchschlagen der Frontscheibe.
"Jewgeni - muss das sein! Fahr vorausschauend! Ich hatte gerade von einem Stück Torte geträumt. Das ist jetzt 'traumvirtuell' auf den Boden gefallen. Du machst sauber!"
Wassilis Gesicht zeigte zusammengezogene Brauen über den geweiteten Augen. Die Furche über der Nasenwurzel hatte sich tief eingegraben und stand in einem exakten rechten Winkel zu seinem schnurgeraden, zusammengekniffenen Mund.
"Ja, war 'Rot'! Willst du hier etwa auffallen?" antwortete Jewgeni.
An der Ampel leuchtete immer noch das rote Licht. So hatten beide Zeit, sich zu beruhigen und die Gegend neben der Straße zu betrachten.
"Sieh einmal dort. Das sieht aus wie ein Schloss."
"Ist eine Burg - steht auf dem grünen Schild, dort neben der Straße."
"Ich liebe Schlösser. Lass und den Burgvogt besuchen."
In diesem Augenblick begann die grüne Lampe der Ampel zu leuchten. Jewgeni riss das Lenkrad nach links, fuhr mit quietschenden Reifen an. Er steuerte den VW-Transporter, anstatt geradeaus, mehr als abrupt und überhastet in die linke Seitenstraße, die zur Burg führte. Der Wagen, der ihnen gegenüber stand, fuhr kurz an, kam mit einer Notbremsung zum Stillstand und vollführte eine 90-Grad-Wendung, mitten auf der Kreuzung. Jewgeni betrachtete das Schauspiel im Rückspiegel und freute sich.
"Das ist nicht Kiew!" war der entsetzte Ausruf von Wassili. Dieser freute sich gar nicht.
"War ein wissenschaftliches Experiment, biologisch, Reaktionszeit - wenn du verstehst..."
"Nein! Verstehe ich nicht."
"Dir fehlt nur der Nachmittagskuchen. Wenn du unterzuckert bist, bist du immer so humorlos."
"Ich bin nur nicht wahnsinnig und lebensmüde gleichzeitig. Das ist alles."
Jewgeni parkte den Transporter auf dem Radweg und öffnete die Fahrertür, um zu kontrollieren, dass er auch exakt mittig auf dem schmalen Asphaltband stand.
"Komm, lass uns in die Burg gehen. Dort gibt es bestimmt ein Restaurant und Kuchen."
Wassili ließ sich nicht lange bitte und beide schlenderten der Auffahrt zur Burg entgegen. Diese war zwar nicht besonders groß, wurde jedoch durch die tiefstehende Herbstsonne majestätisch und warm beleuchtet. Das gelb-rötliche Licht der Abendsonne verlieh der Burg etwas Beruhigendes, Weiches. Die beiden großen Experimentatoren fühlten sich sofort zu Hause und geborgen. Die hohe Mauer und die Geschlossenheit des Gebäudeensembles strahlten eine deutlich spürbare Sicherheit aus. Diese wurde in keiner Weise durch die kleine, verlorene Kanone gemindert, die vor der Wand aus roten Steinen in den Tag hinein oxidierte. Ein kurzer, gewundener Pflasterweg führte durch ein Tor, das von einem Bogen aus Backsteinen überkront wurde. Durch den Torweg hindurch war ein kleiner Teil eines großen Innenhofes zu sehen. Neugierig schritten beide auf das Tor zu und blieben wie verabredet unter dem Bogen stehen. Ein großer, gepflasterter Innenhof breitete sich vor ihnen aus. Er war durch Backsteingebäude unterschiedlicher Höhe begrenzt. Die roten Ziegeldächer hoben sich vor dem Grün der sie überragenden Bäume ab. Der Monat Oktober neigte sich zwar seinem Ende entgegen, trotzdem hatten die Bäume in diesem Jahr noch fast alle ihrer Blätter und nur wenige waren gelblich verfärbt. Die beiden Gäste genossen das Farbspiel und die Herbstsonne einige Minuten. Dabei störte es nicht, dass sie unter dem Torbogen standen. Es waren keine weiteren Besucher zu sehen.
"So muss sie aussehen: meine Burg."
"Jetzt bist du am Träumen. Lass uns einfach dort zu dem Restaurant, zum Kuchen gehen."
Wassili zeigte auf ein kleines Schild, das über der Tür eines Gebäudes am anderen Ende des Innenhofes hing.
Wenig später saßen beide an einem Tisch im Burgstübchen, dem Cafe auf der Burg Storkow. Wassili wartet auf sein Tortenstück und Jewgeni träumte weiter.
"Stell dir vor, wir würden in so einer Burg unsere Labore einrichten. Und wir hätten viele Angestellte - eine richtige, große Firma. Und da wären Aufträge aus der ganzen Welt..."
"Gefällt dir unser Labor in Kiew nicht mehr?"
"Ja, ist nicht schlecht." Jewgeni war deutlich eine leichte Depression anzumerken. "Ist nur so weit weg vom Rest der Welt." Er hatte die Ellenbogen auf den Tisch gesetzt, den Kopf in die Hände gestützt und sah seinen Kollegen von unten an. Sein Blick drückte Fragen aus, die Wassili nicht beantworten wollte. Zu groß war die Differenz zwischen den dahinter verborgenen Wünschen und ihren Möglichkeiten.
"Sieh doch, nun haben wir einen Auftrag in Deutschland und morgen vielleicht einen in Frankreich." versuchte Wassili ihn zu trösten.
"Ja, ist nicht schlecht." wiederholte sich Jewgeni. "Trotzdem leben wir immer noch 'von der Hand in den Mund'. Nichts bleibt übrig, wir wachsen nicht - du verstehst, was ich meine?"
Die kollegiale 'Ja!'-Antwort war unerwartet freudig. Sie bezog sich wohl mehr auf das Stück Torte, das vor Wassili gestellt wurde. Dieser war nun für einige Minuten abgelenkt und kein tiefgründiges Gespräch erreichte ihn. Er moderierte ausschließlich zwischen Teller und Mund mit Hilfe einer Kuchengabel.
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Mit steigendem Blutzuckerspiegel gewann Wassili den Blick für seine Umwelt schrittweise zurück. Nachdem er die letzten Kuchenkrümel mit Hilfe der kleinen Gabel sorgfältig und andächtig vom Teller gepickt hatte, sah er zu Jewgeni auf. Dieser beobachtete ihn offensichtlich schon etwas länger und sah nach wie vor leicht deprimiert aus.
"Ah, Jewgeni! Wolltest du nicht auch etwas essen? Du sagst ja gar nichts."
"Ach nein, ich genieße den Tee."
"Ach so."
"Ach - ja."
"Du, Jewgeni, wir haben da noch ein Problem..."
"Ja, Leonid - der weiß zu unserem Glück noch nichts von dem Halberfolg unserer Mission."
"Halberfolg?" Wassili sah erstaunt auf seinen Gegenüber. Die Tasse, die er gerade gehoben hatte, verharrte auf halbem Weg zum Mund. Das war gut, denn so wie dieser geöffnet war, wäre der Tee wieder herausgelaufen.
"Na: Unser Experiment zur 'Umerziehung durch Gasverpuffung' hat erfolgreich stattgefunden. Das ist ein Erfolg. Nur hat der zu Erziehende die Nachricht von Leonid nicht bekommen. Das ist leider ein Misserfolg. In Summe somit ein Halberfolg."
Der Zucker hatte inzwischen auch Wassilis Hirn erreicht. "Ja fein: Nur Leonid wird das nicht interessieren. Hat er sein Geld zurück? Nein! Ich möchte am Ende nicht auch noch umerzogen werden."
Während der nächsten Minuten schlürften beide ratlos an ihrem Tee. 'Was für ein nettes Paar.' dachte die ältere Dame, die zwei Tische weiter saß. 'Nur Deutsch könnten sie reden - so versteht man ja gar nichts.' Zu dieser Uhrzeit waren die beiden Wissenschaftler neben ihr die einzigen Gäste im Restaurant. Sie hatte sich mehr Abwechslung von ihrem nachmittäglichen Ausflug versprochen. Jetzt war es hier fast leer und sie konnte nicht einmal der Unterhaltung am einzig besetzten Nachbartisch folgen. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als sich mit dem feinen Kuchen zu trösten.
Jewegeni und Wassili sahen aus den Fenstern des Restaurants auf den Burghof und betrachteten die dort spielenden Tauben. Die Vögel waren gut genährt. Richtig rund sahen sie aus. Beim Laufen auf dem Pflaster watschelten sie wie Enten. Wackelnd und sehr langsam quälten sie sich auf dem Boden vorwärts. Erst in der Luft entwickelten sie eine Eleganz in ihrer Bewegung. Sie flogen in kleinen Gruppen hin und her. Die Gruppen stiegen auf, flogen exakt ausgerichtet als Schwarm im Kreis und bewegten sich dabei vollständig synchron.
"Du, ich habe eine Idee."
"Ich glaube, ich habe die Gleiche."
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Sie kannten sich gut, sehr gut. Seit vielen Jahren forschten und arbeiteten sie nun zusammen. Beim Studium am 'Kiewer Polytechnischen Institut', der Nationalen Technischen Universität der Ukraine, hatten sie sich kennengelernt. Ihr gemeinsames Interesse an Computer-Wissenschaft, Maschinenbau und Flugzeugtechnik ließ sie sich immer wieder über den Weg laufen. Nach der fünfzehnten Begegnung zogen sie die Konsequenz und planten ihren Studienalltag fortan gemeinsam. Es kamen gemeinsame, praktische Arbeiten, Forschungen, Abschlüsse... Auf die Jahre der Ausbildung folgten die Jahre der Forschung. In der modernen Ukraine war es für staatliche Institutionen nicht einfach, an finanzielle Mittel zu gelangen. Ihr Institut war bezüglich der Forschung chronisch unterfinanziert. So gründeten beide nebenberuflich das Unternehmen 'Dnepr-Agent TOV', um etwas Geld mit den Ergebnissen ihrer Forschung zu verdienen und um das Budget des Instituts zu ergänzen. Sie zahlten die eine und andere Anschaffung, forschten sehr intensiv für geringes oder gar kein Gehalt und die staatliche Forschung schloss sie freundschaftlich in die Arme - viele Jahre lang. Die künstliche Intelligenz, autonome Agenten und Agentensysteme in Soft- und Hardware waren auf diese Art und Weise ihre besten Freunde geworden. Während der ersten Jahre wollte niemand ihre Entwicklungen kaufen. Die lokale Industrie zeigte nicht einmal Desinteresse - ihnen schlug überall komplettes Unverständnis entgegen. Doch seit sie Geschäfte mit den Oligarchen-Warlords tätigten, sprudelten die Einnahmen aus der freiberuflichen Nebentätigkeit: nicht genug für eine Expansion und ein Unternehmen mit Angestellten, aber ausreichend für ein eigenes, auskömmliches Leben.
In den Anfangsjahren annektierten sie fremde Botnets. Das war ganz einfach: Auch die Server der Piraten waren nicht wirklich abgeschlossen. Die Kommandorechner zu übernehmen, die die weltweiten Netzwerke von mit Trojanern aufgebrochenen und übernommenen Rechnern steuerten, war für sie ein Kinderspiel. Anschließend nutzten sie die Computer in diesen Botnets bündelweise und artgerecht für die Störung von Kommunikationsströmen. Die Aufträge/'Kaperbriefe' dafür bekamen sie von ihren Kunden, den Warlords - die sich im Wirtschaftsgebiet der ehemaligen Sowjetunion Oligarchen nannten. Das Wissen und die Technik lieferte ihre eigene Forschungstätigkeit. Wassili und Jewgeni übersprangen einfach den ersten Teil der Arbeit. Den aufwendigen, langweiligen und illegalen Aufbau des Botnetzes überließen sie anderen. War die Verschaltung von tausenden, durch Trojaner aufgebrochener Rechner, Mobiltelefone, Fernseher, Server, Haushaltsgeräte, ... einmal vorhanden, konnte dieses Netzwerk beliebiges menschliches Verhalten im Internet simulieren und damit jeden Dienst im World-Wide-Web überlasten. Für dieses zeitweise Ausschalten von Service-Angeboten wurden sie bezahlt. Die 'Besitzer' der Botnets verklagten sie in keinem Falle. Das Gericht, vor dem Piraten gegen Diebe klagen konnten, gab es noch nicht und vor Racheakten boten ihnen die beauftragenden Warlords ausreichenden Schutz. Die Botnets waren zusätzlich ein gutes Testbett für ihre Forschungen. Schnell hatten sie die zwei wesentlichen Schwachstellen der Netze ferngesteuerter, gekaperter Rechner erkannt: die Bots waren immobil und von einer entfernten Steuerung abhängig, die immer mit ihnen Verbindung haben musste. So verlagerten sie den Schwerpunkt ihrer Forschungen auf das Gebiet der 'autonomen Software-Agenten'. Diese bekamen einen Auftrag und wurden auf die Reise geschickt. Sie bewegten sich allein von einem Rechner zum nächsten, verrichteten dort die ihnen aufgetragene Arbeit, sammelten Informationen, kommunizierten untereinander und 'telefonierten regelmäßig nach Hause'. Als kleinste, unscheinbare Programme konnten sie durch viele Lücken in die Milliarden an Computern gelangen, die das Internet verband. Niemand bemerkte sie und sie hinterließen keine Spuren. Nach einem kurzen Aufenthalt, der oft nur Sekunden dauerte, hatten sie den Wirtsrechner wieder verlassen. Mit diesen kleinen Helfern stiegen Wassili und Jewgeni von Dieben zu Freibeutern auf. Sie erbeuteten als Piraten im Datenmeer wahre Unmengen an Informationen für ihre Auftraggeber. Diese entlohnten sie moderat. Auch hier gab es kein Gericht, das eine Klage von Piraten gegen Oligarchen-Warlords akzeptierte. Legale Aufträge für die Forschung an 'autonomen Software-Agenten' gab es so gut wie nicht - in der Ukraine schon gar nicht. Weltweit beschäftigten sich fast ausschließlich Geheimdienste und das organisierte Verbrechen mit diesem Thema. Selbst Konferenzen, auf denen sie ihr Wissen hätten publizieren können, fanden extrem selten statt und waren finanziell für sie unerreichbar.
Das gemeinsame Interesse an Flugzeugtechnik brachte die beiden Forscher zu einem Betätigungsfeld, dass gegenständlicher als Software war. Die Sonntage waren öde, insbesondere die Nachmittage waren unerträglich. Immer war an diesen Tagen das Labor im Institut verschlossen. Irgendwann begannen sie sich die deprimierende Wochenendlangeweile mit Modellhubschraubern zu vertreiben. Natürlich bekamen diese bald vier Rotoren und mutierten zu Quadrocoptern. Schließlich hielt Software Einzug in die Fluggeräte und schon wurde aus dem Hobbybetätigungsfeld ein Feld der Forschung: Minidrohnen. Schnell fanden sich Aufträge zur Überwachung. Ihre Geldgeber hatten keine Mühe, sich den Nutzen der neuen Technik auszumalen. Diese war jedoch anfänglich anfällig für Probleme und hatte häufig Ausfälle. Durch das Ersetzen einer einzigen Überwachnungsdrohne mit einem ganzen Schwarm an Drohnen, spielten Ausfälle einzelner Geräte keine Rolle mehr: Es war immer ausreichender Ersatz bereits vor Ort. So steigerten Wassili und Jewegeni die Verlässlichkeit auf glatte einhundert Prozent und ihrer Auftraggeber freuten sich. Alles entwickelte sich gut und hätte so bleiben können. Doch wie Forscher nun einmal waren: Es gab immer neue Herausforderungen. Und so kam es, wie es kommen musste. Sie kombinierten Drohnen-Schwärme mit ihren Ergebnissen aus der Forschung an 'autonomen Software-Agenten'. Die Schwärme autonomer Drohnen-Agenten waren bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit und Einsatzmöglichkeiten beeindruckend. Die Minidrohnen fanden bei Überwachungsaufgaben jede Lücke, um in einen Raum zu gelangen. Sie unterstützen sich gegenseitig, tauschten ihre Daten untereinander aus und agierten schnell und zielstrebig. Es war ihnen die materielle Inkarnation der autonomen Software-Agenten gelungen. Überwachung und Spionage hatten eine gewisse Leichtigkeit bekommen, die jeden Interessenten faszinierte und natürlich sofort für sich nutzen wollte. Die Erfolge der Forscher verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in gewissen Kreisen. Der aufkommende Auftragssturm schlug schnell in eine Verfolgungswelle um. Sie wurden zu den Gejagten. Jeder ihrer ehemaliger Auftraggeber wollte in den alleinigen Besitz der Technologie gelangen. Somit waren sie auf der Flucht vor so gut wie jedem Geheimdienst dieser Welt und allen möglichen Verbindungen des organisierten Verbrechens. Sie waren fast immer unterwegs, blieben nie länger als eine Woche an einem Ort. Die Adresse ihres privaten Labors hielten sie geheim, um ihren letzten Rückzugsort zu schützen. Inzwischen spielte dieses keine funktionale Rolle mehr: Ihr Labor war der blaue VW-Transporter geworden, mit dem sie durch Europa reisen. Sie waren genau so mobil geworden, wie ihre Drohnen-Agenten. Aufträge nahmen sie nur noch anonym über E-Mail und einen 'toten Telefon-Briefkasten' entgegen.
Diesen Weg hat auch Leonid Loschkoi gewählt, um sie zu kontaktieren und mit Attilas Umerziehung zu beauftragen. Der Oligarch - oder Warlord - überzeugte die beiden Wissenschaftler ihre Basis nach Tiraspol, in die kleine Republik Pridnestrowien zu verlegen. Das kleine Land wird auch Transnistrien genannt und ist die letzte, verbliebene Sowjetrepublik, in der noch überall Lenin-Denkmäler stehen und die Symbole der Sowjetmacht verwendet werden. Vom Zeitpunkt ihres Umzuges an, stehen Wassili und Jewgeni unter dem Schutz von Leonid, der ein Faible für die Wissenschaft hat. Sie haben so etwas wie Narrenfreiheit und im Gegenzug dürfen sie seine Aufträge in Europa ausführen. Ihr Unternehmen 'Dnepr-Agent TOV' ist jetzt die 'Dnister-Agent Ltd.', aus diversen, naheliegenden Gründen auf einer der Kanalinseln registriert.
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"Endlich! Auf den ersten Einsatz unseres Schwarms autonomer Drohnen habe ich bei dieser Mission schon so lange gewartet. Unsere Minidrohnen sind so hübsch..." freute sich Jewgeni und sah dabei ganz verträumt aus dem Fenster zu den immer noch spielenden Tauben. "... fast wie Vögelchen - nein Bienchen."
"Bist' verliebt? Hoffentlich wirst du mir jetzt nicht liebestoll und fliegst hinterher... ich werde dich am Transporter verankern. Übrigens haben wir immer noch Leonids Auftrag zu erledigen. Der Schuldner ist noch nicht umerzogen."
"Klar, der hat uns als Erzieher nicht wirklich wahrgenommen."
"'Umerziehung durch Gasverpuffung' war wohl etwas zu heftig und die Forderungsschreiben sind wegen der Überdosierung leider verbrannt." ärgerte sich Wassili. Er hatte sein leeres Teeglas zum Mund geführt, es enttäuscht betrachtet und dann wieder abgesetzt.
"Also überwachen wir den Bademantel-Typen mit der Drohnen-Wolke und werfen dann Forderungsschreiben ab."
"So sei es. Komm, wie gehen - mein Tee ist getrunken und deiner ist kalt."
Beim Verlassen des Restaurants bemerkte Jewgeni einen Stapel Visitenkarten. Er lag auf einem kleinen Tisch nahe der Ausgangstür. Automatisch griff er nach den Karten und steckte einige ein.
"Du, Wassili, ich habe da noch eine Idee."
"Nein, ok - nun erzähle schon."
"Unsere Arbeit wird hier bestimmt auch benötigt und dazu noch sehr gut bezahlt."
"Bestimmt, wenn uns jemand kennen würde."
"Deshalb werfen wir unsere Visitenkarten mit den Forderungsschreiben ab - du weißt schon, die hatten wir so preiswert fertigen lassen."
Auf einem Stopp, kurz vor der deutschen Grenze hatten sie in einem kleinen Dorf in Polen eine Druckerei gefunden. Dort hatten sie eigentlich nur um etwas Kühlwasser gebeten. Am Ende verließen sie das Dorf mit tausend druckfrischen Visitenkarten. Alle hatten den Aufdruck: 'Wassili und Jewgeni - wir kennen jede Technik - wir bauen unmögliche Apparaturen - wir arbeiten weltweit. Telefon: 003804...'. Wassili blieb unter dem Torbogen in der Burgmauer stehen, drehte sich zu Jewgeni um und sah ihn traurig an.
"Aber das Denken hast du nicht verlernt, oder? Da kannst du ja gleich unseren Absender auf die Forderungsschreiben von Leonid drucken. Auf jeden Fall finden und die Behörden dann ganz sicher."
"Natürlich mischen wir unsere Karten mit vielen anderen, sieh hier!" er holte die Visitenkarten des Restaurants aus der Tasche und zeigte diese Wassili. "Und außerdem ist unsere Telefonnummer nicht rückverfolgbar - zumindest nicht zu uns. Du erinnerst dich: Wir haben das Handy mit Karte auf dem Basar in Tiraspol gekauft."
"Hmm, keine schlechte Idee, lass mich darüber nachdenken."
"Ja, mach das. Ich sammle inzwischen Visitenkarten." Damit drehte sich Jewgeni um, durchschritt die Torbogen zum zweiten Mal und ging über den Burghof auf die Tourist-Information zu.