Der Boden des Fasses
Wer mittags trinkt,
Sprichwort
dessen Abend ist ernüchternd.
Die beiden Feuerwehrleute gingen langsam an der Kirche vorbei. Der große, alte Backsteinbau wirkte vor der riesigen, grauen und tief hängenden Dampfwolke noch eindrucksvoller als sonst. Diese wehte aus einer Seitenstraße heraus und verteilte sich hinter und über dem Schiff. Einzelne, bauschige Schwaden stießen gegen den Turm. Dieser tat so, als ob ihn das nichts anginge und ignorierte die Berührungen. Ohne ein gewisses Maß an Gelassenheit hätte er bestimmt nicht die Jahrhunderte überstanden. Was war schon geschehen? Einer dieser kleinen Wohnungsbrände war so schnell, wie er entstanden war, wieder beseitigt worden. Frei, wie die Kirche stand, war der Übergriff von Flammen so gut wie unmöglich. Kein Grund zur Aufregung, die nächsten Jahrhunderte konnten kommen und würden vergehen. Die beiden Feuerwehrleute schätzten die Gesamtsituation offensichtlich ebenso ein. Innerhalb der Dampfwolke bemühten sich noch ihre Kameraden um das Aufräumen des Brandbekämpfungsfeldes. Die Abwesenheit von Schutzanzügen und die Zeichen auf ihren Schulterklappen zeigten, dass diese niederen Tätigkeiten nicht zu ihrem Alltag gehörten.
Als die beiden Uniformierten die Straße überquerten, um 'Zum Fass' zu gelangen, stand von einer Parkbank ein anderer Mann auf und folgte ihnen langsam. Er war für die Jahreszeit unpassend in einen Bademantel gehüllt - einen dreckigen, weißen Bademantel. Ohne sich weiter um die wenigen Passanten, die ihm mitleidig hinterher sahen und den mittäglichen Verkehr zu kümmern, überquerte er die Straße. Ein verirrtes Auto versuchte neben ihm quietschend zum Stehen zu kommen. Dem Fahrer glückte das Manöver nicht und der Wagen rutschte wild blinkend auf den Bürgersteig. Offensichtlich hatte der Fahrer in seinem Erschrecken alle Knöpfe betätigt, die sich vor ihm in der Reichweite seiner Hände befanden. Das schaltete nicht nur Blinker, Licht, Hupe und Scheibenwischer ein. Ein Hebelchen verriegelte den Wagen zentral und sicherte ihn vor ungewollten Ein- und Austritten. Als der Fahrer die Tür nicht öffnen konnte, wurde er sichtlich nervös. Er hämmerte wild von innen gegen das Seitenfenster der Tür. Sein Gesicht wurde kräftig rot und die Augäpfel schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Der Blick drückte pures Entsetzen aus und das Verhalten schien die letzte, verzweifelte Tat vor der Selbstaufgabe zu sein. Zwei Passanten waren in der Nähe: der Mann in dem schmutzig-weißen Bademantel und ein Mädchen. Der Bademantelinsasse ignorierte den Lärm, ging langsam weiter und betrat das "Zum Fass". Er sah sich nicht einmal zu dem Auto um. Das Mädchen war stehen geblieben und sah vorsichtig und erschrocken zu dem lärmenden Wagen. Es trug Ringelstrumpfhosen mit vielen Streifen in herbstlichen Farben und eine ebenso bunte Jacke, die mit unregelmäßigen Stickereien übersät war. Die Kapuze der Jacke lief in eine lange Spitze aus, die fast die Betonplatten des Gehwegs berührte. An ihrem Ende wippte eine Schelle zaghaft auf und ab. Sie folgte verzögert dem unentschlossenen Wiegen des Oberkörpers. Vor - kling - zurück - kling - vor - kling - zurück - kling - vor ... das Mädchen wartete offensichtlich auf neue Ereignisse, die die Unbedenklichkeit des Vorfalls verkünden sollten. Den Kopf hatte es neugierig-lauernd nach vorn gebeugt, um keine Information zu verpassen, traute sie sich nicht, das quer auf dem Bürgersteig stehende Auto zu ignorieren. Der Fahrer kurbelte das Fenster einige Zentimeter hinunter und zwängte beide Hände und seinen Kopf durch den schmalen Schlitz hinaus.
"Hilfe! Retten sie mich - rufen sie die Feuerwehr, ich muss herausgeschnitten werden! Bitte: Rufen sie mit ihrem Handy die 112 an."
"Ich habe kein Handy - Teufelszeug! In meiner Welt gib es solch einen Unfug nicht!"
"Ja so retten sie mich doch!"
"Pah! Wer so'was nutzt, ist nicht zu retten."
Das bunt gekleidete Mädchen warf den Kopf in den Nacken und ging steif um das vor ihr stehende Auto herum. Dabei humpelte es leicht, denn der eine Fuß war mit einem Turnschuh bekleidet, der andere steckte in einem Stiefel mit höherem Absatz. Leise, doch für den Fahrer deutlich vernehmbar, sang sie:
Ich arme Tambourette,
Man führte mich aus der Zeiten Gewölbe,
Wäre ich beim Tambour geblieben,
Dürfte ich nicht gefangen liegen.
Oh Himmelsdom, du hohes Haus,
Du siehst so furchtbar aus,
Ich schaue dich nicht mehr an,
Weil ich weiß ich gehöre nicht hieran.
Wenn die Zeit vorbeimarschiert,
Bei mir nicht einquartiert,
Wenn ich mich frage, wer ich gewesen bin:
Tambourette von der Schwedengarde.
Lasst mich gehen,
Ihr Berge und Hügelein,
Lasst die Tambourette gehen,
Ich bin euch doch nur wie nutzloser Stein.
Ich schreie mit heller Stimme,
Von Euch die Freiheit ich bekomme!
Der Fahrer sah noch so lange hinterher, bis das Mädchen auf einer Fußgängerbrücke verschwunden war.
Die Straße, die den weltlichen und den geistlichen Tempel voneinander trennte, führte wenige Meter weiter zu einer großen, hölzernen Zugbrücke mit einer gleichfalls hölzernen Fußgängerüberführung. Direkt vor dieser stand auf einem Parkplatz ein VW-Transporter - dunkelblau und ohne Fenster im hinteren Teil. Zwei Männer entstiegen dem Wagen und strebten ebenfalls auf das Restaurant zu. Sie machten einen sichtlich zufriedenen Eindruck und waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Das unüblich auf dem Gehweg parkende Auto störte sie nicht weiter. Offensichtlich befand sich das in ihrem normalen Toleranzbereich für das Verhalten im Straßenverkehr.
****
Im "Zum Fass" war es ruhiger als auf der Straße - viel ruhiger und auch dunkler. Die beiden Feuerwehrleute hatten sich an einem Ecktisch platziert.
"Ach die Herren Brandbekämpfer! Noch 'was löschen?"
"Tach auch. Mach' mal zwei fertig - wir haben hier was zu besprechen."
Sie warteten mit der Unterhaltung, bis sie wieder allein waren. Geheimnisse mussten nun einmal geheim bleiben.
"Na jetzt erzähl schon: Was hast du gefunden?"
"Du wirst es nicht glauben!"
"Nee, du sagst ja nichts. 'Kann ich dir auch nichts glauben."
"Da stand eine altertümliche Gasflasche in einem Nebenraum: Mit kyrillischen Buchstaben darauf."
"Und das war so bemerkenswert?"
"Nun - an die Flasche war irgend eine Elektronik angeklebt. Und die, die war mit dem Ventil verbunden."
"Der Brand ging von der Flasche aus?"
"Jo-nee, der startete im Besteckkasten, im Küchenschrank."
"Aha: Ein heißes Messer."
"Uhh, du hattest doch erst ein Bier! Nu' denk doch 'mal nach."
"Na seit wann brennen denn Messer und Gabeln."
"Du, da war auch solch komische Elektronik im Kasten. Total verschmort war die, aber noch erkennbar. Und jetzt kommts: In Papierkorb waren Kartonrestes eines Päckchens mit einem Absender aus Tiraspol. Habe ich deutlich erkannt."
Die beiden Brandlöscher blickten sich bedeutungsvoll in die Augen und hoben gleichzeitig die Gläser, wie auf eine Verabredung hin. Das helle Klacken der aneinandergestoßenen Gläser passte zu dem Glänzen in ihren Augen.
"Jo, prost du! Da hast du ja 'mal was gefunden."
"Sag 'mal: Welche dieser vielen Geheimbehörden informiert man in solch einem Fall?"
"Im Fernsehen macht das immer das BKA."
"Sind die nicht immer so überheblich und bespitzeln die anderen?"
"Ähh, is bestimmt nur Fernsehen."
"Hmm, die findet man wohl auch im Telefonbuch - die vielen anderen Geheimdienste wüsst ich gar nicht zu erreichen."
"Irgendwie fehlen da die 'Ansprechpartner' vor Ort."
"Ja, wir sind ganz schön unsicher hier - findest du nicht auch?"
"Die aus Berlin haben nur sich selbst mit Schutzdiensten versorgt."
"Und uns haben sie schutzlos all diesen Terroristen ausgeliefert - prost!"
Zwei Tische weiter hatte Attila seinen Bademantel über die Lehne eines Holzstuhles geworfen und sich auf dessen Nachbarn fallen lassen. Nach der Aufregung war ihm nach Bier gewesen, viel Bier. Der Tag hatte so schön begonnen: mit einem blauen, aufgeräumten Himmel, viel Sonne und dem Versprechen auf spätsommerliche Temperaturen. Es war mehr als heiß geworden - nur leider nicht im Freien, sondern in seiner Wohnung. Diese war jetzt ruiniert, eine Ruine im wahrsten Sinne des Wortes. Warum diese sinnlos-gründliche Zerstörung auf seiner Flucht aus der Politik? Vielleicht hatten die beiden Feuerwehrleute eine Antwort. Irgendetwas hatten sie in seiner Wohnung gefunden oder gesehen. Von seinem Platz aus konnte ihr Gespräch verfolgen. Er hörte nicht alle Details. Auf Grundlage der erfassten Gesprächsbruchstücke und seinen Erinnerungen begann sich in seinem Kopf ein Bild zu formen. Tiraspol, kyrillische Buchstaben, elektronische Zünder, die beiden Schwarzmänner vor einigen Wochen in seiner Wohnung in Berlin, seine Flucht aus der Politik, ...
"So'n Mist: Jetzt ist auch noch die transnistrische Mafia hinter mir her!" brach es plötzlich und laut aus Attila heraus.
Zwei Feuerwehrleute, zwei übertrieben farbig gekleidete Touristen und die Bedienung sahen sich zu ihm um. So zum Zentrum der Aufmerksamkeit geworden, bestellte er einfach fünf Bier an den Tisch der Feuerwehrleute. Als das Tablett mit den vollen Gläsern an ihm vorbeigetragen wurde, folgte er ihnen einfach. Das leere Glas auf seinem Tisch ließ er ohne Reue zurück. Ein Glas - nichts im Vergleich zu dem, was er in den letzten Wochen alles zurückgelassen hatte.
"Hallo, sie haben meine Wohnung vorhin so vorbildlich entfeuert. Ich wollte mich dafür bedanken. Außerdem müssen hier ja nicht alle so verstreut sitzen."
Niemand fragte lange. Alle fanden sich an dem Tisch der Feuerwehrleute zusammen und griffen nach den Gläsern.
"Der unbescholtene Bürger hier ist jetzt arm dran."
"Lieber arm dran als Arm ab ..."
"Prost auf die Unversehrtheit - Gott zur Ehr', dem Nächsten zur Wehr!"
"Prost auch." Attila fand sich selbst gar nicht so unbescholten - schließlich war ihm unanständig viel Geld abhandengekommen, das nicht wirklich ihm gehörte. Seine Trinkpartner mussten das ja nicht wissen und heute war nicht der Tag, darüber nachzudenken. So stieß er mit an und bestellte gleich noch eine Runde Bier.
"Na dann ruf ich mal schnell das BKA."
"Wenn die mal nicht schon Feierabend haben."
"Pah! Das ist der Geheimdienst, der schläft nie! Wie sollen die sonst mitbekommen, was du so alles treibst..."
In den nächsten Stunden wurden einige volle Gläser zum Tisch getragen. Die Runde war gut damit beschäftigt, Attila zu trösten. Außerdem hatte dieser sein Portemonnaie im Bademantel gehabt - war ja auch schließlich sein wichtigstes, inzwischen leider ergrautes, Kleidungsstück. In den zwei Taschen von diesem befanden sich noch viele überlebensnotwendige Utensilien. Irgendwann hatten sie einstimmig beschlossen, die leeren Gläser nicht mehr zurückzugeben. Auf dem Tisch entstand ein Turm. Gegen 21 Uhr schien es der Turm zu Babel geworden zu sein. Die Unterhaltung in der Runde war komplett unverständlich geworden. Unter allen Anwesenden war offensichtlich eine Seuche ausgebrochen: alkoholbedingte Sprachverwirrung.
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Vor dem Restaurant stand ein einsamer Kleinwagen quer auf dem Gehweg. Die Straßenlaternen beleuchteten ihn nur schwach. Der Fahrer saß bewegungslos und in sich zusammengesunken hinter dem Lenkrad. Hinter Auto ragte bedrohlich und düster der Kirchturm in den Nachthimmel. 'Oh Gott! Zum Abschluss des Tages auch noch ein Toter in der Storkower Altstadt.' dachte Attila und überlegte, ob er die Polizei anrufen sollte oder dieses Ereignis einfach ignorieren konnte. Schließlich war sein Konto mit Negativerfahrungen für diesen Tag bereits überfüllt. Es hatte keinen Platz mehr für eine weitere Abscheulichkeit. Sein Gewissen siegte und er trat an die Tür auf der Fahrerseite heran. Der Mann sah mit starren Augen durch die Frontscheibe in eine weite, unerreichbare Ferne. Durch den offenen Streifen über dem leicht herunter gedrehten Fenster der Fahrertür waren lange Atemzüge in der nächtlichen Stille zu vernehmen, die Stoßseufzern glichen. Der Fahrer schien sich offensichtlich in einer Art resignativer Trance zu befinden. 'Zombies oder Vampire sind in Storkow eingefallen!' war der nächste, erschrockene Gedanke von Attila. Auf sein zaghaftes Klopfen hin, schreckte der Mann im Wagen aus seiner Trance.
"Retten sie mich - befreien sie mich." kam ein schwach geflüstertes Bitten aus dem Innenraum.
Instinktiv betätigte Attila den Türgriff und musste feststellen, dass offensichtlich die Zentralverriegelung eingeschaltet war.
"Geben sie die Zentralverriegelung frei und ich hole sie heraus."
"Die Zentralverriegelung?"
"Na los! Drücken sie schon auf den kleinen Knopf da in der Mitte des Armaturenbrettes. Der da mit der Autotür drauf."
Der Mann griff erschreckend langsam und zögerlich nach dem Knopf und drückte diesen lang anhaltend durch. Mit einem lauten Klacken lösten sich die Riegel in den Türen. Attila riss die Seitentür auf und wollte den Fahrer vorsichtig herausheben. Dieser schlug ihm auf die Hände.
"Ja was soll denn das! Finger weg! Lassen sie mich in Ruhe aussteigen. Was wollen sie eigentlich von mir?"
Das war mehr, als Attila an einem Tag vertragen konnte. Beleidigt senkte er den Kopf und ging langsam in Richtung seiner Wohnruine davon. Die Badelatschen schlurften leise und traurig über das Pflaster.