So kommt es, wie es kommen muss...

In der That versetzt uns die Lesung jedes guten Buches in die Gegenwart eines verständigen Mannes.

Christian Garve

Der Herbstabend ist spürbar warm, nicht ungewöhnlich für die Jahre nach dem Beginn des Klimawandels. Birgit läuft auf der Magistrale des Dorfes in östlicher Richtung und genießt das Wetter. Orangefarbenes Licht der Natriumdampflampen lässt den Dunst des Abends, der aus dem Wald heranzieht, anheimelnd erstrahlen. Nebelschwaden, die über die Straße wehen, bilden große Aureolen leuchtender Wassertröpfchen um die Laternen. Ihr Streulicht verbirgt die Sterne und hängt den Himmel tief über die Straße. Alle Gebäude scheinen näher an der Straße zu stehen als sonst. Die vielen Details in den Gärten und hinter den Häusern bleiben im sanften, schwachen Licht verborgen. Die ganze Welt ist scheinbar zusammen gerückt: Sie ist klein, warm übersichtlich - einfach angenehm. In einigen Städten hat Birgit bereits neue LED-Beleuchtung auf den Straßen erlebt. Sie glaubt nicht, dass deren blau-kaltes Licht die gleiche, angenehme Ausstrahlung hat, auch wenn sie den Energieverbrauch drastisch senken. Wird diese letzte Energieeinsparung überhaupt benötigt? Wir verwenden doch in Wahrheit nur die falschen Energiequellen. Am Ende gelten die Physik und der Ausspruch der Kraftwerkskarlotta: 'Es liegt ausreichend Energie in unserer Welt herum, die Sonne gibt uns so viel davon. Man muss sie nur aufsammeln. Dieses ganze fossile Zeugs ist absolut unnötig und wird doch nur genutzt, weil sich damit so schön Geld verdienen lässt.'

Das Ranzlower Kulturhaus ist nur noch wenige Meter Weges entfernt. Birgits Tritte klackern leise auf dem Pflaster. Sie ist hier auf dem Dorf, so trägt sie Schuhe mit breiten und nicht zu hohen Absätzen. Nicht überall in Ranzlow gibt es einen befestigten Untergrund. Der Dunst des Abends schluckt neben der Weite der Welt auch die Schallwellen. Ihre Schritte klingen angenehm gedämpft, nicht aufdringlich. Das passt zu ihrer Stimmung. Hinter dem sandigen Festplatz ist schon das flache Gebäude des Kulturhauses zu sehen. Die Fenster sind hell erleuchtet und auf dem Platz stehen einige Fahrzeuge. Das ist ganz normal in Ranzlow: Der gesamte Ort trifft sich jeden Abend zum täglichen Freibier in seinem kulturellen Zentrum. Erbaut in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ist es schlicht und zweckmäßig, genau wie die Ranzlower Bürger selbst. Birgit hat das seit 1986 an keinem Tag, an dem sie im Ort weilt, anders erlebt. Jeden Anfang dieser Abende besucht sie gemeinsam mit Rolf den Zweckbau in der Mitte des Ortes. Ein wenig aufgeregt ist sie heute schon. Dieses Mal ist sie die Attraktion des Abends. Das Im-Mittelpunkt-Stehen ist sonst immer die Angelegenheit von Friedrich Krüger oder die des Bürgermeisters. Für einen Abend soll sie diese Rolle übernehmen. Werden überhaupt Zuhörer ihrer Premierenlesung folgen? Der Inhalt der Veranstaltung ist nicht ganz unumstritten. In Ranzlow sind Politiker und das Thema Politik insgesamt unerwünscht. Nicht ohne Grund ziert seit Jahrzehnten ein Zusatzschild den Ortseingang, das Propagandieren zu einem unerwünschten Verhalten erklärt. Hinter dem Wartehäuschen der Bushaltestelle kann sie einen rostrot gefärbten Traktor erkennen. In der Frontscheibe der Fahrerkanzel spiegelt sich kein Laternenlicht, da das Glas gar nicht vorhanden ist. Beim genaueren Betrachten fällt auf, dass die Türen keine Griffe besitzen und offensichtlich fest in den Rahmen geschweißt sind. Das kann nur das Dienstfahrzeug des Ghostriders sein. Birgit freut sich, dass er auch gekommen ist. Ihm liegt nichts ferner als Politik und die Beschäftigung mit dieser. Politiker betrachtet er als lästige Tagediebe, noch ein ganzes Stück nutzloser als eine Verkehrskontrolle an seinem Traktor.

Die schmuck- und geländerlose Treppe zum Haupteingang ist nur schwach erleuchtet. Die Journalistin tritt zaghaft auf die erste Stufe. Nicht das wenige Licht, sondern die Ungewissheit der Geschehnisse der kommenden Minuten macht sie unsicher. Friedrich Krüger hat die Bänder der Eingangstür vor drei Tagen mit neuem Fett versorgt. Wie nicht anders zu erwarten, tauchte er zur Abendzeit, als alle Ranzlower zum Kulturhaus strebten, mit der größten Fettpresse hier auf, die er in der Werkstatt der LPG finden konnte. Nach der Absperrung der Eingangstreppe mit Hilfe von rot-weiß-gestreiften Verkehrskegeln und einer Unmenge Absperrbandes, begann er das Wälzlagerfett in die Scharniere zu pressen. Den Ranzlowern blieb nichts weiter übrig, als die kostenlose Krüger-Show vor der Treppe zu genießen. Sie mussten so lange vor dem Abspannband verharren, bis Krüger die umständliche Wartung der Scharniere abgeschlossen hatte. Der Bürgermeister war so verärgert über die verspätete Ankunft am Stammtisch, dass er Krüger an diesem Abend das Freibier verwehrte. Wofür dieser sich mit einer zwanzigminütigen Protestrede wider den Amtsmissbrauch bedankte. Die Ansprache endete erst, als alle Anwesenden den Bürgermeister überzeugten, Krüger doch sein Freibier zu geben.

Auf jeden Fall kann Birgit sicher sein, dass die Tür beim Öffnen keinen Laut von sich gibt. Vorsichtig sieht sie durch die geöffnete Tür in den Gastraum. Auf den ersten Blick erkennt sie die Inneneinrichtung nicht wieder. Der Raum wirkt größer, offizieller: Auf der kleinen Bühne steht ein einsamer Tisch mit einer Leselampe und einem Stuhl. Die Tische sind im hinteren Teil des Gastraumes aufgestapelt und die Stühle in mehreren Reihen vor die Bühne gestellt. Alle Stühle sind besetzt. Zaghaft tritt sie durch die Tür und schließt sie sanft hinter sich. Es nutzt nichts, sie wird trotzdem bemerkt. In dem Augenblick, als sie den Raum betritt, verstummen die Gespräche und es kehrt eine Ruhe ein, die sie im Ranzlower Kulturhaus noch nie erlebt hat. Oh Gott! Da können selbst eingefleischte Atheisten gläubig werden: Wird sie diese Erwartung ohne spirituelle Hilfe erfüllen können? Die Hilfe ist ganz und gar irdischer Art. Rolf nimmt die Journalistin bei der Hand führt sie auf die Bühne. Der Saal scheint nur aus Augen zu bestehen, die alle auf sie gerichtet sind. Birgit traut sich nicht, mit der Lesung zu beginnen. Das Durchbrechen der Stille erscheint ihr als Unhöflichkeit, es kommt ihr vor wie ein blasphemischer Akt an einem heiligen Ort. Rolf bringt ein Bier auf die Bühne und stellt es vor Birgit auf den Tisch.

"Prost, auf einen interessanten Abend!", damit beendet er die magische Stille.

"Wie der eine oder andere von euch weiß, war Birgit mit mir vor einigen Monaten in der großen Stadt. Und es war schrecklich - für mich."

Krüger sprintet auf die Bühne. Eine Ansprache ohne ihn? Das war nicht möglich. Er stellt sich neben Rolf. Der eine steht links und der andere rechts von dem Lesetisch. Birgit sitzt zwischen beiden und blickt erstaunt zwischen ihnen hin und her. Auch die Zuhörer im Saal sind erstaunt. Sie erwarten eine Buchlesung, kein Bühnenstück.

"Beinahe wäre der blaue Rolf wiederaufbereitet worden."

"Stimmt, ich war in einer blauen Papiertonne eingeschlossen, ist irgendwie passiert."

Aus der großen Gruppe der Anwesenden im Saal kommt ein lautes Kichern. Ab und zu 'passieren' dem blauen Rolf nun einmal absurde Dinge. Das ist Ranzlower Alltag.

"Ja, lacht nur über mich. Ich würde gern wissen, wie ihr euch in so einem engen und dunklen Kasten fühlen würdet!", ist Rolfs Antwort auf das nun in Gelächter übergehende Kichern.

"Zeig doch einfach 'mal, wie das war. Dann können das alle nachfühlen.", schiebt Krüger nach.

Rolf setzt sich auf den Boden, zieht die Knie heran und sucht in der rechten Jackentasche nach etwas.

"Also zuerst war es dunkel... ahh, da ist sie ja... dann wurde es etwas heller.", er zieht eine Stirnlampe aus der Tasche und streift sie sich über den Kopf.

"Und vom wenigen Sauerstoff im Abfallkasten ist dir ganz komisch im Kopf geworden und du hast das alles zusammenfantasiert.", sprudelt Krüger hervor.

"Ach Quatsch! Wir haben Attilas Ordner gesucht und dabei habe ich die Notizen gefunden."

"Mit einem Traktor wäre dir das nie passiert." Der unterbrechende Zwischenruf kommt vom Ghostrider, der im hinteren Teil des Saales sitzt.

Birgit nutzt diese Gelegenheit, um mit der Lesung zu beginnen. Die aufgelockerte Atmosphäre hilft ihr. Egal, ob Rolf das so plante, oder es eine sponate Aktion war. Sie ist ihm dankbar für die Einleitung. Die Journalistin schlägt ihre Lesemappe auf und rückt die Lampe zurecht, damit diese ihren Lichtkegel mittig über der Mappe ausbreitet. Zuerst nimmt sie die oberen fünf Blätter vom Stapel und legt diese nach rechts.

"So, die beiden haben bereits die Einleitung erzählt - nein: vorgespielt. Ab hier übernehme ich."

Krüger zeigt ein enttäuschtes Gesicht. Seine Show ist für heute Abend beendet. Rolf freut sich, dass der Anfang getan, die Stille überwunden und Birgit mit der Lesung beginnt. Beide setzen sich links und rechts von ihr auf die Bühne und lassen die Beine in den Zuschauerraum baumeln. Sie bewachen Birgit, als wären sie zwei Gargoyles - still, aufmerksam, nur mit schaukelnden Beinen.

"Die Notizen mit den Träumen habe ich literarisch umgearbeitet. Sie sind nun verständlicher. An einigen Stellen musste ich natürlich einiges ergänzen. Ich hoffe, euch wird es gefallen. Fangen wir also mit dem ersten Traum, der ersten Geschichte an. Den Träumer kennt ihr sicherlich. Er hat inzwischen der Politik abgeschworen und sein Einverständnis zur Namensnennung gegeben. Die anderen Geschichten sind anonymisiert. Kommen wir also zu den erschreckenden Erlebnissen mit den Horden von Killerkaninchen."

Damit beginnt Birgit, die erste Traumgeschichte zu lesen.

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Das letzte Blatt, das Birgit mitgebracht hat, wandert von links nach rechts auf ihrem Tisch. Sie schiebt die Papiere in die Lesemappe und klappt diese zu. Im Saal ist es leise, zu leise, sagt ihr Gefühl. Hat es den Ranzlowern nicht gefallen? Ein Rundblick zeigt ihr das Gegenteil.

"Schon aus? Schade!", lässt sich Krüger hören, der inzwischen wieder auf einem Stuhl sitzt.

Neben Krüger sitzt sein Freund Meier. Der ist eingeschlafen - war wohl ein anstrengender Tag in der Werkstatt. Krüger beginnt laut, nur fünf Zentimeter neben Meiers linkem Ohr zu klatschen. Von den Luftbewegungen werden Meiers Haare aufgewirbelt. Dieser wird schlagartig wach, schreckt hoch und fällt vom Stuhl. Der ganze Saal lacht und klatscht ebenfalls. Alle sehen zur Bühne. Durch das laute Klatschen fällt niemandem auf, dass die große Eingangstür aufgestoßen wird und eine seltsame Gestalt mit langen, gestreckten Sprüngen in den Saal stürzt.