Recyclingarchäologie
Die Berliner leben aber frisch drauf los:
Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense
Und das ist Gewinn, also haben sie Recht.
Als der Hausmeister, Rolf und die Journalistin das Haus in Richtung Innenhof verlassen, begegnen ihnen bald die ersten Abfallbehälter. Diese bevölkern eine Stellfläche auf dem Innenhof. Rolf möchte sofort über den ersten, blauen Container herfallen.
"Warten sie doch. Was suchen sie überhaupt? Der entthronte Politiker wird doch nicht all sein Zeugs zurück wollen? Das hat er ein ganzes Jahr nicht benötigt..."
Rolf sieht den Hausmeister an. Natürlich hat dieser Recht. Bestimmt kann er ihnen den kürzesten Weg zu der Ablage der gesuchten Ordner weisen.
"Attila hat uns beauftragt, seine Ordner zu holen. Wissen sie, in welche Tonne diese gelangt sind? Den ganzen Rest der Wohnungseinrichtung kann die Müllabfuhr gern haben."
"Hmm, das weiß ich auch nicht so genau." Der Hausmeister sieht Rolf nachdenklich an. "Nach der Zerstörung der Haustür und dem vielen Blut vor der Wohnung, war die Polizei hier. Ich glaube mich zu erinnern, dass die auch Unterlagen mitgenommen haben."
Birgit und Rolf sehen sich schon mit einem leeren Auto wieder nach Ranzlow fahren. Ein Misserfolg würde die gesamte 'Binärschaum'-Aktion gefährden. Rolf mag so schnell nicht aufgeben.
"In welche Tonne sind denn nun die restlichen Unterlagen gewandert?"
"Oh, das kann ich so genau nicht sagen. Dazu muss ich zuerst die Kollegen befragen, die mir geholfen haben. Ich habe die Aktion nur koordiniert und musste mich zwischendurch um einen Wasserschaden kümmern. Das war eine absurde Situation, kann ich ihnen sagen: An einem trockenen Tag hat es in der obersten Etage 'durchgeregnet'..."
Jetzt wird auch Birgit unruhig: "Äh, gut - können sie die Kollegen jetzt anrufen und fragen?"
"Ach, wir können einfach zu ihnen gehen. Sie sind augenblicklich zwei Blocks weiter beschäftigt."
Der Hausmeister möchte sich gern noch mit der hübschen Journalistin unterhalten und natürlich vor seinen Kollegen mit der neuen Bekanntschaft ein wenig angeben. Außerdem gilt wie immer: Wenn er Informationen vermittelt, ist er wichtig. Da der wichtigste Hausmeister die Arbeitseinteilung vornimmt, bestimmt der Grad der Wichtigkeit also auch die Schwere der Arbeit. Diesen Vorteil muss er sich natürlich verschaffen.
"Bigi, geh du mit dem Herrn Hausmeister mit. Ich bleibe hier und untersuche schon einmal den Inhalt des Altpapiercontainers." Rolf möchte keine Zeit mehr verschwenden und Wichtigtuer kann er nicht ausstehen.
"Viel Spaß bei der Recyclingarchäologie! Ich sammle dich dann nachher wieder ein."
"Wirklich? Überlass' mich nicht dem Moloch!"
Birgit freut sich, erst einmal nicht die Tonnen durchsuchen zu müssen, winkt ihm zu und geht mit dem Hausmeister in Richtung der Straße zurück. Der große, dunkle Schlund des Hausdurchganges nimmt sie auf. Rolf beobachtet wie der Schatten die beiden verschlingt.
****
Nachdem beide im Hausdurchgang verschwunden sind, öffnet Rolf die blaue Papiertonne. Sie sollte durch eine Kette und ein Vorhängeschloss gesichert sein, die den Deckel mit dem Rest des Containers verbinden. Zu seinem Glück hat ein Mieter das Abschließen vergessen. Der große Deckel gleitet leicht zurück und gibt die Sicht auf das Innere frei. Rolf schätzt, dass die Tonne maximal zu einem Viertel gefüllt ist. Da er das Papier am Boden des großen Containers nicht von außen erreichen kann, beschließt er, in die Tonne zu klettern. Das Papier ist sauber und trocken, er wird sich also nicht einmal beschmutzen. Eine leichte Arbeit erwartet ihn und bis Birgit wieder hier ist, kann er bereits die erste Tonne durchsucht haben. Natürlich freut er sich auf neue 'Sinnloskommunikation': Wenn er die Ordner findet und Birgit ganz umsonst die Wanderung durch die Wohnanlage unternommen hat, kann er sich die ganze Rückfahrt über damit brüsten. So hockt er in der Altpapiertonne und wühlt sich durch alte Zeitungen und Verpackungsmaterial. Ab und zu findet er ein Schriftstück, jedoch nichts, was auf die Ordner von Attila hindeutet. Mit einem Mal zieht er einen Packen mit handschriftlichen Notizen bedeckter Blätter unter seinen Füßen hervor. Ein alter Aktendulli hält sie zusammen. 'Wer entsorgt denn handschriftliche Notizen? Die sind doch ganz individuell, ein Stück seiner selbst?' Rolfs Interesse ist geweckt und er beginnt zu lesen. Die ersten Blätter sind noch schwer zu entziffern. Nach einigen Minuten Eingewöhnung bereitet ihm die eigenwillige, ausgeprägte Schrift keine Probleme mehr. Mit jedem Blatt, das er aufdeckt und liest, wird der Fund mysteriöser. Schnell hat er seinen Auftrag vergessen. Bereits die ersten Seiten des großen Papierbündels fesseln seine ganze Aufmerksamkeit. Was steht dort? Killerkaninchen bevölkern einen Flughafen? Rolfs Augen werden groß und sein Puls beschleunigt sich. Diese Notiz klingt wie ein Tatsachenbericht, lebendig und fesselnd geschrieben. Aufgeregt blättert er durch den Stapel und hält bei einem Blatt in der Mitte an. Wählerzombies stürmen einen Turm? Er lässt das Bündel Papier fallen und betrachtet entsetzt das Deckblatt. 'Unsortierte Notizen Psychologische Praxis Dr. Ru...' ausgerechnet dieses Blatt hatte gelitten. Der Name ist nicht mehr erkennbar und weitere Beschriftungen lassen sich beim besten Willen nicht entziffern. Trotzdem beruhigt das Rolf - es kann sich also nicht um Beschreibungen einer existierenden Realität handeln. Sein Interesse ist neu angestachelt, er greift sich wieder den Block der Notizpapiere und setzt sich bequem auf den Boden der Altpapiertonne. Die Killerkaninchen interessieren ihn ganz besonders.
Ein kleines Kind strebt im schnellen Lauf auf die Tonnen im Hinterhof zu. Den linken Arm beim Laufen steif nach vorn ausgestreckt, hält es einen Schlüssel in der Hand. Es trägt diesen wie eine Monstranz vor sich her, behält ihn immer im Blick und ist eifrig bemüht, das kleine Stück Metall nicht fallen zu lassen. Als es die Papiertonne erreicht, prallt es fast gegen diese. Der Junge reißt den rechten Arm nach vorn und stößt sich von der Tonne ab. Diese abrupte Negativbeschleunigung wandelt alle Bewegungsenergie in ein lautes Scheppern um. Der Deckel der Papiertonne summt noch Sekunden später leise vor sich hin. Rolf hört das Summen nicht. Der laute Knall des Schlages hallt im Innern der Tonne wie ein Gongschlag. Zuerst sinkt er halb betäubt auf den Boden und dann fühlt er sich wie im Innern einer großen Glocke. Außerhalb und innerhalb seines Kopfes dröhnt es. Neben der Tonne sucht der Junge nach dem Schloss an der Kette. Er hat wohl bei der Entsorgung seines Papierkorbes vergessen, die Tonne wieder zu verschließen. Als Verschlusstäter hat er unbeabsichtigt Rolf die Inspektion des Inhaltes gestattet.
Ganz plötzlich wird es dunkel in der Tonne - stockdunkel. Rasselnd gleitet die Kette durch die Handgriffe. Mit einem kalten, harten Klicken rastet das Vorhängeschloss ein: gefangen. Rolfs erster Impuls ist, sich lautstark zu melden. Jedoch summt noch immer der Gong in seinem Kopf und verzögert die Ausführung dieser Idee. Schon der zweite Gedanke hält ihn davon ab. Was soll der Schließer von ihm denken? Er sitzt in einer Papiertonne und liest. Das ist absurd - zumindest ist das nicht Ausdruck eines normalen Verhaltens. Er setzt sich auf und überlegt. Eventuell sind Teile aus seiner Überlebensausrüstung für eine Befreiung nutzbar. Die rechte Jackentasche birgt ein Multitool, eine brauchbare Kombination aus verschiedenen Schraubendrehern, Messern und Zangen. Nach kurzer Überlegung kommt er zu dem Schluss, dass das Metall der geschweißten Tonne zu massiv ist und damit nicht zu zerlegen sein wird. Es ist enttäuschend, dieses hoch entwickelte Hilfsmittel ist ganz und gar nutzlos für eine Flucht aus seinem Blechgefängnis. Beim Abtasten der Jacke bemerkt er eine verdächtige, harte Beule in der linken Tasche. Ihm fällt nicht ein, was er dort verstaut hat, so sehr er sich auch anstrengt und nachdenkt. Also greift er mutig in die Tasche und zieht etwas heraus, das aus langen, breiten Gummibändern besteht. Zumindest fühlt es sich so an. Leider kann er in dem lichtdichten Käfig nichts sehen und schon gar nicht das, was er da aus der Tasche gezogen hat. Er wird doch nicht etwa Birgits Unterwäsche eingesteckt haben? Vorsichtig tastet er an dem seltsamen Gebilde entlang. In der Mitte findet sich eine Verdickung. Beim Abtasten ertönt ein leises, fast unhörbares Klicken und ... es wird hell im Container. Rolf schließt automatisch die Augen. Nachdem er angestrengt versucht hat, die Dunkelheit seines Gefängnisses zu durchdringen und irgendetwas zu sehen, blendet ihn das schwache Licht der Stirnlampe. Nun, Licht hat er also - damit wird es zumindest nicht langweilig, er kann weiter in den gefundenen Notizen lesen. Hoffentlich kommt Birgit irgendwann und befreit ihn. Jetzt hat er erst einmal etwas Ablenkung.