Auch das noch

Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verliert, geht immer noch geschwinder als der, der ohne Ziel herumirrt.

Gotthold Ephraim Lessing

Der Dacapo hetzt seinen 1970-er Dienstoldtimer, den überblauen Einsatzwagen, wieder einmal über die Autobahn. Bei Tempo 150 überholen ihn so gut wie alle anderen Fahrzeuge, die etwas 'hermachen'. Nur die Lastkraftwagen und Kleinwagen sind ihm unterlegen. Er wird von der Situation beherrscht und seinem Gestaltungsspielraum sind wirkliche Grenzen gesetzt. Programmatisch und folgerichtig senkt das seine Laune auf einen Tiefpunkt. Es ist nicht der tiefste Tiefpunkt in seinem Leben, zum Glück für seine direkte Umwelt. Niedrige Geschwindigkeit lässt sich leider nicht durch beeindruckendes Aussehen und einen röhrenden V8-Block ersetzen. In der Stadt erregt der Dacapo mit dem Wagen Aufsehen. Auf der Autobahn erzeugt er nur Aufregung als rollendes Verkehrshindernis. Sein ständiger Begleiter, die bellende Miezi, hat sich auf dem Beifahrersitz zusammengerollt. Der kleine Pekinese hat sich heute fest entschlossen, diese Position nicht aufgrund unbeabsichtigter Notbremsungen oder anderer Begebenheiten zu verlassen. Heute nicht! Der Herbsttag ist bisher ganz manierlich verlaufen: Es ist relativ warm und das Auto dröhnt einschläfernd gleichmäßig.

Der Dacapo ist schon am frühen Morgen zappelig und aufgeregt. Das Ziel der Ausfahrt verunsichert ihn offensichtlich. Mit dem Ort Ranzlow verbinden ihn keine heroischen Erinnerungen. Dessen Einwohner sind eigensinnig und akzeptieren, aus für ihn unerfindlichen Gründen, keine behördlichen Autoritäten. Bei seinem letzten Einsatz in Ranzlow war er sich nackt vorgekommen, vollständig beraubt seiner schützenden, staatsgewaltigen Befugnisse. Dieser anonymisierende Beamtenpanzer funktioniert dort nicht. So ist es kein Wunder, dass der Auftrag ihm ungelegen kommt. Ganz zu schweigen von dessen 'Delikatesse' und den Nebenbedingungen. So unbehaglich er sich unter den Ranzlower Bürgern fühlt, sie ohne richterliche Anordnung zu verhaften, ist nicht zulässig. Auch wenn er die gewaltige Staatsmacht repräsentiert, dazu ist er nicht berechtigt und das ist ein ungerechter Missbrauch der Staatsgewalt. Für den Dacapo gibt es da durchaus Unterschiede. Ein Machtmissbrauch hat für ihn viele Abstufungen zwischen 'berechtigt' und 'ungerecht'. Leider hat bisher keine passende Idee sein Bewusstsein erreicht, wie der den Auftrag ausführen kann, ohne ihn zu erfüllen. Da er sich während der Fahrt sein Hirn nicht weiter zermartern möchte - schließlich bereitet das Schmerzen und er ist alles, aber kein Masochist - versucht er sich mit den lokalen Radioprogrammen abzulenken. Schlager, Schlager, nerviges Gequatsche, Schlager, Volksmusik, Blasmusik, Schlager, ... nicht einmal die Verkehrsnachrichten sind eine Abwechslung: überall freie Fahrt. Das gibt es doch nicht! Der Dacapo beschließt, selbst für Abwechslung zu sorgen. Er fährt in die linke Spur und reduziert seine Geschwindigkeit auf 110 km/h. Dort bleibt er. Neben ihm, in der rechten Spur, ziehen in einem Zeitlupentempo die Lastkraftwagen vorbei. Die Häfen in Rostock und Hamburg sind offensichtlich leer und müssen vollständig neu befüllt werden. Die endlose Reihe der rollenden Container-Transporter hat nur wenige, kurze Lücken. In diesen fährt er vorsorglich mittig, zwischen den beiden Spuren. Sein breiter, amerikanischer Oldtimer ist somit unüberholbar. Die lange Reihe an Fahrzeugen aller Art wächst hinter ihm zügig. Direkt an seinen Rücklichtern tänzelt ein Audi-SUV ununterbrochen von der linken zur rechten Fahrbahnkante und zurück. Der Abstand zwischen den beiden Wagen wechselt beständig zwischen zehn und einem Meter. Dem Dacapo gefällt das. Wenn der Audi-Fahrer ihm die Rücklichter zerbeult, kann er diesen wegen mutwilliger Beschädigung eines behördlichen Dienstfahrzeuges verhaften und seinen Einsatz abbrechen - eine mögliche Lösung des Dilemmas, in dem er sich aktuell befindet. Das Aufblitzen der Lichtsignale aus den Frontscheinwerfern seines Verfolgers wird immer nervöser und hektischer. Der Dacapo fühlt sich von den Lichtreflexen in den Spiegeln geblendet und setzt eine Sonnenbrille auf. Na bitte, geht doch!

Einige Minuten später beginnen die ersten unter den entschleunigten Autofahrern zu hupen. Wie eine Laola-Welle im Stadion wandert das Hupen vom ersten Fahrzeug zum letzten und wieder zurück. Der Dacapo stimmt in das Konzert mit ein. Immer wenn der große Audi hinter ihm das akustische Warnsignal betätigt, vergilt er Gleiches mit Gleichem. Offensichtlich gefällt das allen Anwesenden, denn es nimmt kein Ende. Einzig und allein Miezi ist nicht amüsiert. Die akustische Belästigung hat den kleinen Hund aus dem Schlaf aufgeschreckt. Jedes Mal, wenn die Welle aus Tönen heranrollt, duckt er sich und legt die Ohren an. Offensichtlich hat er Angst vor einem tonalen Einschlag. Nach fünfzehn Minuten verliert auch der Dacapo die Lust an dem Spiel. Da die Autobahn die nächsten Kilometer keine Kurve aufweist, kurbelt er mit der linken Hand die Scheibe der Fahrertür herunter und greift gleichzeitig mit der rechten Hand über seine Schulter. Er zieht seine mächtige, zehnzöllige Dienstwaffe, den brüllenden Wüstenadler, aus dem Rückenholster seines schweren Ledermantels hervor. Das gewaltige Schießeisen mit dem halbzölligen Kaliber glänzt in den Strahlen der bereits tief stehenden, nachmittäglichen Sonne. Der Dacapo beugt sich aus dem Seitenfenster, richtet die Waffe auf den Audi-SUV, der gerade zum Überholvorgang ansetzt und feuert einen Schuss in dessen Richtung ab. Der Fahrer sieht die blitzende, riesige Waffe und das Mündungsfeuer. Sein Wagen ist zu gut akustisch abgeschirmt. So wird der rollende Knall nicht bis zu ihm transportiert. Allein die visuellen Reize sind bereits ausreichend: der Audi fällt abrupt zurück und vergrößert den Sicherheitsabstand auf mehr als die vorgeschriebene Entfernung. Ein wenig später hört der Dacapo in den Verkehrsnachrichten des ersten Rundfunksenders von einer Autobahnblockade. Wenig später folgt die exakte Beschreibung seines Wagens. Als fünfzehn Minuten später der dritte Sender von dem Problem auf der Autobahn berichtet, ist er endlich zufrieden. Er beschließt einen amerikanischen Imbiss bei einem der Hamburger-Bräter zu nehmen und verlässt die Autobahn. Die Fahrt auf der Schnellstraße ist für ihn erst einmal beendet.

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Gleich hinter dem Autobahnanschluss liegen die Bräter-Studios. Der Dacapo schleudert mit dem schweren Wagen in die Einfahrt. Seine Stimmung bessert sich zusehends. Die trüben Wolken der Sorgen um das Ziel seines Auftrages und der Depression einer Autobahnschleichfahrt sind verschwunden. Das Licht der Vorfreude auf einen Hamburger und Pommes frites erleuchten seine Seele. Diese Insel der inneren Glückseligkeit liegt inmitten eines riesigen, türkisblauen Meeres der Genugtuung über die Verursachung einer Verkehrsmitteilung. Für einige Minuten stand er im Mittelpunkt des lokalen Geschehens. Auch für einen, der sich als 'anonyma Zivila' bezeichnet, ist das ab und zu wichtig. Das Holpern über eine Asphaltwulst, die vor dem Parkplatz in die Straße eingearbeitet ist, weckt Miezi. Die weiche Federung des schweren, amerikanischen Oldtimers sorgt für ein hüpfendes Wiegen und Schaukeln, das erst nach dem Erreichen der Parktasche abebbt. Blubbernd gibt der Motor auf: Ruhe. Erschrocken hebt der kleine Hund den Kopf: 'Sind wir schon angekommen? Mein Futterbeschaffer ist doch sonst viel langsamer...' Bevor die bellende Miezi den Gedanken vertiefen und die Umgebung sondieren kann, reißt der Dacapo die Tür auf und greift während des Aussteigens nach dem Hund. Dieser, noch nicht vollständig bei sich und in der Orientierungsphase nach dem Aufwachen, wird starr vor Schreck. Er spreizt seine vier Beinchen ab und macht sich steif. Erstaunt blickt der hungrige Geheimpolizist auf das Tier in seiner Hand. Es sieht jetzt einem getrockneten, aufgespannten Hundefell gleich.

"Upps! Lebs'u noch?"

Um seiner Frage Nachdruck zu verleihen und ein Lebenszeichen zu erpressen, schüttelt er das Tier heftig. Natürlich gibt Miezi sofort auf, fällt schlaff in sich zusammen und lässt die Luft aus den kleinen Lungen mit einem leisen "Fufff" entweichen.

"Na jeht doch." Damit stopft der Dacapo den Hund in die rechte Außentasche seines riesigen, schwarzen Ledermantels und wirft die Tür auf der Fahrerseite ins Schloss. Mit langen, hastigen Sprüngen stürzt er auf den Eingang des Restaurants zu. Im letzten Augenblick besinnt er sich, dass das kein Einsatz und die Nutzung der Dienstwaffe wohl etwas unangemessen ist. So bleibt diese im Rückenholster des Mantels verborgen. Die großen Schulterklappen glimmen in einem intensiven Blau und erleuchten im Halbdunkel des Gastraumes die Umgebung des Dacapo gespenstisch. Die wenigen Gäste weichen instinktiv in die Spielecke aus. Sie sammeln sich an einem der Tische, die hinter einer Trennwand verborgen sind. Die große Gestalt ist ihnen unheimlich.

W25C1P2
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http://texorello.org/W25C1P2
18. Oktober 2014 16:45 Uhr
Ort: Autobahn A24
Personen: Dacapo
Objekte, Materialien: Überblauer Einsatzwagen, Miezi
18. Oktober 2014 17:10 Uhr
Ort: Hamburger-Restaurant Wittstock
Personen: Dacapo
Objekte, Materialien: Miezi, Brüllender Wüstenadler
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