Koalitionsverhandlung - Koalitionsparty

Oder die Summe der Träume

Hinter dem letzten Journalisten, der den großen Saal verlässt, schließt sich die schwere, zweiflügelige Tür. Knarrend bewegen sich beide hohe Blätter aufeinander zu. Mit einem lauten, trockenen Knall rastet das Schloss ein. Dieses finale Geräusch schließt die Außenwelt von den kommenden Koalitionsverhandlungen aus.

Nun ist es an der Zeit, die Gesichtsmuskeln zu lockern. Die Wahlschafe sind ausgesperrt. Endlich können Sorgenfalten geglättet werden und der Anschein von Bedenken verschwindet von den Gesichtern: Jetzt beginnen die Feierlichkeiten - der Koalitionsjahrmarkt! Ist dann alles geregelt und verschachert, wird ganz zum Schluss die Herde der Wahlschafe aufgeteilt und zum großen Schlachtfest getrieben. Dieser Höhepunkt der Feierlichkeiten wird eine gesamte Wahlperiode andauern - feiern ohne Ende!

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Frank fühlt sich gut, so richtig gut, atmet tief ein und blickt sich im Saal um, versucht den Augenblick des Glückes in seiner ganzen Tiefe zu erfassen. Die Tische sind in einem großen Rund aufgestellt, sodass sich alle Abgeordneten ansehen können und es kein ’hinten’ und ’vorn’ gibt. Platzkärtchen sind verteilt, Flaschen mit Getränken stehen in kleinen Gruppen daneben und für jeden liegt ein Stift - natürlich neutral, ohne Beschriftung - und ein Schreibblock bereit. Die Blätter sind in diesen verschämt klein, nur unwesentlich größer als die selbstklebenden Notizzettel, welche in Wohnungen die eintönig glatten Fronten von Kühlschränken visuell auflockern. Eine durchaus angemessene Größe für die wenigen und unnötigen Mitschriften, findet er. Schließlich wollen sie feiern und sich gemeinsam daran erfreuen, dass ihnen die Konten mit Steuergeldern nun wieder überantwortet wurden und das für viele Jahre. Oh, welches grenzenlose Glück ist ihm zuteil geworden! Er hat weiterhin Zugriff zu diesem endlosen Strom Geldes.

Der große Kreis ist nicht vollständig geschlossen, kein perfekter Ring. Immer dort, wo in der Sitzordnung die Fraktionen aneinanderstoßen würden, ist eine Lücke, ein Durchgang in den Tischkreis eingebaut. Ja, sie kennen sich alle. Viele von den Anwesenden sitzen bereits seit über einem Jahrzehnt an den Schalthebeln der Verteilung des gemeinschaftlichen Wohlstandes. Nach außen müssen die Grenzen zwischen ihnen natürlich visualisiert werden, auch wenn diese beim täglichen Umlenken der Geldströme gar nicht existieren. Schließlich ist ’Politiker’ ein Beruf wie jeder andere auch und wird somit zuerst einmal zur Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes ausgeübt. Außerdem sind die Gewählten nur ihrem Gewissen verpflichtet - und das deckt sich so ziemlich exakt mit ihrem Bankkonto. Tatsachen, die sie vor den Wahlschafen so gut wie möglich verborgen halten möchten, denn Transparenz ist das Ende von Politik. So sind heute sichtbare Trennlinien für die Fotografen in die runde Tafel integriert. Zu festgesetzten Pausen wird das Pressevolk hereingebeten. Es wird dann die Atmosphäre einer anstrengenden Sitzung dokumentieren, in der um jedes Thema aus dem Wahlkampf erbittert gerungen wird. Schwere Kämpfe und bittere Kompromisse werden vorgetäuscht. Natürlich muss für die Wahlschafe die Illusion aufrechterhalten werden. Es geht schließlich darum, den Anschein zu wahren, dass sie hier ausschließlich im Interesse der Bürger handeln.

Plötzlich tritt eine neu gewählte Abgeordnete durch den Durchgang, der direkt neben ihm die runde Tafel teilt. Tänzelnd schreitet sie in die Mitte des Raumes und beginnt sich unter dem gewaltigen Kronleuchter zu drehen, exakt im Zentrum des Tischkreises. Ihm scheint, als ob mit einem Mal die Kristalle des Leuchters über ihr in allen Farben des Regenbogens funkeln und Lichtstrahlen in pastellenen Tönen den Raum fluten. Sie breitet die Arme aus, blickt nach oben und dreht sich schneller und schneller. Das Glücksgefühl der gewonnenen Wahl scheint auch sie zu durchströmen. Sie strahlt dieses aus und erhellt den großen Raum in angenehmen Farben. Ihre Handtasche wird von den Fliehkräften nach außen geschleudert und kreist wie ein Satellit um sie herum. Wahrlich, sie ist heute im Mittelpunkt des politischen Universums. Während einer besonders hastigen Drehung verliert sie die Balance und strauchelt. Dabei überholt sie ihre Tasche, zerrt an ihrem Arm und reißt eine Gruppe von Trinkgläsern von der Tafel. Die Gläser fallen polternd auf den Boden, zerbrechen jedoch nicht, sondern rollen alle in der gleichen Richtung davon. Langsam, tastend bewegen sie sich auf Frank zu und kommen erst direkt vor seinen Füßen zur Ruhe. Es ist beinahe so, als ob sie ihn gesucht hätten und ihm eine Aufforderung überbringen möchten. Kurz entschlossen folgt er dieser, holt die taumelnde Abgeordnete aus der Mitte des Kreises und führt sie zu dem Stuhl neben seinem. Alles scheint heute ein Wunder zu sein, so auch das Namenskärtchen auf diesem Platz. Es ist auf sie ausgestellt.

Inzwischen bewegen sich auch die anderen Abgeordneten zu ihren Stühlen, der Raum im Inneren des Tischkreises leert sich und Ruhe kehrt ein. Sie wird jäh unterbrochen, als einer der letzten Stehenden einen Wandschrank öffnet und einen Rollwagen aus der bisher verdeckten Nische zieht. Das Transportgerät ist mannshoch, schmal und besitzt acht Etagen, die mit Flaschen befüllt sind. An deren Form und Farbe ist für jeden im Saal schnell zu erkennen, dass es sich um hochprozentige, alkoholische Getränke handelt. Die kleinen Rollen schnarren über den Parkettboden, der Turm aus Flaschen schwankt gefährlich während seiner Verlagerung in den Raum hinein und die Flaschen untermalen dies mit einem lustigen Klirren. Nahezu zeitgleich erscheinen zwei weitere, identische Wagen. Ihr Anblick zaubert ein Lächeln auf die Gesichter der frisch ins Parlament gewählten Politiker. Zügig werden die vielversprechenden Flaschen über die runde Tafel verteilt. Ihr Inhalt reflektiert das Licht des Kronleuchters und verstreut es als viele, kleine Leuchtpunkte über die Wände des großen Saales. Neben dem Glitzern der geistigen Flüssigkeiten erfüllt eine freudige Erwartung den Raum, sie taucht ihn in angenehme, optimistische Farben. Ein kleiner, untersetzter Mann im doppelreihigen Nadelstreifenanzug stellt sich direkt unter den gewaltigen Leuchter. Es ist exakt die Stelle, an der zuvor die neue Abgeordnete tanzte. Das schwarze Haar ist straff nach hinten gekämmt, wird von einer Unmenge Gel in seiner Zwangsposition gehalten und glänzt feucht im Licht der Lampen. Seine gesamte Erscheinung erinnert ein wenig an einen Abgesandten von einer großen, vulkanischen Insel im Süden Italiens. An den ausgebreiteten Armen beginnen die hellen Streifen des Sakkos zu leuchten. In ihnen sammeln sich die farbigen, freudigen Erwartungen und glitzernden Reflexionen, wandern von den Schultern zu den Händen und sprühen als Regenbogen der Verheißung in den Raum.

”Koalitionsparty!”

Der laute Ausruf lässt alle Sitzenden aufspringen.

”Die Stühle in den Mittelraum! Wir wählen den Zeremonienmeister!”

Ein großes, mit Wodka gefülltes, Glas in der Hand, sieht ihn die neu gewählte Abgeordnete erstaunt an. Vor wenigen Minuten hat er sie zu ihrem Platz geleitet, direkt neben seinem eigenen. Sie hat wohl einen anderen Ablauf der Koalitionsverhandlung erwartet. Er prostet ihr zu, trinkt den Wodka aus seinem Glas mit einem Zug aus, greift sie bei der Hand und geht in den Innenraum des Tischkreises. Mit der einen Hand zieht er seine Tischnachbarin hinter sich her und mit der anderen seinen Stuhl. Zu seinem Glück hat dieser Rollen, was den einhändigen Transport ungemein erleichtert. Rasch entsteht eine Doppelreiche aus Stühlen mit aneinandergesetzten Rücken. Aus der Beschallungsanlage des Saales dringen keine endlosen und trockenen Reden, in denen um einen Konsens gerungen wird, sondern Schlager der 60-er und 70-er Jahre. Wenche Myhre fährt mit einem knallroten Gummiboot hinaus und kommt erst im Abendrot wieder nach Haus. Ausgelassen tanzen Menschen um die lange Reihe von Stühlen herum. Hochprozentige Getränke werden dabei getrunken und auch verschüttet. Ja, so funktioniert Politik im Alltag! Die Luft im Saal wird warm, dick und riecht nach Alkohol - Koalitionsparty. Immer wieder stoppt die Musik und die Tanzenden versuchen, sich auf den nächsten Stuhl zu setzen. Wer keinen abbekommt, muss die Tanzfläche verlassen und einen Stuhl mitnehmen. Nach und nach leert sich der Innenraum wieder und ganz zuletzt torkelt nur noch ein Politiker angetrunken neben dem letzten Stuhl. Damit hat der Stuhltanz sein Ende gefunden und ein Zeremonienmeister ist bestimmt.

Frank und seine Sitznachbarin befinden sich bereits eine längere Zeit wieder auf ihren Plätzen hinter der Tafel. Sie sind frühzeitig ausgeschieden und haben die Tanzpause gut genutzt. Eine leere Flasche Doppelkorn steht zwischen ihnen auf dem Tisch.

”Aha - ja. Da hab’n wir ihn - den Zemo-reno-momiemeister...”, artikuliert er mit schwerer Zunge und versucht nach der leeren Flasche zu greifen.

Mit dem dritten Versuch hat er Erfolg und bekommt sie endlich in die Hand. Er beugt sich vorsichtig unter den Tisch und gibt der Flasche etwas Schwung. Diese rollt langsam zum letzten der Stuhltänzer, der einsam in die Mitte des Raumes steht und sein Glück immer noch nicht fassen kann. Vor dessen Füßen kommt die Flasche kollernd zum Stillstand. Schief lächelnd, beugt sich der Zeremonienmeister zu der Flasche nach unten und versetzt sie in eine Drehbewegung.

”So. Jetzt geht’s um den Finanzer - Panzer - äh, nein: Finanzminister. So Gott will, steht die Flasche still und zeigt, wer hat’s nicht vergeigt.”

Der schwerfällig und mit leichtem Lallen vorgetragene Schüttelreim soll die folgenden Abläufe erklären. Die Abgeordnete scheint den Sinn jedoch nicht vollständig verstanden zu haben. Sie kippt ruckartig den Kopf auf die rechte Schulter und sieht ihren Sitznachbar fragend an.

”Was meinte der Kollege damit?”

Frank lächelt freundlich und wissend. Mit einem Zug trinkt er das letzte Glas des hochprozentigen, alkoholischen Getränkes aus und lächelt anschließend weiter.

”Na das ist ’Flaschendrehen’! Kennst du bestimmt aus deiner Kindheit. Wenn die Flasche aufhört sich zu drehen, zeigt sie auf den neuen Finanzminister.”

”Waaas?”

Hochgezogene Augenbrauen unterstreichen die Verwunderung in der Frage. Sie hat mit allem Möglichen auf dieser Veranstaltung gerechnet, nur damit nicht.

”Flaschendrehen funktioniert so. Jetzt werden die neuen Posten verteilt”, erklärt er ihr in einem betont beiläufigen Ton und greift nach einer noch ungeöffneten Flasche Doppelkorn.

”So funktioniert das?”

”Ja, was hast du denn gedacht?”

”Na so demokratisch, so - mit Verhandlungen und so”, versucht sie, ihre Erwartung bezüglich des Ablaufes einer Koalitionsverhandlung zu beschreiben.

Dabei hebt sie ruckartig bei Arme und spreizt sie zur Seite ab, visuell eine Frageskulptur spielend. Mit der rechten Hand kommt sie ihrem Trinkglas bedenklich nahe und Frank kann es gerade noch retten. Während er ihr von dem neuen Doppelkorn einschenkt, erklärt er obenhin, was er von dieser Vorstellung hält.

”Warum, das ist stink langweilig und macht außerdem gar keinen Sinn”, Punkt!

”Wegen der Kompetenzen und so ...”, protestiert sie.

”Wieso?”

”Na Finanzminister kann doch nicht jeder.”

”Nein, natürlich kann das nicht jeder - und so ganz eigentlich kann das niemand von den Anwesenden. Deshalb ist es gut, wenn wir einfach den Zufall entscheiden lassen.”

”Ah?”

”Prost!”, er erhebt sein Glas in ihre Richtung: ”... und erfreuen wir uns an der Postenlotterie mit Flaschendrehen! Einfach die Veranstaltung genießen. Dieses Event gibt es in jeder Wahlperiode nur ein einziges Mal.”

Immer wieder wird die Flasche in Rotation versetzt und trudelt anschließend langsam aus. Ein Posten nach dem anderen wird verteilt. Zügig werden Ämter und Ministerien mit neuen Führungspersonen besetzt. In dem gleichen Maße, wie diese sich befüllen, werden die Flaschen geleert. Es sind Unmengen davon vorhanden und schließlich zahlen die Wahlschafe die Party. Es gibt also jede Menge Gründe, kräftig zuzulangen. Der Wodka hat es den Gästen der Koalitionsparty ganz besonders angetan. Es ist beinahe so, als ob der Anschluss an die paneuropäische Wodka-Pipeline bereits erfolgte und aus deren Verteilzentrum in der Samara-Region alle verfügbaren Reserven in diesen Saal gepumpt werden. Schließlich ist es soweit, das letzte Ministerium steht zur Verteilung an. Es ist das Bildungsministerium, das aus Sicht der Abgeordneten unwichtig und mächtig unbeliebt. Schließlich setzen nur dumme Wähler dort Kreuze auf dem Wahlzettel, wo es ihnen die Werbung vorgibt. Wissen und Aufklärung regen zum selbständigen Denken an. Das kann die Position der gewählten Meinungsvertreter in der Verteilung des gemeinschaftlichen Wohlstandes gefährden.

Aus diesem Grund wird das gefährlichste Ministerium am Ende der Veranstaltung vergeben. Wer möchte schon mit zu viel Kompetenz die eigene Kaste ins Verderben führen. Die Last dieser Verantwortung ist nahezu unmenschlich und unzumutbar. Der Zeremonienmeister muss sogar zweimalig die Flasche zur Hilfe nehmen, da der zuerst Bedachte die Wahl ablehnt. Er täuscht einen Herzinfarkt vor und signalisiert damit, dass er gesundheitlich ungeeignet ist, dieses Übermaß an Verantwortung zu übernehmen. Der zweite Versuch der Flasche bestimmt einen Abgeordneten, der bereits soviel Wodka getrunken hat, dass er die Situation nicht mehr einschätzen kann. Er nimmt die Wahl an und ein allgemeines, lautes Aufatmen geht durch den Saal.

”Das - war’s - jetzt?”, fragt ihn seine Sitznachbarin langsam.

In ihrer Stimme schwingt deutlich hörbar Enttäuschung mit. Sie zieht einen Schmollmund und starrt auf die leere Flasche, die inzwischen verwaist und reglos in der Mitte des Saales liegt.

Nach einem tiefen Seufzer ergänzt sie: ”... och - und ich dachte, jeder bekommt einen schönen Posten. Für mich war gar keiner dabei ...”

Überrascht sieht er sie an und versucht ihr in die Augen zu blicken. Dafür muss er seinen Blick auf einen Punkt konzentrieren. Der viele Alkohol, den er bereits konsumierte, verlangsamt das Fokussieren deutlich. Insgesamt ist das kein unangenehmes Gefühl, verhindert es doch jegliche Hektik und ihre grünen Augen sind faszinierend. In dem Augenblick, in dem er sie deutlich sieht, schießt ihm eine Idee durch den Kopf.

”Na dann erfinden wir einen für dich ...”

”Wirklich, das willst du für mich tun?”

”Klar!”, und wissend ergänzt er: ”Es wäre nicht das erste Mal, dass wir dies tun.”

In Richtung des verantwortlichen Flaschendrehers, ruft er in den Raum: ”Hey Zeremonienmeister, es gibt noch ein allerletztes Amt zu verteilen!”

Der Angerufene wendet sich zu ihm um und blickt verdutzt und irritiert zurück. Ganz sicher wurde nichts vergessen. Keines der Ämter ist unbesetzt.

”Was meinst’?”

”Du hast den Posten des ’Weideministers’ vergessen. Wie konntest du nur nicht daran denken.”

”Hä?”

”Jetzt ist das ’Weideministerium’ ohne Führung - wie traurig! All die gefleckten Kühe werden verhungern und Osterhasen wird es auch nicht geben ...”

Der Zeremonienmeister des Flaschendrehens sieht ihn immer noch mit weit aufgerissenen Augen an. Hat der Frank bereits zu viel Schnaps getrunken? Der erzählt doch groben Unfug. Das wäre nicht das erste Mal, schließlich ist er seit Jahren für übermäßigen Alkoholgenuss bekannt. Keine Party ist vor ihm sicher und in jedem Falle ist er unter den letzten Gästen. Dann sieht er den Blick, mit dem Frank seine Nachbarin ansieht und nimmt ihren Gesichtsausdruck wahr. Endlich begreift der Zeremonienmeister, schreitet würdig noch einmal in die Mitte des Raumes und versetzt die Flasche in Rotation. Eine leichte, geschickte Berührung mit der Spitze des linken Schuhes stoppt sie exakt in dem Augenblick, als sie auf die Abgeordnete neben Frank zeigt. Diese springt sofort auf und reißt die Arme jubelnd in die Höhe. Der ganze Saal klatscht und feiert sie als neue Herrin über die grünen Weiden des Landes. Nachdem sie sich vorsichtig in alle Richtungen verbeugte, setzt sie sich wieder. Ihr Gesicht strahlt Zufriedenheit und Ruhe aus. Frank beobachtet erstaunt, wie der Raum wieder in pastellenes Licht getaucht wird. Glücklich beugt sie sich zu ihm hinüber, um ihn zu küssen ...

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In diesem Augenblick klingelt sein Smartphone und weckt Frank. Aus, der schöne Traum ist unterbrochen! Auch drei Minuten später gibt der nächtliche Anrufer nicht auf und lässt das Telefon ununterbrochen klingeln. Jetzt wünscht er sich, einen angenehmeren Ton eingestellt zu haben. Vielleicht wäre er bei einem sanfteren wieder in den Schlaf gefallen und sein Traum würde sich fortsetzen. Schließlich war die Party noch nicht beendet und schien auf einen neuen Höhepunkt zuzusteuern. Nun reißt ihn jedoch das lärmende Gerät in die Realität und den wachen Zustand. Er merkt, dass Wut in ihm aufsteigt. Sein Psychologe riet ihm, in dieser Verfassung nicht zu telefonieren, da er dabei zu Überreaktionen neigt. Trotzdem greift er nach dem kleinen Gerät, das diesen mächtigen Lärm veranstaltet und nimmt das Gespräch an.

”JAAAAAAAAAAHAA!”, so - jetzt die Nachbarn in den angrenzenden Wohnungen ebenfalls wach.

Nach einer deutlichen Pause meldet sich schüchtern und vorsichtig fragend sein Assistent: ”... j-a?”

”Sage ’mal, zahle ich dir zu viel? --- Nein, ich weiß: Du bist komplett bescheuert! Du bist gefeuert, du Flasche!”

Aus der Wohnung links neben ihm wird bereits an die Wand geklopft. Wahlschafe, pah! Die sollen sich nicht so haben, die Wahl ist gelaufen und er sitzt jetzt wieder am Steuer. Sollen die auf der Weide grasen, immer schön die Köpfe senken und falls sie sich nicht ruhig verhalten, lässt er die Hunde los. Ungerührt brüllt er weiter in das Telefon.

”Wenn du nicht einen wirklich guten Grund für die Störung hast, werfe ich dich morgen der Presse zum Fraß vor! Ich lasse dich für alle politischen Skandale der vergangenen zehn Jahre verantwortlich machen!”, dabei lässt er Mittelfinger und Daumen der rechten Hand laut schnippen.

Mit einem Anflug von Genugtuung, Schadenfreude und ob der Drohung bereits in leicht gebesserter Laune, fügt er hinzu: ”Glaube mir, ein Scheiterhaufen ist ein Wellnessurlaub dagegen.”

Im Telefon herrscht Ruhe, erschrockene, panische Stille. Nur ein hastiges, flaches Hecheln ist zu hören. Kurz bevor Frank die Verbindung beenden möchte, meldet sich sein Assistent doch noch.

”... ja, also ... da ist etwas ... was ich ihnen sagen muss ... in der Zeitung von morgen ...”

”Was geht mich die Lügenpresse an! Ich definiere hier meine Wahrheit!”

”... ja aber ... der Parteivorstand ...”, flüstert es weit entfernt und bis in die letzte Faser verängstigt.

”Der Vorstand? Was will der? Ich bin in diesen berufen worden?”

Die letzten Reste der Verärgerung verfliegen und Hoffnung beginnt sich in ihm auszubreiten. Bis zu diesem Augenblick lag er noch im Bett. Nun ist er hellwach und richtet sich auf. Zuerst die Wiederwahl und damit Sicherung seiner Posten, Beziehungen und Geldquellen und nun auch noch Mitglied des Parteivorstandes! So viel Glück kann es gar nicht auf einmal geben - gibt es auch nicht. Sein Assistent kommt endlich zum Kern der Nachricht, die er übermitteln soll:

”... ja ... nein. Sie sind vorgeladen. Bereits für den heutigen Morgen! In der Zeitung erscheint ein detaillierter Bericht über den Ablauf der Koalitionsverhandlungen. Es war leider nicht mehr zu verhindern und ... sie sind als Quelle der Indiskretion genannt ...”