Drei, zwei, Einsatz!
Wie viel Mühe kostet die Niederschlagung und Verhütung von Aufständen: Geheimpolizei, andere Polizei, Spitzel, Gefängnisse, Verbannungen, Militär! Und wie leicht sind die Ursachen für Aufstände zu beseitigen.
Lew Tolstoi
Endlich lichtet sich der Wald. Im seitlichen Streulicht der Frontscheinwerfer sind Felder zu erkennen. Zur linken Seite stehen noch die vertrockneten Stoppeln der letzten Maisernte. Auf dem rechten Acker ist der Boden frisch umgebrochen. Die Belüftung bringt die kühle, feuchte Feldluft in das Innere des Wagens. Während der langen Fahrt durch den Wald hatten sie den Geruch von Pilzen in der Nase. Nun riechen sie feuchten Boden. Wenig später erscheint ein Ortsschild: Ranzlow. Dem Dacapo sind die Zusatzschilder darunter schon bekannt. Da er nicht adelig ist, auch nicht propagandieren möchte und die gesamte Angelegenheit schnell hinter sich bringen möchte, ignoriert er sie einfach. Außerdem ist er die Geheimwaffe des BKA, er ist der gewaltige, anonyme Zivile. Als dieser darf er natürlich alles ignorieren. Die beiden Gestalten im Fond des Wagens sind zu sehr mit ihrem Streit über die Zuständigkeit für ihr persönliches Desaster beschäftigt. Das lenkt sie vom Lesen der Verbote auf den Schildern ab und Miezi kann nicht lesen. Der kleine Hund ist immer noch schwer beleidigt, weil er auf der Rückbank sitzen muss. Um sich abzureagieren, knufft er immer wieder die beiden Gefangenen, zwischen denen er sitzt, in die Seiten. Der schwere, amerikanische Wagen rollt also ohne Stopp über die Ortsgrenze.
Die Straße, die quer durch Ranzlow führt, ist menschenleer - menschenleer, schwach erleuchtet und dunstig Alle Einwohner haben sich im Kulturhaus versammelt und hören auf der Premierenlesung zum ersten Mal Auszüge aus dem neuesten Werk der Journalistin. Freilaufende Hühner gibt es um diese Zeit nicht mehr auf der Straße. Sie haben sich längst in den Schutz der Stallungen begeben. Somit besteht keine Gefahr für ein Lebewesen und der Dacapo fährt in den Ort, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Routinemäßig schaltet er das Blaulicht ein. Damit darf er zwar noch lange nicht die zulässige Geschwindigkeit überschreiten, aber im Fall der Fälle würde ihn kein Kollege anhalten. Das Kulturhaus kommt in Sicht. In der für ihn üblichen Art und Weise schleudert er mit dem Wagen auf den Festplatz vor dem Gebäude. Die breiten Reifen wirbeln den Sand der Parkfläche in großen Wolken auf, die in den Lichtkegeln der Laternen den Dunst des Abends verstärken. Große, flirrende Gebilde aus Licht und Staub stehen fest und undurchdringlich in der Luft vor dem Kulturhaus. Eines befindet sich direkt über dem Dienstwagen des Dacapo, dem überblauen Einsatzfahrzeug. Es wechselt ab und zu seine Farbe von Gelb nach Blau und wieder zurück. Der Farbwechsel dieses Leuchtkegels, der immer noch undurchsichtig ist, endet abrupt. In seinem Inneren klappert etwas und eine schwarze Gestalt springt aus ihm heraus. Zuerst erscheint ein kugeliger, konturarmer Kopf, bei dem nur die großen Augenwülste die Vorderseite andeuten. Dann folgen breite Schultern mit leuchtend blauen Klappen. Sie glimmen in einem grimmigen, blauen Licht, das den Kugelkopf gespenstisch von unten erhellt. Eine große, blitzende Pistole bildet die Spitze der Erscheinung, die mit langen, gestreckten Sprüngen in Richtung der breiten Eingangstreppe des Kulturhauses eilt. Wie der Schweif einem Kometen, folgen die flatternden Schöße des großen, schweren und tief schwarzen Ledermantels dem Dacapo. Sie klatschen laut aneinander.
"Hallo ... Herr Polizist ... sollen wir hier drinnen allein bleiben? Nur wir und dieser gemeine Hund... ?", ertönt ein vorsichtiger Ruf hinter ihm. In der Stimme des Hochstaplers dringt hohl und dünn durch die offen stehende Fahrertür aus dem Wareninneren. In ihr schwingt Unsicherheit mit. Sie ist als deutlich wahrnehmbare Oberwelle auf die Frage moduliert.
Der Dacapo unterbricht seine eilige Vorwärtsbewegung. Mitten in einem seiner weiten, ausholenden Schritte bleibt er stehen, überlegt kurz und dreht sich um.
"Klappe halten! Ick muss nur schnell den Ort verhaften."
Auf diese Aussage folgt keine weitere Frage mehr aus dem Lichtkegel heraus. Die Behauptung 'schnell den Ort verhaften' ist so gewaltig verstörend, dass die beiden auf der Rückbank angeketteten Betrüger verstummen. Sie sehen sich mit weit aufgerissenen Augen an und erdulden selbst das Boxen und Knuffen des kleinen Hundes still. Diesem gewaltigen Geheimpolizisten trauen sie inzwischen alles zu - selbst das Unmögliche.
Der Dacapo setzt sich wieder in Bewegung und stolpert die Treppe hinauf. Da er dabei zu seinem Wagen nach hinten sieht, schätzt er die Entfernung zu den ersten, steinernen Stufen falsch ein. Auf dem Absatz vor der Eingangstür fängt er seinen Fall gekonnt mithilfe einer Rolle ab. Herumwirbelnd kracht er gegen die Eingangstür, die dank des Mechanismus, den der blaue Rolf und Krüger ersonnen haben, sofort aufschwingt.
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Birgit ist glücklich: Die Premierenlesung hat sie hinter sich gebracht und der Applaus ergießt sich als breiter, akustischer Strom vom Saal auf die Bühne. Gerade in dem Augenblick, in dem sie an den Rand der kleinen Bühne tritt, um sich zu bedanken, rollt etwas Schwarzes durch die Eingangstür in den Saal. Es entfaltet sich, nachdem es einige Meter zurückgelegt hat und fliegt förmlich auf die Bühne zu. Birgit nimmt die Bewegung nur aus dem Augenwinkel wahr. Trotzdem weiß sie sofort, dass die große, schwarze Erscheinung ihr nicht unbekannt ist. Nicht einmal drei Sekunden später fallen Schüsse. In dem Saal breitet sich das vielfache Echo der lauten Explosionen aus. Anschließend wird es ganz ruhig - nichts ist mehr zu hören, nicht einmal mehr das Atmen der vielen Besucher. Der Dacapo stellt sich in einer großen und bläulich leuchtenden Wolke aus Pulverrauch vor der kleinen Bühne auf und zielt mit der riesigen Pistole, dem brüllenden Wüstenadler, auf Birgit. Als er sie erkennt, lässt er irritiert die mächtige Waffe sinken. Er kennt die Journalistin gut von vielen Begegnungen aus der jüngeren Vergangenheit. Hat der BKA-Heinz ihn verladen? Bezüglich der Zielperson hatte er sich nicht weiter geäußert. Ranzlow ist als Ort des Einsatzes ja schon heftig irritierend, aber 'Die Journalistin' als Zielobjekt ist die absolute Krönung des 'no-go'. Das wird schnell als Angriff auf die Pressefreiheit und Einschüchterung von Journalisten durch Machtmissbrauch ausgelegt. Damit möchte der Dacapo nichts zu tun haben. Für diese Aktionen sind andere, willfährige Geheimdienstler zuständig. Das geht weit über seine selbst gesteckte Grenze von sinnvollem Amtsmissbrauch hinaus. Sein persönliches Dilemma bezüglich des 'delikaten Auftrages' weitet sich zu einem Megadesaster aus. Wie soll es jetzt weiter gehen, wie kann er die Situation einfangen? Bevor er seine Gedanken ordnen und einen Ausweg suchen kann, werden diese durch einen Ausruf aus dem Saal unterbrochen.
"Der schon wieder. Wann verschont man uns endlich vor dem?", lässt sich Krüger von einem Sitz in den ersten Reihen vernehmen.
Der Dacapo dreht sich zu ihm um. So entgeht ihm, wie der blaue Rolf zur Bühne läuft, die Journalistin hinunter hebt und sie in einer dunklen Ecke des Saales in Sicherheit bringt. Natürlich kann er nicht mit ansehen, wie eine Waffe auf sie gerichtet wird. Einige Sekunden starrt der Dacapo entgeistert Krüger an. Dieser scheint am 'Ranzlow-Virus' erkrankt zu sein: Er ignoriert die Autorität der durch den mächtigen Geheimpolizisten verkörperten Staatsgewalt. Krüger sitzt ruhig auf seinem Stuhl, hat die Beine lässig übereinandergeschlagen und betrachtet den Dacapo offensichtlich amüsiert. Seine Körperhaltung drückt mehr als deutlich aus, dass er nicht glaubt, der Beamte würde etwas Gefährliches tun. Womit er natürlich recht hat. Der Dacapo fängt aus Prinzip nur Verbrecher. Sein feines Gespür für Gerechtigkeit, das er im Laufe der Jahre entwickelt hat, lässt ihn treffsicher zwischen wirklichen und scheinbaren Vergehen unterscheiden. Dieser 'delikate Auftrag' hat ihn innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Gerechtigkeitssinn sagt ihm, dass er selbst dieses Mal der Straftäter ist, wenn er wie angewiesen handelt. Was hatte der BKA-Heinz eigentlich angewiesen? Sein Auftrag ist, 'in Ranzlow für Ordnung sorgen' und 'die Einwohner zum Schweigen bringen'. Das war nicht sehr präzise und entbehrte jeglicher Grundlage. Zumindest hatte der Anweiser ihm keine mitgeteilt. Je länger er über diesen Auftrag nachdenkt, um so misslicher wird seine Lage. Er kann sich noch immer keinen Ausweg aus dieser vorstellen. Nur der Nylonstrumpf, den er sich als 'anonyma Zivila' über den Kopf gezogen hat, verhindert, dass die Gäste des Kulturhauses den Verlauf des inneren Kampfes auf seinem Gesicht verfolgen können. Die Aktion beim Burger-Bräter hat ihn leider nur kurz von seinen wirklichen Problemen abgelenkt. Auf jeden Fall wird er den BKA-Heinz an seinen Gefühlsverwirrungen mächtig teilhaben lassen, wenn er wieder in der großen Stadt ist. Da er nun schon einmal nach Ranzlow gefahren ist, jetzt mitten im komplett befüllten Saal des Kulturhauses steht und die Blicke aller Anwesenden auf ihn gerichtet sind, macht er einfach weiter. Beharrungsvermögen ist keine Lösung, aber es ist zumindest ein Weg. Ob dieser gangbar ist, wird sich im Nachhinein zeigen.
"So! Ihr wollt et nich anders. Jetz seid ihr alle verhaftet wegen - ja wegen - wegen - ... - Ach egal: weil et nen Politiker von janz oben so will!", sprudelt es aus dem Dacapo heraus. Während des Ausspruches reißt er seine Pistole nach oben, hält sie über seinen Kopf und schießt in die Decke des Saales.
"Oh Gott, wir sind bei der Obrigkeit in Ungnade gefallen! Wir Armen, was soll jetzt aus uns werden?", ruft Krüger heulend und mit gespieltem Entsetzen in den Saal.
"Freund, wie willst' das anstellen? Und schickst du am frühen Morgen Polizisten, um die Kühe zu versorgen?", meldet sich aus einer der hinteren Reihen Schabolske.
"Kühe...?", fragt der Dacapo verwirrt, während er mit den Augen durch die Reihen irrt, um den Fragenden zu finden. Was hat dieser dubios-delikate Auftrag mit Kühen zu tun?
"Na diese Tiere, in meinem Stall da. Du weißt schon, die mit der Milch und so. Wenn du mich verhaftest, müssen die am Morgen trotzdem betreut werden."
Der Dacapo kommt nicht mehr zu einer Entgegnung. Ein großer, oranger Fleck bildet sich ganz plötzlich an seiner rechten Schulter. Das blaue Glimmen der Schulterklappe wird abrupt von einem Schwall oranger Farbe überdeckt. Neben der zweiten, kleineren Eingangstür des Saales steht ein unscheinbarer Mann mittleren Alters. Er ist relativ klein, trägt einen hellen Trenchcoat und ein schwarzes Barett. Einzig und allein auffallend ist der breite, dunkle Schnauzbart. Über der linken Schulter des Mannes ragt der Lauf einer Pumpgun für Paintballs empor. Ein zweites Markierer-Gewehr hält er in seinen Händen. Ein weiterer Schuss entlädt sich mit einem lauten Fauchen, das als einziger Ton die Stille Saales durchdringt. Auch die linke Seite des Dacapo färbt sich orange ein. Dieser blickt sich erschrocken erst auf die eine und dann auf die andere Schulter.
"Hey, warum machst mir schmutzich? Ick bin doch keen Vabrecha!", äußert er sich erstaunt.
"Aber du arbeitest für solche! Zwischen organisierter Kriminalität und Politik gibt es nur einen Unterschied: das eine gilt als verboten...", antwortet der Schütze prompt.
Diese Aussage trifft den Dacapo schwer. Sie löst eine Welle an Emotionen in ihm aus, mit der er nicht gerechnet hat. Sein Selbstverständnis, die Personifizierung der Gerechtigkeit zu sein, ist verletzt. Ja, er weiß es, da ist ein Makel. Die gesamte Aktion rund um diesen Auftrag ist irgendwie verkehrt. Natürlich kann er nicht für Verbrecher arbeiten, das ist absolut unmöglich. Und mit einem Mal fällt ihm der Ausweg ein, nach dem er so lange gesucht hat. Das kann kein offizieller Einsatz sein. So wie der BKA-Heinz sich ausgedrückt und am Telefon gewunden hat, muss es sich um einen illegalen, privaten Kreuzzug von ihm handeln. Warum hat er sich da nur hineinziehen lassen? Wenn er jetzt hier verschwindet und so tut, als ob nichts geschehen ist, wird niemand fragen - gerade der BKA-Heinz nicht. Als Rechtfertigung für den Ausflug hat er die beiden Hochstapler auf der Rückbank seines Wagens. Nun muss er nur noch einen würdigen Abgang finden, um den Schein zu wahren. Dann verschwindet er so schnell wie möglich aus diesem Ranzlow und kommt möglichst nie wieder zurück.
"'Maler', na warte, endlich krieg ick dir!", leitet den Beginn der Rückzugsaktion ein.
Anstatt in die Richtung des Angesprochenen zu laufen, springt er mit seinen weiten Schritten hastig durch die große Eingangstür. Wie bei seinem Eintreffen vor wenigen Minuten schwingt sie auch jetzt leichtgängig in die andere Richtung auf. Kurze Zeit später passiert der schwere, amerikanische Oldtimer bereits das Ortsschild.
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Auch der Maler verschwindet ebenso plötzlich, wie er erschienen ist. Keiner der anwesenden Ranzlower hat eine Gelegenheit, sich bei ihm für die Beendigung der seltsamen Situation zu bedanken. Mehr als einem von ihnen ist bewusst, dass das Geschehen der letzten Minuten ein Nachspiel haben wird - schließlich ist ein Geheimdienst involviert. Das der Zweck der Aktion unbekannt ist, stört niemanden. Schließlich ist das nicht die erste sinnbefreite Geheimdienstaktion, während der Ranzlow heimgesucht wird.