Geist in der Tonne

Ich glaube nicht, daß es irgendetwas auf der ganzen Welt gibt, was man in Berlin nicht lernen könnte – außer der deutschen Sprache.

Mark Twain

Die Kollegen des Hausmeisters dirigieren die hübsche Besucherin gern zu dem Ablageort von Attilas letzten Aktenordnern. Es ist nicht der Container, in dem Rolf gefangen ist. Aus im Nachhinein unerfindlichen Gründen, wurde bei der Wohnungsräumung das gesamte Papier in eine Tonne entsorgt, die zwei Blocks von Attilas ehemaliger Wohnung entfernt steht. Die Hausmeisterkollegen überschlagen sich dabei, der Journalistin bei dem Zusammenpacken der Ordner zu helfen. Als Geschenk bekommt Birgit einen alten Umzugskarton. Die sechs Ordner kann Birgit problemlos in dem Karton bis zum Auto tragen. Auf dem Weg dorthin muss sie nur noch Rolf einsammeln, der bestimmt wieder einigen Unfug angestellt hat. Die Hausmeister sind mit dem Ergebnis ihrer Hilfe gar nicht zufrieden: Alles geht viel zu schnell und schon verlässt die Journalistin sie wieder. 'Eine kleine Belohnung darf sein.', denkt Birgit und sie legt etwas mehr Schwung in ihren Gang. Das Pfeifen in ihrem Rücken bestätigt sie in der Anwendung des Mittels. Als sie ihren Wagen auf der anderen Straßenseite sieht, entschließt sie sich, zuerst den Karton dort einzuladen und dann Rolf abzuholen. Soll er noch etwas 'zappeln' und darauf hoffen, die gesuchten Unterlagen zu finden. Wenn die Enttäuschung etwas größer ist, gibt er auf der Rückfahrt Ruhe und spielt nicht wieder an den Schaltern des Autos herum.

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Als Birgit aus dem Hausdurchgang auf den Innenhof tritt, sieht sie viele Menschen um die Abfalltonnen stehen. Sofort weiß sie, dass Rolf die Ursache der Versammlung ist. Wie sollte es auch anders sein: Er verhält sich immer auffällig, 'unkonventionell' wie er selbst sagt. Langeweile kommt nie auf, wenn sie mit ihm zusammen ist. Ob er bereits so vor seiner Ankunft in Ranzlow war, oder der magische Einfluss des Ortes ihn verändert hat, konnte Birgit bisher nicht feststellen. Jetzt ist er, wie er ist und im Augenblick verursacht er einen Menschenauflauf - ohne anwesend zu sein. Er ist nirgendwo zu sehen. Verdächtig ruhig ist es auch. Birgit kennt spontane Zusammenkünfte von Menschen bisher nur in Verbindung mit lauten, unüberhörbaren Geschehnissen. Sie drängt sich durch den breiten Ring von Beobachtern, der sich um die Abfallbehälter gebildet hat. Die Attraktion ist eine Papiertonne - eine lachende Papiertonne, die sich außerdem noch langsam über den Hof bewegt. In der Tonne rumpelt und lacht es ununterbrochen. Es sind Sprachfetzen zu vernehmen, die sich mit einem Kichern abwechseln oder in lautes Lachen übergehen. Unverkennbar Rolfs Stimme, Birgit erkennt sie sofort. Warum sitzt er in einer verschlossenen Papiertonne? An die absurde Normalität aller Geschehnisse in Ranzlow hat sie sich inzwischen gewöhnt. Der Rest der Welt war bis jetzt noch 'normal normal'. Das scheint sich augenblicklich zu verändern. Ihr ist das recht - mehr Spaß kann nicht schaden. Die Menschheit ist allgemein viel zu verkrampft.

"... und überlässt das Mikrofon ohne Widerstand dem Terrorhasen aus dem Norden", tönt es dumpf aus dem Metallcontainer.

Diesem Ausspruch folgt eine Lachsalve, die mit einer Welle aus Erschütterungen an der Tonne rüttelt. Die Bremsen an den Gummirädern sind nicht angezogen. So rückt jede Vibration den Container einige Zentimeter weiter. Eine Richtung gibt es dabei nicht. Die Papiertonne bewegt sich zufällig über das graue Betonpflaster des Innenhofes.

"Die Kaninchen haben die geniale Entrauchungsanlage des Abfertigungsgebäudes verstopft!", dringt es, von lautem Kichern unterbrochen, aus der Tonne. "... und erkennt, dass Kaninchen die Reifen zerbeißen und die Flugzeugkolosse aus dem Gleichgewicht bringen. Das Invasionsheer der Kaninchen aus dem Nachbarland hat es geschafft: Kein Flugzeug wird hier vorerst starten und landen." Das war zu viel. Bei "Der 'Nordterrorist' im Hasenkostüm ist nicht mehr zu sehen.", zerreißt es Rolf förmlich.

Er lacht und bewegt sich in der Papiertonne so heftig, dass diese gefährlich schaukelt und unkontrollierte, sprunghafte Bewegungen vollführt. Einer der Zuschauer ist zu nahe an die Tonne geraten. Diese rollt mit einem Rad hopsend über seinen rechter Fuß. Sofort mischen sich grelle Schmerzens- und Entsetzensschreie in das laute, dumpfe Lachen. Zwei der anderen Beobachter springen hinzu und möchten helfen. Da der Container immer noch unkontrolliert hüpft und wackelt, bleiben sie in einem sicheren Abstand stehen und zerren an dem Geschädigten. Dessen Fuß ist bereits befreit und befindet sich schon längst nicht mehr unter dem Rad. Das heftige Zerren an Schultern und Armen bringt ihn aus dem Gleichgewicht, da er nur auf einem Fuß steht. Er wollte gerade seine schmerzende Extremität betrachten. Statt einer eingehenden Untersuchung des Fußes fällt er auf den Rücken. Dabei rudert er wild mit den Armen, in der Hoffnung doch noch das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Es hilft nichts: Er fällt und reißt seine beiden Helfer gleich noch mit um. Ein Knäuel aus Armen, Beinen, Köpfen und Umhängetaschen rollt nun neben der Papiertonne hin und her. Polternd schlagen die drei Liegenden abwechseln mit Händen und Füßen gegen den vorbeirollenden Container, um ihn möglichst auf Abstand zu halten. Sie sind damit so beschäftigt, dass sie gar nicht erst versuchen, aufzustehen. Auch Rolf im Inneren der rollenden Bibliothek ist viel zu sehr durch das Lesen der Notizen abgelenkt, als dass er das Klopfen wahrnimmt.

"... sind einige Kaninchen vor der Bühne aufgetaucht. Sie beginnen mit der Unterhöhlung des linken, vorderen Pfostens des provisorischen Bauwerkes...", kommt, gefolgt von einem weiteren Lachflash, aus der Papiertonne.

Birgit findet die Textausschnitte, die Rolf vorliest, auch interessant. Mehr noch: Sie möchte die Quelle gern selbst in die Hände bekommen. Es wäre ja noch schöner, wenn er ganz allein diesen Spaß hat. Der Zugang zu dem interessanten und lustigen Lesematerial ist durch eine Stahlkette mit Vorhängeschloss versperrt. Sie fixieren den Schiebedeckel der Tonne in einer Position, die als 'komplett geschlossen' gelten kann. Ein Blick oder gar Durchgriff in das Innere des rollenden Metallcontainers ist nicht möglich. Birgit benötigt also unbedingt einen Schlüssel für das Vorhängeschloss. Ob einer der Anwesenden einen solchen Schlüssel bei sich trägt, ist nicht zu sehen. Außer ihr scheint niemand die Tonne öffnen zu wollen. Das bestätigt ihre Theorie, dass auch in Berlin die Zustandsbezeichnung 'normal normal' für das Verhalten der Einwohner keine Gültigkeit mehr besitzt. Bevor sie sich weiter den Kopf zerbricht, schreitet sie einfach zur Tat: Was getan werden muss, muss getan werden!

"Hallo Leute, hat jemand hier einen Schlüssel für die Papiertonne?"

"Ja - ich wohne hier und hätte einen, aber... ", meldet sich zaghaft ein älterer Mann, "... was woll'n sie denn damit?"

Birgit sieht irritiert in seine Richtung. Was ist das? Bemerken die Beobachter nicht, dass ein Mitbürger dort eingeschlossen ist? Nun, Rolf klopft nicht irre von innen und ruft nicht das in einer solchen Situation üblich und angebrachte 'Lasst mich hier raus!' Ach ja, das ist der 'absurd normal'-Zustand, erinnert sie sich. Die Berliner scheinen inzwischen auch infiziert zu sein.

"Na den Eingeschlossenen befreien, da ist ein Mensch gefangen!", ist Birgits belehrende Antwort. Vielleicht hat sie das etwas übertrieben formuliert. Rolf scheint sich in seinem Blechgefängnis gut eingerichtet zu haben und wohl zu fühlen. Auf jeden Fall hat er jede Menge Spaß. Prinzipiell versteht sie nicht, welche Bedenken bestehen, einen eingeschlossenen Menschen zu befreien.

"Da ist ein Mensch drin?"

"Ja was glauben sie denn, wer da spricht und lacht? Ein Geist vielleicht?"

Der Mann sieht sie erschrocken an. "Wirklich? Wir wollten schon einen Priester rufen, der die Erscheinung austreibt. Nur über die Konfession konnten wir uns noch nicht einigen."

Birgit stuft die Bewertung des Zustandes augenblicklich von 'absurd normal' nach 'absurd absurd' herunter.

"Geben sie mir einfach den Schlüssel. Ich bin praktisch eine praktizierende Mülltonnenexorzistin."

Der bewundernde Blick des Mannes, den sie sich mit dieser Aussage einfängt, verwirrt sie. Er glaubt offensichtlich wirklich an solchen Unfug.

"Los, machen sie schon, geben sie mir den Schlüssel.", herrscht sie ihn ungeduldig an.

Die Tonne ist inzwischen um einige Meter weiter gewandert. Nach einer kleinen Pause, während der es im Inneren ruhig bleibt, sind wieder Satzfetzen zu vernehmen.

"... die Kaninchen trommeln mit ihren Hinterbeinen den Rhythmus bekannter, schwedischer Pop-Songs der 70-er Jahre..."

Das Kichern geht beim Lesen in ein Lachen über und die Tonne nimmt ihre Wanderung wieder auf. Rolf lässt während eines Lachanfalls die Notizen fallen, da er sich zu heftig in seiner engen Behausung bewegt. Beim anschließenden Blättern findet er nicht sofort die Seite, auf der er vor einem Augenblick noch gelesen hatte. Dafür fällt ihm eine andere Passage auf.

"... hirnaussaugende Fernsehansprache des politischen Gegners...", sprudelt Rolf hervor. Er kann solche Texte einfach nicht leise lesen, die Worte 'schmecken' anders, wenn er sie ausspricht. Der Spaß wird damit umso größer.

Birgit hat zwar den Schlüssel, der äußerst mobile Blechkasten ist aber schon längst nicht mehr in ihrer Nähe. Somit muss sie sich auf die Jagd nach der unkontrolliert hüpfenden Papiertonne begeben. Diese bewegt sich in einem nicht vorhersagbaren Zickzackkurs über den Innenhof. Immer in dem Augenblick, in dem sie den Schlüssel in das Schloss stecken möchte, hüpft oder gleitet der Container weiter. Bei seinem Gewicht - inklusive dem von Rolf - und den ruckartigen Bewegungen, ist es ihr allein unmöglich, die Tonne festzuhalten. Die Umstehenden haben entweder zu viel Angst vor dem 'Geist in der Tonne' oder sind mit dem Herumwälzen auf dem Boden beschäftigt. Birgit bleibt also nichts weiter übrig, als der Papiertonne auf ihrem Weg zu folgen und eine günstige Gelegenheit abzupassen.

"... Zombiwähler stürmen den Turm, um ihn zu holen...".

Dieses vorgelesene Bruchstück der Notiz produziert einen so heftigen Lachanfall im Inneren des Abfallbehälters, dass er in eine Schieflage gerät. Zwei Räder lösen sich kurzzeitig von dem Betonpflaster und hüpfen über einen Begrenzungsstein. Auf dem Rasen dahinter sinken die Räder ein und die Tonne ist gefangen. Sie kann sich nicht mehr bewegen und vor Birgit flüchten. Die sieht in der Verklemmung von Rolfs Gefängnis die Chance, um das Lesematerial in ihre Hände zu bekommen. Bevor sie das Schloss öffnen kann, sprudelt Rolf, unterbrochen von einem glucksenden Kichern, ein neues Zitat heraus.

"Der Abgeordnete droht in der haushohen Welle aus Wählern zu ertrinken." Anschließend ist ein deutliches, langes Luftholen zu hören.

"Oh, ich kann nicht mehr lachen." Nach einigen Glucksern und diesem Mal leisem Kichern, folgt in einem flehenden Tonfall: "Bigi bist du da draußen? Wenn du da bist, rettet mich - bitte, bitte." Wieder folgt ein Kichern.

Der blecherne Deckel gleitet zurück und gleißendes Tageslicht fällt in den Innenraum. Rolf ist geblendet, sieht nach unten und schließt seine Augen. So kann er nicht sehen, wie Birgits Kopf über dem Rand der Tonne erscheint.

"Hallo Rolf. Na, amüsierst du dich gut?"

Rolf sieht vorsichtig nach oben und blinzelt mit zusammengekniffenen Augen in das Licht. Er sieht nur undeutlich, wie Birgit nach dem Block mit den Notizen greift und kann nicht verhindern, dass ihm seine Lektüre entzogen wird.

"Ich kann mich morgen wegen Bauchmuskelkater bestimmt nicht mehr bewegen."

"Heraus kommst du bestimmt allein - bist ja auch ohne meine Hilfe hinein geraten."

"Das ist mir irgendwie so passiert?!"

"Ja, wie das immer so passiert..."

Die Umstehenden zeigen fast ausschließlich enttäuschte Gesichter. Da war wirklich ein Mensch in der Tonne - kein Geist oder Außerirdischer oder ähnliches. Rolf möchte die enttäuschten Einwohner Marzahns trösten.

"Ich bin Recycling-Forscher, wisst ihr? Ihr seid hier alle vorbildliche Entsorger. Es gibt in dieser Tonne nichts zu beanstanden."

Er zieht sich die Stirnlampe vom Kopf, setzt sie Birgit auf und küsst sie.

"Die Krone gebührt der Prinzessin, die mich vor der Wiederverwertung gerettet hat."

Die Journalistin quittiert das nur mit rollenden Augen und zieht Rolf hinter sich her. Sekunden später verschlingt beide das Dunkel des Hausdurchganges.

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Rolf hat zufällig das gefunden, was später als die 'Polit-Psych-Files' (kurz: PP-files) bezeichnet werden wird. Birgit und er erahnen bereits die Bedeutung des Fundes. Sie möchten nur noch schnell nach Ranzlow zurück - die aufgefundenen Notizen sichten. Zur Belohnung darf Rolf auf der Rückfahrt doch wieder vorn sitzen. Außerdem hat Birgit wegen des 'Mülltonnentraumas', das er vor wenigen Minuten erlitt, ein Einsehen mit ihm.