Prokrastinationsübung
Was thät er ihr zu Ehren?
Achim von Arnim
Schoß Pulver in die Luft,
Daß man den Knall thät hören,
Wie ein Pistole pufft.
Auf dem Spielplatz zwischen Burger-Restaurant und Parkplatz ist ein kleiner Junge dabei, das kopfhohe, bunte Podest der Rutsche zu erklimmen. Seine Mutter sitzt an einem der Tische und saugt Milchshake durch ein Trinkröhrchen. Der transparente Plastikbecher in ihren Händen leert sich zusehends. Sie ist mit der Entwicklung des Abends ganz zufrieden. Die Erwähnung des Ausflugs zu dem Hamburger-Bräter hat den Kleinen von der Spielkonsole hinweggelockt. Er bekommt somit zumindest noch am Abend etwas Bewegung. Sie sind bis hier gelaufen. Vor dem Antritt des Rückweges müssen natürlich noch die Spielgeräte durchprobiert werden - das ist ebenfalls gut, weil damit Bewegung verbunden ist. Das Kind steht vor der gewundenen Röhre der Rutsche und winkt.
"Mama ... Mama! Guck 'mal, ich rutsch...", das Ende des Ausrufs geht in ein hohles Röhren über, denn der kleine Spieler ist von dem hellroten Schlund der Rutsche verschlungen worden.
Während die Mutter auf sein Auftauchen am Ende in des großen Rohres wartet, fällt die Tür des Restaurants mit lautem Poltern in den Hof. Glas splittert und zerstiebt in eine große Wolke aus glitzernden Kristallen, die in den letzten Strahlen der Abendsonne rot und golden leuchten - ein schöner Tag verabschiedet sich. Zwei Gestalten stürzen gleichzeitig mit der Tür nach außen. Sie stolpern, rollen und springen in dem strahlenden Splitterregen vorwärts - direkt auf das in so vielen Farben gehaltene Spielgerät zu. 'Diese Farbexplosion - ich bin in einem Werbefilm angekommen', denkt die Frau an dem Tisch. Bevor sie als Model für Bademode mitten hindurch durch den Regen aus Farben in den Sonnenuntergang elegant schreitend entschweben kann, reißt sie der Knall eines Schusses aus dem Tagtraum. Eine schwarze, eigentümlich maskierte Gestalt springt durch das Loch, in dem sich vor wenigen Sekunden noch eine Tür befunden hat. Gleich einer großen Fledermaus flattert das Wesen knurrend und mit aneinander klatschenden Flügeln den beiden anderen Männern hinterher. Als die Frau die gigantische Pistole wahrnimmt, die der Fledermausmann vor sich hält, springt sie auf und läuft ebenfalls auf die Rutsche zu. Der Dacapo gibt einen weiteren Schuss in Richtung der Verfolgten ab. Die Frau stößt einen Angstschrei aus. Der Tagtraum hat sich abrupt in einen Alptraum gewandelt. Ein unwahrscheinliches Fantasiewesen hat zwei Polizisten durch das Glas der Tür geworfen und schießt auf dem Spielplatz wild um sich, auf dem sich ihr Sohn befindet. Mit der maximalen Wucht, die sie aufbringen kann, springt sie dem maskierten Wesen in die Seite und wirft es um. Als dieses flach auf den mit Gummimatten gepolsterten Boden aufschlägt, erscheint der kleine Junge am Ende der Rutschröhre. Er fällt aus dem großen, runden Loch direkt auf die beiden Polizisten, die nur ein "Uff" von sich geben und dann reglos liegen bleiben.
"Mama?"
Die Frau nimmt den Jungen in den Arm und tritt vorsichtig einige Meter zurück. Sie drückt sich mit dem Rücken an die noch unzerstörten Fenster des Restaurants. Der Dacapo richtet sich umständlich auf und klopft mit der linken Hand die kleinen Kristalle des Sicherheitsglases von seinem Mantel. Während dieser Tätigkeiten richtet er ununterbrochen die Pistole, die er in seiner rechten Hand hält, auf die beiden Hochstapler. Man sieht ihm deutlich an, dass es Mühe bereitet, die schwere Waffe in einer Hand zu halten. Der Rauch des verbrannten Pulvers hängt über dem Spielplatz als violett leuchtende Wolke. Sie bezieht ihre farbige Lichtenergie aus den roten Strahlen der letzten Abendsonne und den in einem intensiven Blau glimmenden Schulterklappen des Dacapo.
"Oh Mama, ich will auch so ein Knalldings zum Spielen!"
"Psst, mein Junge, das ist sehr gefährlich..."
Der Dacapo stößt mit der Stiefelspitze einem der liegenden Hochstapler gegen das Bein.
"Aufstehen, ihr Attrappen! Sonst werd ick böse - und ihr habt mir noch nich böse jesehen!"
Die Angesprochenen rühren sich nicht. Totstellen ist eine Strategie, die in Gefahrensituationen nicht nur im Tierreich sehr verbreitet ist. Erst als der Dacapo einem von ihnen den noch heißen Lauf der gewaltigen Pistole an die Schläfe drück, zuckt und meldet sich dieser.
"Aua! Das ist heiß und tut weh!"
"Soll et auch.", antwortet der Dacapo leise und nicht sehr beruhigend. "Und jetzt aufjestanden und zum Fesseln angjestellt!", fügt er laut hinzu.
Die beiden verkleideten Polizisten folgen zügig der Aufforderung und stellen sich vor dem Spielgerät auf. Sie haben die Hacken ihrer Schuhe aneinander gepresst und stehen steif da, wie zu einer Inspektion auf dem Exerzierplatz.
"So, ihr Attrappen! Ick bin die mächtige, jeheime Staatsjewalt! Ick bin der, der euch jestellt hat UND ick verhafte euch Verbrecher jetz." Mit der unbewaffneten Hand hält er ihnen seinen Dienstausweis vor die Nase und brüllt hinterher: "Und ick bin gewaltig sauer!"
Nur die Strumpfmaske, die der Dacapo über den Kopf gezogen hat, verhindert, dass den beiden Hochstaplern davon die Mützen vom Kopf geweht werden. Natürlich spricht er auch so laut, da er in der Eile die schallschützenden Ohrenstöpsel nicht eingesetzt hat. So hört er nach den vielen Schüssen, die er in den letzten Minuten abgefeuert hat, etwas schwerer.
"Oh Gott, das BKA - wir sind erledigt."
"Ja, seid ihr. Jetz werdet ihr anjeschlossen."
Die Gefangenen trauen sich die Köpfe etwas zu drehen und sehen sich verständnislos und fragend an. Das hat sich beinahe wie 'angeschossen' angehört. Will der Geheimpolizist sie jetzt standrechtlich erschießen?
"Was passiert mit uns?", fragen beide nahezu gleichzeitig und im Flüsterton.
Die mächtige Gewalttätigkeit des Dacapo und insbesondere dessen lockerer Umgang mit einer Waffe hat sie eingeschüchtert. Bisher waren sie in ihrer kriminellen Karriere noch nie beschossen und auf der Flucht gewesen. Nachdem ihr erster Fluchtversuch so katastrophal und zügig ein Ende gefunden hatte, möchten sie sich ein weiteres Experiment in diese Richtung nicht mehr gönnen. Die letzte Andeutung des Dacapo erschreckt sie jedoch: Auch Gefangenschaft scheint unspaßig zu sein. Als der Dacapo Handschellen, die mit dünnen, rasselnden Ketten verbunden sind, aus einer der Taschen seines Mantels zieht, fühlen sie sich in ihrer Vermutung bestätigt: Das wird gar nicht lustig.
"Mama, ich will da mitspielen!", ist als deutlich ausgesprochene Forderung vom anderen Ende des Spielplatzes zu vernehmen.
Die Frau sieht ihr Kind traurig und eindringlich an. In ihrem Blick liegt so viel Unverständnis, Traurigkeit und auch Angst, dass der Junge erschrocken von jeder weiteren Äußerung oder Forderung absieht. Sie zieht ihn vorsichtig und langsam durch die zerborstene Tür in das dunkle Innere des Restaurants. Als die Tür nach außen fiel, hatte ein Angestellter des Restaurants das Licht ausgeschaltet. Menschen benötigen immer Licht, um zu sehen. Auch Gewalttäter sind Menschen und somit ebenfalls an die Helligkeit gebunden. Durch die größere Entfernung zu der Waffe hofft die Frau ein Mehr an Sicherheit zu gewinnen. Die Dunkelheit verspricht einen zusätzlichen Schutz: Gewalt ohne Licht gibt es nicht. Obwohl sich die Frau und das Kind bemühen, leise in den Schutzraum zu gelangen, knistern die Kristalle des Sicherheitsglases unter ihren Schritten. Von dem gewaltigen Geheimdienstler geht jedoch keine Gefahr mehr aus. Ihn interessiert das jedoch nicht, er ist mit seinem Fang beschäftigt.
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Auf dem Spielplatz ist es ausreichend hell. Der Dacapo kann ohne visuelle Behinderung den beiden Hochstaplern die Hand- und Fußschellen anlegen. Eine klirrende Kette verbindet die vier Ringe, die um die Gelenke gelegt sind. Diese Kettenteile treffen sich in einer Art eisernem Knoten, der den beiden Betrügern vor dem Bauch hängt. Dort ist eine weitere Kette befestigt, deren Ende nach unten hängt und den Boden berührt. Die Bedeutung der zusätzlichen Kette, die beim Laufen zwischen den Beinen pendelt und jeden Schritt behindert, wird den Betrügern klar, als sie das Auto des Dacapo erreicht haben. Dieser öffnet die Fahrertür, klappt den Sitz nach vorn und schubst sie auf die Rückbank. Dort haben sie keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen. Er greift die Enden der zusätzlichen Ketten und schließt diese mit einem großen Vorhängeschloss an einen eisernen Ring, der über der Rückbank an die Decke des Wagens geschweißt ist. Anschließend greift er in die rechte Außentasche seines Mantels, zieht die bellende Miezi heraus und drückt den kleinen Hund in den schmalen Schlitz zwischen den beiden Verbrechern. Das Tier protestiert lautstark gegen die Behandlung und den ihm zugewiesenen Platz.
"Wenn sich einer rührt: Fass!"
Miezi lässt sich das nicht zweimal sagen. Der Pekinese ist ungehalten, weil er schon wieder den Beifahrersitz verlassen musste. Er knurrt drohend und knufft die beiden Hochstapler mal nach links und dann wieder nach rechts in die Seite. Diese können sich nicht wehren und heulen abwechselnd auf.
"Wir werden wegen Folter und Verstoß gegen die Menschenrechte vor dem internationalen Gerichtshof klagen!"
"Könnt ihr denn 'international'? Und wieso mir? Verklagt det Viech, nich mir."
"rrrrrr"
"Uhhh"
"Au"
"Ruhe auf de billjen Plätze!"
Dem Dacapo geht schon jetzt das Benehmen der beiden Gefangenen auf die Nerven.
"Wenn nich gleich Ruhe is, kriegt ihr ne Lesung."
Auf der hinteren Sitzbank tritt augenblicklich Ruhe ein. Sogar Miezi hat aufgehört zu knurren. Die Knuffe erfolgen nun leise und die Angeketteten zucken mit zusammengekniffenen Mündern. Niemand versteht, was der Dacapo mit 'Lesung' meint - noch nicht. Während dieser auf einer alten, verblichenen Straßenkarte den Weg nach Ranzlow sucht, gehen die Gefangenen zum Thema 'Schuldzuweisung' über. Zuerst noch sehr leise doch bald im lauten Streitgespräch diskutieren sie die Zuständigkeit für das Desaster ihres aktuellen Coups.
"Und die Idee mit dem alten Streifenwagen aus der Autoauktion und den Uniformen aus dem Kostümfundus lief doch zuerst so gut an."
"Das sagst du so einfach. Ich war vom Anfang an dagegen. Hätten wir besser den Kiosk überfallen."
"Ja aber denke doch an das viele Geld!"
"Stimmt, die Vermahnten haben nach Verteilung der selbst gemachten Strafzettel viel Geld auf unser Konto überwiesen. Trotzdem bist du schuld."
"Warum ich? Ich habe doch nicht dieses Auto haben wollen. Du wolltest damit fahren."
"Was ist nur geschehen, dass das so schnell endet?"
Der Dacapo kann sich beim Lesen der Straßenkarte nicht konzentrieren. Hatte er nicht Ruhe befohlen?
"Ick bin euch geschehen - dat is euer Ende. Und jetz folgt eure Strafe für Lärm und Jestreite!"
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Die Ankunft in Ranzlow verzögert sich weiter durch eine unerwartete Aktion. Dem Dacapo ist das recht, eigentlich möchte er dort gar nicht ankommen. Der 'delikate Auftrag' ist ihm mehr als unangenehm. An einem langweiligen Sonntag, der jeglichen interessanten Einsatz vermissen ließ, hat er eine neue Foltermethode für Kriminelle ersonnen. Jetzt bietet sich eine passende Gelegenheit, diese auszuprobieren. Gleichzeitig wird das die Weiterfahrt nach Ranzlow verzögern. Er zieht ein Paperback-Buch aus der Seitentasche der Beifahrertür.
"Ihr wollt et nich anders. Jetz kriegt ihr die Lesung."
Die Gefangenen müssen die ersten zwanzig Seiten Gesetzestext aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch über sich ergehen lassen. Während im Ranzlower Kulturhaus die Wahnträume von Spitzenpolitikern die Zuhörer erschauern lassen, leiden in Wittstock zwei gefangene Betrüger unter Gesetzestexten. Sie können sich nicht einmal die Ohren zuhalten. Die Fesseln geben so gut wie keinen Bewegungsspielraum. Anschließend zwingt der Dacapo sie, die Inhalte der Paragrafen zu wiederholen. Bei Fehlern fängt das Ganze wieder am Anfang an. Seine Zuhörer sind notorische Kleinkriminelle: Was hat er erwartet? Natürlich können sie sich keine Gesetzestexte merken. Nach der dritten Wiederholung des gesamten Vorganges steht der überblaue Einsatzwagen immer noch auf dem Parkplatz vor dem Burger-Studio. Es ist nach wie vor nicht erleuchtet und kein weiteres Fahrzeug ist zu sehen.
"Ihr Versager, ihr Stümper, ihr könnt euch ja nich mal ein Jesetz merken!" und leise, in einem drohenden Ton fügt er hinzu: "Wartet ab, bis wir in Berlin sind..."
Die beiden Betrüger sehen sich erschrocken an und der Dacapo startet den schweren Motor. Er muss diesen unangenehmen Auftrag jetzt hinter sich bringen. Prokrastination ist etwas, das ihm nicht liegt. Er weiß, dass er sich der Herausforderung stellen muss und er ist jetzt bereit dazu. So steuert er den großen Wagen in den Ort hinein, in der Hoffnung, der Weg nach Ranzlow wird sich ihm von allein offenbaren.