Ich habe hier das Sagen

Die Menschen werden jenes Ding verfolgen, vor dem sie am meisten Angst haben.

Leonardo da Vinci

Als er den Tweet in der Liste der Kurznachrichten auf seinem Smartphone liest, stutzt sein Unterbewusstsein. Zuerst ist nur dieses irritiert, gestolpert. Anfänglich wird ihm gar nicht bewusst, warum er an diesen zwei Zeilen hängen bleibt. Seine Augen lesen immer wieder die Nachricht. Erst nach einigen Sekunden realisiert sein Hirn den Inhalt und bringt ihm die Verbindung mit anderen, persönlichen Erlebnissen aus der jüngeren Vergangenheit zum Bewusstsein.

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Vor wenigen Monaten hat er wegen seiner zunehmenden Angstträume einen Psychiater aufgesucht. Der war ganz zugänglich, hatte ihm aufmerksam zugehört und viel aufgeschrieben. Frank hatte ihm seine schlimmsten Träume geschildert und nichts ausgelassen. Nun, er ist Politiker. Übertreibung gehört zum Geschäft. Im Nachhinein ist er sich nicht mehr ganz sicher, ob er nicht den einen oder anderen Traum besonders schrecklich ausgemalt und einiges hinzugedichtet hat. War das bedeutend? Wahrscheinlich nicht. Schließlich waren die Wahnträume auch nur Dichtungen seines Hirns, die dieses ganz unaufgefordert und zu einem unpassenden Zeitpunkt erzeugte. Was tat es zur Sache, wenn das gleiche Organ zu einem passenderen Zeitpunkt die eigene Dichtung veredelt. So hatte er sich richtig ins Zeug gelegt, um den Psychiater von seiner Störung zu überzeugen. Und was war das Ergebnis seiner intensiven Bemühungen? Der Psychiater gab Frank anschließend den Rat, entweder einfach weniger zu träumen oder auszuspannen und 'dem Unfug mit dem politischen Machtwahn abzuschwören'. Das war empörend! In den nachfolgenden Nächten hatte er daraufhin noch heftigere Angstträume. Nach einigen Wochen war der Besuch beim Psychiater vergessen - nur die quälenden Träume sind geblieben. Sie führten langsam aber zielgerichtet zur Herausbildung eines zusätzlichen Verfolgungswahns bezüglich der Angstträume. Frank hat inzwischen das ständige Bedürfnis, vor diesen schrecklichen Träumen flüchten zu müssen.

Ganz frisch kam eine Psychose in Verbindung mit der Angst vor einem maximalen Machtentzug hinzu. Vor etwa vier Wochen bekam er einen Brief. Der Absender wies einen Ort aus, von dem er nie zuvor gehört hat: Ranzlow. Da hatte jemand aus der Provinz die Aufzeichnungen seines Psychiaters gefunden und nach den Patienten recherchiert. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese Hinterwäldler ihn ausfindig machen konnten. Egal wie: Sie hatten ihn gefunden und nun fragten sie nach einer Erlaubnis für die Nennung seines Namens in der Veröffentlichung der Mitschriften! Nach dem ersten Überfliegen des Briefes hielt er ihn für den harmlosen Scherz eines Polit-Groupies. Folgerichtig zerknüllte er das Blatt und war es in den Papierkorb. Natürlich fiel es daneben. Beim Aufheben kam ihm zu Bewusstsein, dass er ja wirklich bei einem Psychologen war, um seinen Alpträumen zu entkommen. Auch wenn dies nicht funktioniert hat, er ist dort gewesen und es gab diese Aufzeichnungen. Harmlos? Nein! Er faltete das Blatt wieder auseinander und strich es sorgsam glatt. Auch nach dem dritten Versuch waren noch Knitter zu sehen - das regte ihn zusätzlich auf: Das provinziale Papier widersetzte sich seinen Anweisungen! Er war kurz davor, es zur Strafe zu verbrennen - besann sich jedoch. Asche konnte man nun einmal schlecht lesen. Er überwand seinen Abscheu gegenüber renitenten Kommunikationsmitteln und las den Brief Wort für Wort. Der Inhalt der Nachricht änderte sich nicht. Natürlich würde er nie die Erlaubnis für eine Nennung seines Namens geben! Hastig formulierte er eine Notiz an seinen Sekretär. Er würde am nächsten Tag eine gepfefferte Antwort formulieren und die Hinterwäldler auf ihren Platz verweisen. Und das tat dieser dann auch.

Natürlich las die Journalistin dem blauen Rolf den Antwortbrief vor. Der Inhalt sorgte dafür, dass Rolf so mächtig beim Lachen krampfte, dass Birgit das Telefon suchen musste und einen Rettungswagen rufen wollte. Am Ende kam der blaue Rolf dann aber doch wieder von allein zum regulären Atmen zurück, ohne ärztliche Hilfe.

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Jetzt zeigt dieser Tweet, dass Frank mit der Veröffentlichung seiner Träume rechnen muss. Nicht dass er sich dafür schämt, zu träumen. Nur den Inhalt seiner nächtlichen, nicht willkürlichen Aktivitäten soll niemand kennen. Anonym hin oder her: Diese Veröffentlichung muss er verhindern! Alle Wissenden müssen verhaftet und 'weggeschlossen' werden, nach Möglichkeit für immer. Er muss nicht lang überlegen, um einen passenden Polit-Vasallen zu finden, der ihm noch einen Gefallen schuldet. Seit Jahren spielt er ab und zu mit einem BKA Beamten Tennis. Dieser verdankt ihm eine Beförderung außer der Reihe. Vor drei Jahren hat er sich beim zentralen Polizeigeheimdienst der Bundesrepublik für ihn eingesetzt. Von der Idee bis zur Umsetzung ist es ein kurzer Weg - ein wirklich sehr kurzer. Frank zieht sein Smartphone aus der Innentasche seiner Anzugjacke. Er hat alle 'Gefallenschuldner' in einer speziellen Kontaktgruppe abgelegt. Telefon entsperren - Kontaktgruppe öffnen - Schuldner auswählen - los geht es.

"Hier ist der geheime Heinz."

"Hallo Heinz, hier ist Frank."

"Frank - wer?"

"Du solltest dich schon an deine Gläubiger erinnern - insbesondere dann, wenn sie in der Politik tätig sind."

"Ah, der 'scharfe Frank' - du bist's. Sag' das doch gleich!"

"Warum 'scharf'? Habe ich da etwas verpasst?"

"Na du weißt schon - die Häschen..."

"O.k., das reicht, das ist wirklich geheim, von der Stufe 'geheim-geheim'! Ich rufe dich nicht an, um mich veralbern zu lassen. Ich bin die Legislative - die Staatsmacht. Die Macht, verstehst du? Und du schuldest mir etwas."

"... äh, wiso?", ist die gestottert irritierte Antwort.

"Hast du etwa vergessen, wem du deine sehr vorzeitige Beförderung verdankst?" Frank wird langsam ungeduldig. Diese BKA-Beamten sind doch allesamt 'Spätzünder'.

Einige Sekunden ist nur ein Räuspern und Kratzen im Telefon zu hören.

"Hallo Heinz, bist du noch da? Hast du deine Erinnerung wieder gefunden?"

"Ähh, ja, doch, hab' ich."

"Na dann ist ja alles gut."

"Und was nun? Was willst du von mir? Neue Häschen?"

"Lass' den Unfug! Du musst jemand verschwinden lassen."

"Wie stellst du dir das vor? Wir haben eine Demokratie, einen Rechtsstaat!", kommt als erschrockene Antwort. Dabei hat Heinz das Wort 'Demokratie' wie etwas komplett Abscheuliches, ja vollständig Ekeliges ausgesprochen.

"Ja spreche ich Chinesisch? Die Hinterwäldler müssen aus dem Verkehr gezogen werden! Sofort!"

Frank benötigt einige Minuten, die ihm wie Jahre vorkommen, um den begriffsstutzigen Geheimdienstler die gesamte Angelegenheit zu erklären.

"Ah - ja. Nee, wie denn nun? Ich kann doch nicht einfach Bürger verhaften und verschwinden lassen?"

"Ja, warum denn nicht? Wäre doch nicht das erste Mal, dass dein Dienst das macht, oder?"

"Stimmt - aber so einfach ist das nicht. Ich benötige Papiere..."

Frank verliert die Geduld: "Hast du vergessen, dass du mir etwas schuldest? Scheiß auf die Papiere! Verhaften, wegschließen, ausschalten, vernichten, ... ohne Fragen! Hast du mich verstanden?"

Selbst durch das Telefon kann Frank den Schweißausbruch seines Gesprächspartners riechen. Entsetzt reißt er den Hörer von seinem Kopf weg und schaltet das Freisprechen ein.

"Ja - gut... ich werde sehe, was ich machen kann... äh, stopp, ich hätte da wen, der das umsetzt."

"Der stellt auch garantiert keine dummen Fragen?" Frank möchte ganz sicher sein. Vor allem möchte er aber nie wieder etwas von der gesamten Angelegenheit hören.

"Unsere Geheimwaffe macht das schon."

"Geheimwaffe?" Jetzt ist es Frank, der Angst und einen Schweißausbruch bekommt - Geheimwaffen, Superwaffen, Vergeltungswaffen, ... all diese Dinger sind nicht kontrollierbar. Das Ganze wird aus dem Ruder laufen.

"Na der Dacapo. Der hat keine Ahnung - keinen blassen Schimmer - du verstehst, was ich meine?"

"Ich versuche es..."

"Der durchblickt das Ganze so und so nicht und wird keinen Schaden anrichten."

"Dann los! Ich will nichts mehr von den Hinterwäldlern aus diesem Ranzlow hören."

Zu seinem Glück weiß Franz nicht, dass der Dacapo - ob mit oder ohne Durchblick - immer einen Schaden erzeugt. 'Maximaler Schaden' ist faktisch sein Markenzeichen. Der BKA-Heinz versucht, den ungemütlichen Auftrag so schnell wie möglich zu erledigen. Weg ist weg, in doppeltem Sinne: Anschließend hat er auch keine Schulden mehr bei diesem nervigen Politiker abzutragen.

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Nach einigen Anrufversuchen meldet sich der Dacapo am Telefon. Er klingt etwas ungehalten. Da das sein normaler Gesprächston ist, erstaunt das den BKA-Heinz nicht. Das Knurren im Hintergrund irritiert ihn. Was veranstaltet dieser Polizist schon wieder?

"Muss dat jetz sein? Ick hab ... hey du Viech, jib die Pistole wieder her ... wenich Zeit. Die Miezi dreht grad frei."

"Hör 'mal Kollege Fass - so nicht!" Als 'Viech' muss er sich nicht betiteln lassen.

"Ja dann eben nich." Damit legt der Dacapo wieder auf.

Der Geheimdienstler betrachtet verdutzt sein Telefon. Das Telefonat war unwahrscheinlich kurz und noch erfolgloser. Wahrscheinlich hat er sich verwählt. Die Stimme war aber schon der des Dacapo sehr ähnlich. Vorsichtig und langsam tippt er die Nummer abermals in das Gerät.

"Wat denn nun noch?", tönt es immer noch ungehalten aus dem Apparat.

"Kollege Fass? Bist du das?", ist die vorsichtige Anfrage.

"Nee, hier is der Mann-im-Mond! Natürlich bin ich hier. Was willst? Mach zu!"

"Ja weißt du, ich - äh - ich habe da..." Heinz weiß nicht, wie er beginnen soll.

"Fasse dich kurz - das Telefon kann leben retten!"

"Hallo, bist du wirklich der Kollege Fass?" Schon wieder bring der eine Geheimdienstler den anderen aus dem Konzept.

"Nun, ich habe da einen Auftrag - einen delikaten Auftrag."

"Mahlzeit - ich hab schon jegessen."

"Ja, nein - also: In einem Ort mit Namen Ranzlow ist die Situation aus dem Ruder gelaufen. Du sollst dort für Ordnung sorgen und einige der Anwohner zum Schweigen bringen. Das ist ein direkter Auftrag von oberster, politischer Stelle - verstehst du?"

Am anderen Ende ist Ruhe eingetreten. Es vergehen einige sehr stille Sekunden, bis sich der Dacapo wieder meldet.

"Hast 'Ranzlow' gesagt?"

"Ja, der Ort heißt so."

Der Dacapo hat einige Erinnerungen an Geschehnisse in Ranzlow. Diese zählen nicht unbedingt zu seinen beeindruckenden Heldentaten.

"Och nö, diese Chaos-Klitsche besuch ick nich schon wieda!"

Erst nach einigen Minuten und unter Aufbietung aller seiner Überredungskünste, gelingt es dem BKA-Heinz den Dacapo zur Annahme des Auftrages zu bewegen. Sachliche Fragen stellt dieser wirklich nicht. Er möchte einfach nur nicht noch einmal nach Ranzlow. Am Ende sagt er doch zu. 'Softskill-Schulungen haben einen unerwarteten Nutzen.', denkt BKA-Heinz und legt zufrieden auf: doppel-weg.

W25C1P1
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http://texorello.org/W25C1P1
15. Oktober 2014 16:33 Uhr
Ort: BKA-Berlin
Personen: Polit-Frank, geheimer Heinz
15. Oktober 2014 17:11 Uhr
Ort: BKA-Berlin
Personen: Dacapo, geheimer Heinz
Inhaltsverzeichnis
  1. Attilas Abenteuer bis hierher