Der springende Endpunkt

Denke immer an das Ende,
da die verlorene Zeit nicht zurückkehrt.

Thomas von Kempen

Der Dacapo war auf der Suche nach einem Getränkeautomaten. Letztens wollte er ihnen noch ausweichen. Zu diesem Zweck hatte er einen Lageplan in sein Smartphone gespeichert, auf dem alle ihm bekannten Geräte verzeichnet waren. Aus nicht erkennbaren Gründen war kein einziger Automat mehr an diesen Plätzen zu finden. Das machte die Suche kompliziert. Er musste systematisch alle Gänge in der ehemaligen Kaserne ablaufen, was schließlich zum Erfolg führte. Aus der Mitte des langen, dunklen Flures, den er im zweiten Gebäude betrat, leuchtete ihm verheißungsvoll das bekannte Bild mit den großen Tropfen der braunen Koffeinbrause entgegen. Endlich! Mit schnellen Schritten strebte er seinem Ziel entgegen. Plötzlich, noch etwas mehr als zehn Meter von dem Automaten entfernt, stoppte er abrupt. Das eine Bein erhoben, stand er wie ein Storch auf einer Wiese auf den blank geputzten Bodenplatten. Er sah nach unten, betrachtete sein blasses, verschwommenes Spiegelbild unter sich und sinnierte. Ein Gedanke hatte ihn angehalten: Was, wenn der Getränkeautomat sich widersetzte? Er hatte heute bereits den Reinigungsstab seiner Pistole verloren, als er versuchte, damit eine dieser Maschinen zu reparieren. Mit einem Mal war ihm die Ursache des vormittäglichen Missgeschicks klar: Mit einem Reinigungsstab kann man nicht die Staatsgewalt durchsetzen. Zu diesem Zweck hatte er seine Dienstwaffe. Ein Gedanke, der ihn erwärmte. Immer noch auf einem Bein stehend, griff er sich mit der rechten Hand über die linke Schulter und zog die gewaltige Pistole, den brüllenden Wüstenadler, aus dem Rückenholster. Er hatte diese Tasche, gleich einem Rucksack, in den schweren, langen Ledermantel einarbeiten lassen. Eine so gewaltige und gewichtige Waffe konnte man nicht am Gürtel oder unter dem Arm tragen. Mit einer spielerischen Leichtigkeit, die viel Übung erahnen ließ, brachte er die beeindruckende Pistole in Schussposition. Er setzte vorsichtig den erhobenen Fuß auf den Boden und schritt entschlossen auf den Getränkeautomaten zu. 'Du wehrst dich nicht! Du weigerst dich nicht! Du gibst mir klaglos die überteuerte Orangenlimonade!', war der optimistische Gedankengang des Dacapo.

Dann geschah etwas Unvorhersehbares. Es war so einzigartig und faszinierend, dass der Dacapo sogar seine geliebte Dienstwaffe sinken ließ. Er erstarrte abermals mitten in der Bewegung und blickte mit geweiteten Augen auf ein Licht, dass plötzlich neben dem Getränkeautomaten entstand. Das warme, helle Leuchten kam aus dem Nichts. Die Luft des Ganges begann sich mit einem Mal aufzuhellen. Kurz darauf erschien, mit einem leisten Knistern und Zischen, eine ovale Leuchtblase. Sie war mannshoch und sah aus, wie ein auf der Spitze stehendes, riesiges Ei. Der Dacapo hielt die Luft an. Das plötzliche Erscheinen aus dem Nichts hatte ihn vollständig aus dem Plan gebracht und alle seine Handlungen unterbrochen. Kurz zuvor war an dieser Stelle für ihn noch freie Sicht bis zur Tür am weit entfernten Ende des Ganges gewesen. Er traute sich nicht zu atmen und auch nicht zu blinzeln. Sein Körper war in einem maximalen Spannungszustand und er wollte alle Veränderungen wahrnehmen, die auch prompt kamen. Das einheitliche, undifferenzierte Leuchten der Erscheinung änderte sich. Eine Leuchtband in Form einer Spirale entstand am Scheitelpunkt des Gebildes. Es wand sich wie eine Schraube von oben nach unten um es herum und begann sich zu drehen. Die Rotationen wurden immer schneller, bis das Licht mit einem leisen Knistern plötzlich vollständig verschwand. Zuerst konnte der Dacapo in der wieder eingetretenen Dunkelheit gar nichts mehr erkennen. Nachdem seine Augen sich an die schwache Notbeleuchtung des Ganges gewöhnt hatten, sah er einen Mann neben dem Automaten stehen.

Genau dort, wo noch vor einem Augenblick die Lichterscheinung schwebte, lehnte jetzt ein Fremder bequem an dem Getränkespender. Dem Dacapo war sofort klar, dass dies kein Beamter sein konnte. Die erschienen nie auf solch eine Art und Weise. Mit einer Hand sich an dem Automaten abstützend, lächelte ihn der Besucher freundlich an. Da war keine Scheu, keine Verlegenheit, keine Angst in seinem Gesicht zu erkennen. Nur die Augen konnte der Dacapo nicht sehen. Diese waren hinter einer breiten, dunklen Brille verborgen. An ihrem unteren Rand glaubte er leuchtende Zeichen zu erkennen. Sein Gegenüber war in einen engen, schwarzen Anzug gehüllt, der komplett mit kleinen Kacheln bedeckt war. An der Stelle, wo zuvor Licht abgestrahlt wurde, verschluckten diese Kacheln jetzt jegliche Helligkeit. Sie schienen jedes Photon gierig aufzusaugen, das auf sie traf. Keinerlei Reflexionen, komplett schwarz, das tiefste Schwarz, welches er jemals gesehen hatte. Einzig und allein um die Handgelenke trug er breite Messingringe. Auf diesen waren Anzeigen befestigt, die bunt flimmerten und offensichtlich viele unterschiedliche Daten anzeigten.

Nach einer Schreckminute kam der Dacapo wieder zu sich, hob seine Pistole erneut und brachte sie in Schussposition. Er sprach den Fremden an und vor Aufregung vergaß er seinen tarnenden Dialekt.

"Ausweisen, aber schnell!"

"Glaubst du, ich besitze einen Ausweis?", war die spöttische Antwort.

"Nein, eigentlich glaube ich das nicht", sagte der Dacapo nach kurzer Überlegung vorsichtig und leise.

Der schwarz gekleidete Fremde durchbrach die situationelle Verlegenheit, die sich gerade begann zwischen ihnen auszubreiten. Er ging unbefangen auf den Dacapo zu.

"Den Schießprügel kannst du einstecken, ich bin Pazifist - also aus Prinzip unbewaffnet."

Der gewaltige Polizist beförderte wirklich die Waffe in das Rückenholster zurück und ging ebenfalls auf den Getränkeautomaten und den Besucher zu.

"Ein Heinz Fass hat mich hierher bestellt. Kennst du ihn?"

Den Kopf auf die Seite gelegt, betrachtete er den Fragenden. Was wollte dieser von ihm? Er kannte ihn nicht und konnte ihn auch nicht hierher beordert haben. Daran würde er sich erinnern können.

"Schon möglich. Was willst du denn von ihm?"

Das Lächeln des Fremden wurde breiter.

"Ah, du bist es selbst! Nun, du wirst in der Zukunft mit einigen Leuten sprechen und ihnen mitteilen, dass ich dich hier treffen soll. Es geht um ein Mädchen aus der fernen Vergangenheit, dem ich vielleicht helfen kann."

"Wenn ich in der Zukunft Gespräche führe, wie kann ich dann in die Vergangenheit einladen?", sprudelte der Dacapo seinen Gedankengang heraus. Mit einem Mal schlug er sich abrupt mit der flachen, rechten Hand gegen die Stirn. Das Klatschen hallte den Gang hinunter.

"Halt, das gibt es nicht...", ihm kam eine Idee, wen er da vor sich hatte. "Du bist der Zeitreisende!" Mit Blicken sezierte er den seltsamen Besucher eindringlich von oben bis unten und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: "Ich glaube, wir haben viel zu besprechen."

Dann trat er an den Getränkeautomaten heran, warf alle Münzen hinein, die er in seinen Hosentaschen finden konnte und förderte zwei Dosen mit Orangenlimonade aus dem Gerät. Zur Abwechslung weigerte es sich dieses Mal nicht. Eine der Dosen reichte er dem Besucher und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich auf den Boden zu setzen. Sie platzierten sich gegenüber der schwach leuchtenden Maschine, vor der Wand.

"Ich spreche also in der Zukunft mit Leuten, die dich kennen und heute zu mir senden."

"Ja, so ähnlich. Sie haben mir von deinem Wunsch erzählt. Ich habe dann herausgefunden, wo ich dich treffen kann und einen Sonntagabend ausgesucht, an dem es hier so richtig leer ist. Deine Anwesenheit im Amt ist nun wirklich nicht zu überhören. Den Rest kennst du", sprach der Gast weiterhin lächelnd.

"Und wie bist du in die Behörde gekommen? Die Wache hat dich doch bestimmt nicht hineingelassen."

"Diese Gebäude waren nicht immer bewohnt. Da gab es vor ein paar Jahren einen kurzen Zeitraum, in dem standen sie leer."

"Ja und? Wartest du seit dieser Zeit hier auf mich?"

"So in etwa: Ich bin in diese Zeit gesprungen, hier hinein gegangen und dann wieder in die aktuelle Zeit zurückgekommen."

"Ich denke einmal, du hast das mit deinem Anzug bewerkstelligt. Kann ich auch so einen bekommen?", versuchte es der Dacapo mit einem leicht bettelnden Unterton.

"Nein, du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich Vorkehrungen getroffen habe, dass meine Entdeckung nicht in die Hände von Warlords oder Behörden gerät. Das wäre viel zu gefährlich. Du weißt doch: Macht korrumpiert, immer und ohne Ausnahme."

Der Dacapo legte wieder den Kopf zur Seite und sah den Zeitreisenden interessiert an. Dieser schien seine ganz eigene Meinung zu Autoritäten und Machtgruppierungen entwickelt zu haben. Es wurde ihm bewusst, dass sein Gegenüber bei den Reisen durch die Zeit sehr viel mehr Wahrheiten gesehen haben musste, als ihm selbst bisher vergönnt war. Wahrscheinlich hatte er recht.

"Jetzt erzähle einmal von dem kleinen Mädchen und dem Auftrag", lenkte der Gast das Gespräch auf ein anderes Thema. Dem Dacapo war das ganz recht. Hatte er doch einen erfolgreichen Tag hinter sich gebracht und eine weitere, gute Tat würde dem noch eine Krone aufsetzen. So berichtete der Dacapo von seinem Besuch in Storkow, der märkischen Kleinstadt am Rande des mystischen Dahmelandes und seiner Begegnung mit der Tambourette.

"Und du glaubst, sie springt wie ich durch die Zeit?"

"Ja, nur nicht absichtlich und sie kommt irgendwie nicht wieder in ihre ursprüngliche Zeit zurück. Ich glaube, sie vermisst ihre Eltern sehr."

"Das ist traurig. Ich werde die Tambourette suchen. Vielleicht kann ich sie zurückbefördern. Kannst du noch einmal das seltsame Lied wiederholen, das sie gesungen hat?"

"Nun, an die ersten beiden Strophen erinnere ich mich noch", sagte der Dacapo und rezitierte langsam und mit geschlossenen Augen:

 

Ich arme Tambourette,

Man führte mich aus der Zeiten Gewölbe,

Wäre ich beim Tambour geblieben,

Dürfte ich nicht gefangen liegen.

 

Oh Himmelsdom, du hohes Haus,

Du siehst so furchtbar aus,

Ich schaue dich nicht mehr an,

Weil ich weiß ich gehöre nicht hieran.

 

Der Auftrag war übermittelt und die Dosen waren geleert. Beide warfen diese zeitgleich in den Abfalleimer, der neben dem Getränkeautomaten stand. Als sie klickernd auf dem Boden des Gefäßes zusammentrafen, lachten die beiden Männer und erhoben sich.

"Übrigens kennen wir uns bereits. Du hast einmal in meiner Wohnung aufgeräumt", sagte der Zeitreisende beim Weggehen. Er hatte sich noch einmal zum Dacapo umgedreht.

"Habe ich das?", fragte dieser ungläubig und betrachtete den Gegenüber intensiv, um eventuelle Anzeichen für Ironie auszumachen.

Aufräumen war eine der vielen Tätigkeiten, die ihm gar nicht lagen. Das bekam er nicht einmal in seiner eigenen Wohnung zustande. Da sollte er das in einer fremden Wohnung erfolgreich bewerkstelligt haben?

"Wegen der Laubgebläse, die ich simuliert hatte."

Der Dacapo erinnerte sich schwach an den Abend. War an diesem nicht Miezi in seiner Manteltasche aufgetaucht?

"Du warst das damals? Hast du mir die bellende Katze untergeschoben?"